Ganz klar Tanja. Dana Wolf

Ganz klar Tanja - Dana Wolf


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als Unterstützung im Betrieb. Ganz klar: Tanja wusste natürlich, was ihre Mutter geleistet hatte. Und jetzt, wo sie ihre Aufgaben zusätzlich übernehmen musste, stieß sie an ihre Grenzen. Spätestens jetzt spürte sie, was es hieß, selbständig zu sein: selbst und vor allem: ständig.

      Zwölf-Stunden-Tage, den Samstag natürlich mitgerechnet. Sonntags dann immer öfter Streit mit Florian. Ihr Privatleben geriet zusehends unter die Räder. Ein Teufelskreis. Statt Kraft aus ihrer Beziehung zu schöpfen, kosteten sie die Streitigkeiten mit Florian Energie, die sie gar nicht mehr hatte. Eine Lösung war auch nicht in Sicht. Der Hofladen lief nicht gut genug, um noch zusätzliches Personal einzustellen. Doch so wie bisher konnte es auch nicht weitergehen, denn bald zeigten sich bei Tanja die ersten Symptome: Schlafstörungen, Phasen der depressiven Verstimmung, Magenschmerzen. Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Auf jede kleine Äußerung ihres Freundes reagierte sie gereizt. Er tat ihr leid, doch sie konnte nichts dagegen tun. Sie merkte selbst, dass von der alten, humorvollen, witzigen, lebens- und abenteuerlustigen Tanja nicht mehr viel übrig war. Doch ihr fehlte die Kraft, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Eines Tages war sie bei der Zucchini-Ernte zusammengebrochen. Kreislaufkollaps. Zum Glück hatte Florian sie wenig später gefunden und zum Arzt gebracht. Der brauchte nicht lange, um seine Diagnose zu stellen: Burnout. Nichts ging mehr, rien ne va plus. Nach einigen zusätzlichen Untersuchungen hatte er Tanja vor die Wahl gestellt: Entweder so weitermachen wie bisher und den endgültigen Zusammenbruch riskieren oder aber eine Pause einlegen, durchatmen, den Kopf frei kriegen. Und vor allem, neue Kraft schöpfen. Tanja war die Wahl nicht schwergefallen, und so stand sie jetzt in der Hitze des Nachmittags vor Willys Autohof und wartete auf das Taxi, das sie in die Berghoff-Klinik bringen würde.

      *

      Die Sonne brannte noch immer erbarmungslos vom Himmel, als die beigefarbene Mercedes-B-Klasse vor dem ehemaligen Kloster hielt, welches die Klinik beherbergte. Zuvor hatte sich der Wagen einige Kehren aus dem Moseltal hinaufgeschraubt. Das hätte der alte Kleinwagen sowieso nicht mehr geschafft, dachte Tanja, als sie ihr Reisegepäck in Empfang nahm, welches ihr der Taxifahrer aus dem Kofferraum reichte. Nachdem er abgefahren war, blieb sie einen Moment lang vor der Fassade des Gebäudes stehen. Ein langgestreckter, mehrstöckiger Bau aus dem neunzehnten Jahrhundert, der vor lauter Balkonen irgendwie porös wirkte. Tanja fragte sich, ob die Balkone irgendeinem medizinischen Zweck dienten. Vielleicht war ja die „Höhenluft“ oberhalb des Flusses Teil der Therapie. Wie dem auch sei, sie würde es herausfinden. Mit ihren beiden Reisetaschen in den Händen betrat sie die Klinik, deren Haupteingang sich hinter einem Torbogen verbarg.

      Die Lobby erinnerte an ein Hotel aus vergangenen Tagen. Einzig die Rezeption sah aus wie in jeder gewöhnlichen Hausarztpraxis: Ein moderner Empfangstresen aus halbtransparentem opalweißem Acrylglas, der Sauberkeit und Sterilität vermittelte.

      Hinter dem Tresen herrschte ein Kommen und Gehen von medizinischen Angestellten in weißen Kitteln.

      „Tanja Bernhardt“, sagte Tanja und stellte ihre Taschen ab.

      Es dauerte einen Moment, bis eine junge Angestellte Notiz von ihr nahm.

      „Haben Sie Ihre Versichertenkarte dabei?“

      Tanja kramte in ihrer Handtasche, fand ihr Portemonnaie und reichte der jungen Frau die Karte. Wortlos tippte die Tanjas Daten in den Computer.

      „Bitte nehmen Sie noch einen Moment Platz“, sagte die junge Dame und wies in Richtung einer Sitzgruppe neben dem Haupteingang.

      „Frau Doktor Arendt wird sich gleich um Sie kümmern.“

      Tanja nahm ihre Karte in Empfang und bückte sich, um ihr Gepäck mitzunehmen. Als sie sich wieder aufrichtete und sich umdrehte, stieß sie frontal mit einem ergrauten Bestager zusammen, der bei dem Zusammenstoß unglücklicherweise seinen Coffee-to-go über Tanjas T-Shirt kippte. Glücklicherweise war der Kaffee nicht mehr heiß.

