Das lange Echo. Elena Messner

Das lange Echo - Elena Messner


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      Elena Messner

      DAS LANGE ECHO

      Roman

      warum

      Sie wisperten schon wieder. Die Schatten in den Straßen, durch die er irrte, waren ein schwarz-graues Karussell, die Formen, die sie angenommen hatten, starrten immer wilder in ihn hinein. Eine Nacht mag dunkel sein, doch nicht dunkler als das, was der Milan Nemec in sich selbst vorfand. Man hätte meinen können, er sei ein schwermütiger Skeptiker geworden, wo er bislang ein besonnener Taktiker gewesen war. Wie sollte bloß alles, was er gesehen und gehört hatte, in seinen Kopf hineingehen? Sollte es wirklich der bloße Zufall sein, der die Geschichte lenkte? Der Zufall, das Chaos, sie waren ihm doch immer als gesetzlich vorgegebene Feinde aller Logik und Ordnung erschienen. Um ihn herum war kaum etwas zu vernehmen, nur vereinzelt eine Stimme, ein Kichern aus einem Innenhof, der Wind, und von irgendwoher, scheinbar, oder doch nicht?, fernes Flüstern.

      Wieso glaubst du, die Schatten in diesen Gässchen seien Menschen, wo doch niemand da ist, nur du und die Luft, und in ihr das Wispern, das vielleicht doch nur dein lautloses Selbstgespräch ist? Da liegen dir plötzlich die Hände um den Hals, von dem du dir sicher bist, dass er bald durchgebissen sein wird. Du verfluchst es, in einem christlichen Land zu leben, in dem sie die Toten begraben, denn nur in diesen Ländern können die Begrabenen als Scheintote wiederauferstehen, während dort, wo man sie verbrennt, nur Geister und Schattenwesen existieren, existieren als Angst und als Vorstellung.

      In dem christlichen Land, in dem er sein vorübergehendes Zuhause eingerichtet hatte und das seine Toten in der Erde bestattete, war es in den letzten Jahren oft zu einem Verbrennen, einem Auseinanderplatzen oder einem In-Luft-Auflösen von Menschen gekommen. Und daher musste man sich nun nicht nur vor den Aus-den-Gräbern-Gestiegenen fürchten, sondern man konnte auch vor keinem Schatten mehr sicher sein und vor keinem Licht, weil darin die Geister, die Echos festsaßen. Nein, das alles war keine bloße Nervenüberspannung, das konnte er nicht mehr glauben.

      Von diesen Dingen hatte der Milan Nemec in den Kafanas in dieser Stadt die Menschen flüstern gehört, wenn sie sich sicher wähnten. Sie träumten von Geisterarmeen, die kommen würden, um sie zu befreien, wenn sie sich nur endlich aus den Schatten lösten. Sie träumten von Krankheitsdämonen, die sich in der neuen Verwaltung und der neuen Herrschaft einnisten würden. Und sie träumten von den Wiederkehrern, die im Schlaf einen jeden österreichisch-ungarischen Beamten einfach – zack, zack – in die Brust, warmes Blut und fertig. So träumte der Mensch, wenn ihm nichts mehr übrig blieb. Und zum Träumen hatte man in dieser unfreundlichen Gegend den Menschen viel Nahrung gegeben.

      Als er eines Abends in einer dieser finsteren Kafanas saß, in ein dunkles Eck gedrückt, erzählte am Nebentisch eine alte Frau davon, dass Wiederkehrer immerhin Seelentiere seien, die jede beliebige Form annehmen könnten. Ungeheuer verkleinerte und ungeheuer vergrößerte Formen, sodass sie sich durch noch so kleine Ritze und Löcher in die Quartiere der Militärverwalter schleichen könnten, unsichtbar oder sichtbar, ganz wie es ihnen passte. Da wurde ihm ganz grau vor Augen, alles um ihn herum schien des Wahnsinns. Er stand auf, ging an den Menschen vorbei, die nicht wussten, dass er trotz seiner Uniform verstand, was sie redeten. Wie ein Falter, der sein Gleichgewicht suchte, weil man ihm mit einem Nagel ein paar Löcher in die Flügel geschlagen hatte, und dem seither die Luft durch die Löcher pfiff, schwirrte die Stimme der Frau ihm hinterher, bis er sie endlich in seinem Verwaltungsalltag vergrub. Aber nun war in einer finsteren, schlaflosen Nacht diese Stimme, oder ihr Echo, wiederauferstanden. Sie flatterte nah an seiner Nase, an seinem Ohr umher und war noch heiserer, noch unheimlicher als die echte, die er tatsächlich gehört hatte.

      Kalt war diese durchwachte Nacht, die einem großen Skandal vorausging, von dem der Milan Nemec noch nichts ahnte, der jedoch so folgenschwer für ihn sein würde. Nachdem die wilden Schatten und Träume ihn in die Stadt vor seinem Fenster hinausgetrieben hatten, hing er schweigend und vor sich hinstapfend seinem Zorn nach. Zorn auf die Stadt, in der er leben musste [Belgrad], und auf die Stadt, aus der er vor einigen Jahren gekommen war [Wien], Zorn auf seine Umwelt, die schmutzige, gemeine, verräterische. Alles der gleiche Dreck, dort wie hier. Wozu war er eigentlich ausgezogen?

