Das lange Echo. Elena Messner
ihm ganz ton- und sinnlos vorkam. In seinem Kopf, da flüsterten nur die Echos – Wispert ihr nur! –, dann endlich wurde er müde.
Es ging die Sonne über Belgrad auf, die schmutzigen Gässchen leerten sich rasch, Licht vertrieb das hungrige, räudige Pack. Vielleicht waren es doch nur Schatten gewesen, die in der Morgendämmerung vor der Sonne zurückwichen. Ein erschreckend weiter Himmel öffnete sich über ihm, die Stadt streckte sich ihm durch den weißen Nebel seiner müden Augen entgegen. Er konnte sie kaum noch ansehen, versuchte, ihrem Anblick, versuchte, den Stimmen, dem nachhallenden Gelächter mit halb geschlossenen Augen zu entkommen. Da stolperte ein Wahnsinniger, von all den Echos in ihm wirklich schon fast völlig wahnsinnig Gewordener, durch die Gässchen zu seinem Quartier. Zurück, zurück, solange du noch kannst! Erst kurz bevor er aufzustehen und sich für den neuen Tag anzuziehen hatte, wachte er, ohne sich erinnern zu können, wie er dorthin gekommen war, im breiten Lehnsessel in seinem Schlafzimmer auf. War das der versprochene Schlaf gewesen? Er war es und war es nicht.
Der Zufall, dass es an dem Tag, der dieser schrecklichen Nacht folgte, ausgerechnet seine Aufgabe war, Besuch aus Wien zu empfangen, nach vorgeschriebenem Protokoll durch die besetzte Stadt zu führen und danach gut zu unterhalten, dieser Zufall steht in starkem Widerspruch zu den Annahmen, dass große historische Ereignisse, etwa Kriege, aber auch private Karrieren, planbar seien, woran der arme Milan Nemec aber kraft seines Berufes glauben musste und unbedingt weiterhin glauben wollte. Wie sehr hatte er an die Planbarkeit, gewährleistet durch Ordnung und Moral, durch Strategie und Aufmarschplan, geglaubt, in seinem ersten Leben. Doch hier und heute, in diesem plötzlich angebrochenen zweiten Leben, da konnte er nicht einmal einen beliebigen Herbsttag ordnen, konnte sich der Unlogik allen Geschehens um ihn herum nicht entziehen.
Seine Gedanken wurden durch das Gespräch mit dem Besuch aus Wien nicht unbedingt klarer, dafür umso dringender. Er fand sich überrascht, übermüdet, überfordert, mit diesem Gesicht an einem gemeinsamen Tisch gefangen, über ein schimmerndes Gläschen gebeugt, aus dem es in goldgelben Sternenformationen funkelte, ein fratzenhaftes Gesicht ihm gegenüber, mit dem er nichts anzufangen wusste.
Dieses Gesicht aus Wien hatte er nach dem amtlichen Teil des Empfangens, Berichterstattens, Speisens durch die Stadt geführt, mit dem Plan, schließlich auf ein paar Schnäpse in eine Kafana im Zentrum der besetzten Stadt einzukehren, damit sich die Anspannung zwischen ihnen endlich löste. Die Sonne legte beim Spaziergang ein kaltes Licht auf ihre Wangen und ihre Umgebung. Ein nüchternes Licht, das die innere und äußere Verwahrlosung der Stadt noch verdeutlichte, weil es in demokratischer Manier den Straßenkot auf Fenstern, Türen und Pflaster ebenso hell und kalt beschien wie … hier, da: die einsam sich durch Kanäle oder an Häuserfassaden hervorkämpfenden Kletterrosen, was für ein hilflos wirkendes Giftgrün, und … dort, drüben: die vergilbten letzten Farne an den steilen Gässchen, ein noch hilfloser wirkendes Gelbbraun.
Mit roten Augen starrte er den Mann aus Wien an. Wer mochte wissen, welche Nächte der hinter sich hatte! Die Farben seiner Wangen und seiner Augen verrieten nichts darüber. Er war bleicher als bei seinem letzten Besuch im frühen Sommer, aber das musste nicht ausschließlich auf die politische Situation zurückgeführt werden [obwohl die schon bleich machen konnte, keine Frage]. Vier gerötete Augen, die einander aus weißen Gesichtern anstarrten: eine Warnung.
Das Gespräch nahm Wege, die das Protokoll nicht erlaubte. Es drehte sich um die Kriegssituation, um den deutschen Kaiser, die Verräter, die Verpflegungsengpässe. Dann sprach man über die Verbündeten, denen man misstraute, die Feinde, die man vernichten wollte, innere und äußere. Bald schon drehte sich alles um das große Schlamassel, den ersten Feldzug in diesem Weltkrieg, der nur ein mickriges Scharmützel hätte werden sollen und den man so kläglich verloren, bei dem man fast das Gesicht verloren hatte, dem dann all das gefolgt war, der Große Krieg und die Eiserne Zeit, und wohin jetzt und wie, um nicht nach dem Warum und Wozu zu fragen.