      „Haben Sie keine Augen im Kopf?“, blaffte der Typ mit dem Sechstage-Bart. Erst jetzt erkannte Tanja ihn wieder.

      „Sie sind das?! Hätte ich mir ja denken können! Erst eine Dame am Straßenrand stehen lassen und ihr dann noch Kaffee übers T-Shirt kippen!“

      „Dame?“, konterte er. „Ich sehe hier keine Dame!“

      „Boah!“

      Tanja wurde es zu viel.

      „Von Egoisten wie Ihnen war ja nichts anderes zu erwarten. Wahrscheinlich sind Sie irgend so ein kinder- und skrupelloser Unternehmer, der nicht weiß, wohin mit seinem Geld, sich selbst für den Größten hält und nichts Besseres zu tun hat, als seiner Umwelt auf die Nerven zu gehen.“

      Einen Moment lang war er sprachlos. Der Moment dauerte nicht lange.

      „Und Sie? Ich tippe mal: Frustrierte Alleinerziehende mit chronischer Erschöpfung und aktueller Sinnkrise. Dazu eine Portion Kurzsichtigkeit.“

      Er blickte auf ihr kaffeebeflecktes T-Shirt.

      „Steht Ihnen aber gar nicht mal schlecht.“

      Er konnte einen Anflug von Schadenfreude nicht verbergen, was Tanja nur noch mehr verärgerte. Sein hämisches Grinsen, bevor er sich abwandte und ging, ließ sie mit offenem Mund zurück.

      Mann, was für ein Kotzbrocken, dachte sie und unternahm den erfolglosen Versuch, sich den Kaffee mit einem Taschentuch vom Shirt zu wischen. Just in dem Moment hörte sie jemanden ihren Namen rufen.

      „Frau Bernhardt?“

      Tanja drehte sich um und blickte in die professionell-freundlichen Augen von Frau Doktor Sarah Arendt. Die Medizinerin musterte das Ergebnis des kleinen Missgeschicks, dessen Zeuge sie geworden war.

      „Na, da haben Sie ja gleich den richtigen Eindruck von Herrn van Buuren bekommen.“

      „Was? Ach so, ja. Ein richtig sympathischer Zeitgenosse“, entgegnete sie mit ironischem Unterton.

      „Setzen Sie ihn einfach auf Ihre Ignorieren-Liste“, empfahl Dr. Arendt.

      „Das wird schwierig werden.”

      Dr. Arendt schaute sie fragend an.

      “Na, ich schätze mal, diese Klinik ist nicht groß genug für uns beide. Zumindest nicht so groß, dass wir uns aus dem Weg gehen könnten.”

      “Tja, da haben Sie auch wieder recht ....”

      Die Ärztin schien nicht weiter über den Patienten van Buuren sprechen zu wollen. Sie wechselte lieber das Thema.

      “Kommen Sie, gehen wir in mein Sprechzimmer.”

      Die beiden Frauen machten sich auf den Weg. Tanja hatte den Reinigungsversuch aufgegeben, sie folgte Dr. Arendt durch die Gänge, die einen ganz eigenen Charme verströmten. Anstelle weißer Raufaser gab es blassgrüne Ranken auf Prägetapete, zur Decke hin abgeschlossen mit einem eierschalenfarbenen Palmettenfries. In den Nischen zwischen den Ärztezimmern im Erdgeschoss standen bronzene Plastiken, Frauenfiguren mit Gewändern aus stilisiertem Obst, Frauenfiguren mit Gewändern aus Efeu sowie Fabelwesen und Chimären in verschlungenen Posen.

      Am Ende des Ganges, im hinteren Bereich des Westflügels, blieb Dr. Arendt stehen.

      “Da wären wir”, sagte sie, öffnete die Tür zu ihrem Sprechzimmer und bat Tanja herein.

      “Nehmen Sie Platz, Frau Bernhardt.”

      Tanja setzte sich auf einen modernen Schwingstuhl mit Netzrücken und Chromgestell. Sie sah sich um. Offenbar waren alle Bereiche, die medizinischen Zwecken dienten, schlicht und sachlich gehalten. Typische Wartezimmermöblierung, dachte sie, während Dr. Arendt etwas in ihren PC eingab.

      “Einen kleinen Moment noch”, entschuldigte sie sich.

      Tanja blickte hinaus. Unter den ebenerdigen Arkaden flanierten Patienten. Keiner unter ihnen wirkte irgendwie krank, höchstens etwas blass. Untypisch blass für die Jahreszeit. Tanja sah weder Rollatoren noch sonstige Gehhilfen, weder Rollstühle noch Senioren mit Wolldecken auf Bänken. Auch stand niemand mit Infusionsbeutel in der Raucherecke. Das sah alles nicht nach Klinik


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