      Es war ein halb blindes, taumelndes Rundenziehen durch die Gassen, an verbretterten Fenstern vorbei, weiter durch schlecht oder gar nicht gepflasterte Straßen und Gässchen, weiter über gerupfte Rasenstücke, immer noch weiter. Da, an einer kleinen Brandstätte kurz stehen geblieben, aus der noch Rauch aufstieg, beißender, eiskalter Rauch, der nichts von dem verstohlenen Feuer erahnen ließ, das hier vielleicht für kurze Zeit Wärme gespendet hatte. Ein Rauch, der nur Gestank verbreitete, den Blick vernebelte, im Hals kratzte. In den Rauchschwaden blieb allerlei zu erblicken, je länger er in sie hineinstarrte, aber bevor er sich an andere, größere Brandstätten, an tote Felder, Scheunen, Lehmhütten und kleine Dörfer in hellem Feuer erinnerte, war er schon daran vorbei, und vergib uns unsere Schuld, dein Reich und dein Wille, die Wiederauferstehung des Fleisches, das ewige Leben, und um die nächste Straßenecke gebogen.

      Es trieb ihn in eine weitere Runde, höher, noch höher, ein paar Gässchen hinauf. Vielleicht zum Kalemegdan, vielleicht auch rechtzeitig abbiegend, um die beiden Flüsse nicht vor sich liegen zu haben, in denen er allerlei hatte verschwinden sehen, auch Menschen, die nur noch Haut, Venen und daraus hervortretendes Blut waren, zerquetschte Menschen, bläuliche, halbe und ganze. Er hatte die Vorstellung aufgegeben, dass in der hässlichen Stadt, die er zu besetzen und zu verwalten hatte, dass in dieser europäischen Welt, in der er leben musste, Logik und Anstand zu den Bürger- und Christenpflichten gehörten. Besonders nachts schien ihm die Idee, dass der Mensch auch moralisch leben könnte, geradezu verrückt.

      Er betrachtete die ins Dunkel gedrückten weißen Leiber, die in den Straßen neben, hinter, vor ihm auftauchten und vor seinem erschöpften, aufgerissenen Auge zurückzuckten, als würden sie Scham kennen. Lüge! Ganz im Gegenteil strahlten diese Leiber trotz ihrer öffentlichen Entehrung so voller stolzer Lust, dass er bei jedem schweißperlenden Rücken, bei jedem nackten, weißen Bauch stehen bleiben musste vor Schreck, ja, sich mit immer weiter aufgerissenem Auge hier und da sogar eine Zeit lang nicht vom Platz rühren konnte.

      Ein sündiger Mensch wäre bei diesem Anblick vor Scham vergangen. Doch er selbst hatte nur eine schmerzliche Ahnung, wie es wäre, in den öden Belgrader Nächten nicht seinen Besatzungs- und Verwaltungspflichten, sondern seinen Bürger-, nein, seinen Offiziersrechten nachzugehen. Auch wenn er selbst vor wenigen Tagen in eine Hütte spaziert war ohne anzuklopfen. Aber das schien ihm bereits wie ein böser Traum, entstanden aus übler Nachrede und Gerüchten, die ihn zu Fall bringen sollten. Das Geschrei oder das boshafte Geflüster und Gelächter, das von diesen Bäuchen, von diesen Schamhaaren, den im Mondlicht schimmernden Häuten, von den rosig-braunen Arschfalten und den Wirbelsäulen hungriger Körper zu ihm herüberschallte, nahm er nur als seltsame Deformierung einer Sprache wahr, die er nicht verstehen wollte.

      Finstere Gesichter, weiße Leiber und Hände: Es sind mit Gewissheit Gespenster, Wiedergänger, dachte er, die ich da sehe, böse Kreaturen, die nachts nach frischem Fleisch jagen. Sie flüsterten, lachten, stießen ihn weg, wenn er in ihrem Anblick versank, verjagten ihn mit grellem Gelächter. Abgesehen davon taten sie ihm nichts, wie ihm auch die grinsend vorbeimarschierenden Uniformierten nichts taten.

      Die nächtlichen Patrouillen machten ihm keine Angst. In der besetzten Stadt, in der noch immer für alle außer die Offiziere eine totale Ausgangssperre galt, obschon sich immer weniger Menschen an sie hielten, wie ihm schien, hatte man nachts ausschließlich Offizierspatrouillen aufgestellt. So sorgten bloß Offiziere für Ordnung unter Offizieren, man blieb unter sich, feierte ein großes letztes Fest. Der Befehl war klug: Konflikten vorbeugen und keine einfachen Streifenpolizisten einsetzen. Wo käme man da hin, wenn ein ins Dunkel gedrückter, schwitzender Offizier sich halb entblößt von einem rangniedrigeren Streifenpolizisten zurechtweisen lassen müsste.

      Er lief an den Vergnügungssüchtigen vorbei, die sich den bleichen Gespenstern hingaben, ihnen


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