Entsetzen in den Worten des Gegenübers. Nachdem man im zweiten Feldzug vorläufig seine Ehre wiederhergestellt habe, dadurch wieder Herr der Lage, Herr dieser Stadt und neuer Ländereien sei, deute sich jetzt plötzlich an, dass der Kriegsausgang vielleicht doch kein erfreulicher, vielleicht sogar ein katastrophaler … War das alles noch in guter, alter Ordnung wiederherzustellen – die Ehre, der Sieg, das Reich? Das Bangen um die unsicher gewordenen Gewissheiten und um das ihm bislang zugesicherte Privileg, das war den immer zackiger werdenden Ausführungen seines Gegenübers deutlich anzumerken. Der Milan Nemec, bekannt für sein diplomatisches Schweigen, war mit zerstreutem Nicken beschäftigt, achtlosem Bejahen der Dummheiten, die der Besuch aus Wien vor ihm ausbreitete. Er ertappte sich immer öfter bei einem Kopfschütteln, wo ein Nicken besser, bei einem Hinhören, wo er nur weghören wollte.
Es scheint aus heutiger Sicht nachgerade unerklärlich, wie aus dem diplomatischen, schweigenden Milan Nemec innerhalb weniger Stunden ein Skandalmacher hatte werden können. Das Kopfschütteln, Nicken, das Murmeln – wie war es in den unglaublichen Disput übergegangen, der in die Geschichte der Okkupation Belgrads eingehen sollte?
Der Fall Milan Nemec sollte Jahrzehnte später, in einem neuen Jahrhundert, einem neuen Jahrtausend, Anlass dazu geben, dass die Direktorin des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien, jene Direktorin, die es geschafft hatte, die Besucherzahlen des Museums zu verdreifachen, und zwar nicht auf dem Wege der Eintrittspreisreduzierung, diese Direktorin also und eine zwanzig Jahre jüngere Militärhistorikerin, die sich mit ihrer militärhistorischen Dissertation über den Fall Milan Nemec als Balkanexpertin ausgewiesen hatte, sich fiebrig in einem wehrwissenschaftlichen Disput keilten.
Die Direktorin des Heeresgeschichtlichen Museums – das ist ein Mensch, aber was für einer? – hatte bereits ihre zehn Karrieren und noch zehnmal mehr Erfolge hinter sich. Eine Frau der Ehrungen und Auszeichnungen. Das liest sich auf dem Papier fließend und kann in hundert Jahren nicht infrage gestellt werden: Vorstandsmitglied des Österreichischen Museumsbundes und der Österreichischen Gesellschaft für Heereskunde, stellvertretende Vorsitzende des Militärhistorischen Beirats der Wissenschaftskommission beim Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport sowie Großoffizier des Verdienstordens des Großherzogtums Luxemburg. Dekoriert. Hat erhalten: das Große Silberne Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich, ein Jahrzehnt später das Große Goldene Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich, außerdem das Großkreuz des Gregoriusordens, das Sportehrenzeichen ihrer Geburtsstadt und das Goldene Komturkreuz mit dem Stern des Ehrenzeichens für Verdienste um jenes Bundesland, in dem ihre Geburtsstadt lag. Zudem war sie Oberstleutnant des höheren militärfachlichen Dienstes im Österreichischen Bundesheer. Kein Mitglied bei angesehenen Verbindungen, weil diese – womit die Direktorin ganz einverstanden war – keine Frauen aufnahmen, dafür Mitglied bei einer Damenverbindung. Kunstmäzenin und private Sammlerin mittelalterlicher Schlachtengemälde. Freundin der Pferde. Erhalten hat sie auch wissenschaftliche Preise, dem Karriereverlauf entsprechend noch überschaubar. Darunter den deutschen Werner-Hahlweg-Preis für Militärgeschichte und Wehrwissenschaften, vom Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung in Deutschland vergeben, im Namen eines schon toten Militärhistorikers, der, was die Öffentlichkeit erst letztes Jahr durch das Fernsehen erfahren hat, ein bisschen zu sehr ins Dritte Reich, in den Nationalsozialismus, sagen wir, verwickelt gewesen war. Weswegen dieser Preis nicht unbedingt etwas Vorzeigbares in ihrer Karriere darstellte. Bloß, zurückgeben tut man so etwas nicht, wenn man es erst einmal erhalten hat. Denn – Zeichen zu setzen, das ist eher was für Druckereien und nicht unbedingt für Direktorinnen.
Sie setzte ja außerdem ganz andere Zeichen, stattdessen, in ihrem Museum. Das war ja kein Spontanmuseum auf Abruf, sondern ein großes zu verwaltendes Erbmuseum. Sie setzte Zeichen, die der Unterhaltung und der Wirtschaft, aber auch der Traditionspflege dienten. Tausende Besucher konnte sie mit ihrem Spektakel »Montur und Pulverdampf« in das früher in den Sommermonaten oft leere Museum locken. Die freundliche Einladung an ihre österreichischen Mitbürger und Mitbürgerinnen, dem Alltag zu entfliehen, wenn schon nicht mit dem Pulverdampf, dann beim Anblick der Reitenden Artilleriedivision Nr. 2, die die Besucher und Besucherinnen im Juli und August mit dem zu Mittag ertönenden »K. u. k. Kanonendonner« immer wieder daran erinnerte, dass es in Wien noch Traditionsvereine gibt, falls es jemand vergessen haben sollte.
Pflichtbewusste Innovationsfähigkeit