Das lange Echo. Elena Messner
nur für ihn gemacht. Nach Jahren der Besatzung hatte er das Gefühl, dass Belgrad in Trauer war, verkohlt, mürrisch, kalt, innerlich wie äußerlich. Hier gab es keine spielenden Kinder mehr, keine gurrenden Tauben, keine freundlich weiß bemalten Eingänge, nur noch Schluchten zwischen schmalen Gassen, daneben Tore, die in finstere Innenhöfe führten. Die Stadt war zu still für jemanden, dessen Stimmen im Kopf so laut waren. Da regte sich immer wieder etwas, das ihm Angst machte, im Herbstnebel. Zugleich wirkten die Gässchen leer, die wenigen Menschen in ihnen stumpf. Eine schreckliche Öde, ein beständiger Hunger, die allgegenwärtige Angst, an den Ecken die Uniformierten, manchmal eine zerschlissene schwarz-gelbe Fahne, das zerschlagene Bild des deutschen Kaisers in einem Schaufenster, daneben, ebenfalls zerschlagen, mehrere Schnapsflaschen, darunter oder weiter weg ein hockender alter Mann mit einer noch nicht zerschlagenen Schnapsflasche an den Lippen, der dir die Hände entgegenstreckt, auf sein Holzbein deutet, murmelt, in einer Sprache, die du verstehst, und auch wieder nicht: Kalt ist mir, so kalt, am Ende verbrenn’ ich noch mein Holzbein, damit mir warm wird, geben Sie doch, geben Sie doch, Herr, ein paar Münzen, dann hab ich wenigstens meinen Branntwein, das einzige, was wärmt.
Besonders schämte sich der Milan Nemec seit Jahren für die Entwicklung auf manchen Belgrader Straßen, die die Besatzungsnachrichten als Gemüsegärten in der Stadt bezeichnet hatten, Gartenflecken, in denen die Soldaten Kohl und Erdäpfel anpflanzten. Auf Parkplätzen, Rasenstückchen, an Straßenrändern, überall wurden Holzzäune um einen solchen Gemüsegarten herumgezogen, und nun, im Herbst 1918, waren diese Holzzäune allesamt in kleinen Feuern geendet. Diese Gemüsegärten der Kompanien lagen brach, sie deuteten bereits die nächste, wahrscheinlich noch schlimmere Hungerzeit an [ging das noch – schlimmerer Hunger als der im Winter 1917?]. Es ekelte ihn vor Belgrad, dem zerstörten, schmutzigen, dem ganz und gar scheußlichen Belgrad, das zu grinsen schien: Ja, ich bin vielleicht bloß noch Schlamm und Dreck, aber ich stehe immer noch. Wie ein schlecht rasiertes Soldatenkinn erschien ihm die raue Oberfläche der Stadt. Und im schlecht rasierten Soldatenkinn kündigt sich schließlich der Untergang an.
Der Spaziergang hatte den Nemec und seinen Besuch in die Nähe des Kalemegdans geführt, bald standen sie auf einer Fläche, von der aus sie die Donau sehen konnten und die zugleich auch den Blick auf die Save erlaubte, wenn sie sich ein wenig drehten. Diese schmutzige Stadt, die nur als Verkehrsknotenpunkt Sinn machte, wie war sie an dieser glorreichen Kreuzung der Flüsse gelandet, als Stadt ohne jedes weitere Bedürfnis? Aus der Krankheit, Eiter, Dreck und Scheiße nicht wegzubekommen waren, die trotzdem weiterwucherte. Was wurde hier nicht alles stationär zwischengelagert in den letzten Jahren, den verfluchten: Fleischberge von Soldaten, die nicht mehr oder noch nicht wieder einsetzbar waren für die Ostfront. Hier standen türkische Unterstützungstruppen unter Quarantäne, ehe sie weitertransportiert wurden, überall die Verwundeten oder jene Heimaturlauber, die mit ansteckenden Geschlechtskrankheiten stationär untergebracht waren, faules und geiles Pack!, bevor sie als urlaubsfähig deklariert und weitertransportiert wurden.
Gab es etwas Schönes in dieser Stadt, dann nur jene Dinge, die du, der neue Verwalter, selbst mitgebracht hast. Ja, zum Beispiel die österreichischen Soldaten und Beamten. Na, vielleicht weniger die Soldaten, aber zumindest ihre Uniformen, die das Stadtbild aufwerteten, so ordentlich und so sauber. Schön waren die deutschsprachigen Schilder mit dem Kaiseradler, das gepflegte Kaiserbild in den Kanzleien, die hübschen Bilder des Chefs des Generalstabs, die in allen Bahnhöfen und Schulen hingen. Manch ein Beamter oder Offizier dachte, wenn er wie der Milan Nemec und sein Besuch am Kalemegdan vorbeispazierte, mit sanfter Rührung das Gleiche, nämlich, wie schön oben auf der Festung, von leichtem Wind entfaltet, die schwarz-gelbe Fahne wehte. Sehr schön waren auch die Militärmusikkapellen gewesen, mit ihrer flotten österreichischen und ungarischen Marschmusik, die durch die Straßen zogen, oder auch die Militärparaden und Empfänge, die man – zugegebenermaßen – nur gefeiert hatte, um zu Beginn der Besatzung die eigene Stärke und Präsenz zu demonstrieren und um jene Kräfte in der Stadt einzuschüchtern, die immer noch glauben mochten, Belgrad sei von Habsburg wieder befreibar.
Besonders schön fand der Milan Nemec, ein gemütlicher Gelegenheitsraucher, dass auf den Schachteln der monopolisierten Zündhölzer sein Doppeladler prangte. Wenn du da so ein Zündholz an die Lippen führst, das ist warm und weich, es leuchtet, es ist dein Sinn und dein Stolz. Auch wenn dieses Zündholz später abgebrannt im Müll landet: Immerhin, seinen Dienst hat es treu getan. Wie du. Immer und überall: Der Adler, der doppelte, der den Weg weist. Das Streichholz ist eine kleine Fackel, die du an deinen Mund führst, begleitet von des Kaisers Schwefelgeruch, langsam an den Mund führst, um den kurzen Moment der Ruhe, des Zurücklehnens erleben zu können, den kurzen Moment der einsamen Lust mit deinem rauen Tabak, nie alleingelassen von deinem Kaiser, nicht in hundert Jahren.
Wo war all das hin? Die Kapellen, die Märsche, die Paraden? Die Zündhölzer und der Tabak? Die Feste und die Backhenderln? Warum diese Trübheit, dieser Nebel vor seinem Auge, dem inneren und äußeren, warum das Gefühl, in der eigenen Uniform ersticken zu müssen, warum der ständige Griff an den Hals? Musste das alles denn so flott, wie es sich bei den Paraden und Märschen angehört hatte, wieder vorbeigehen? Hatte das noch Sinn und Ziel?
Obschon jedoch zu Beginn alles so herrlich erschienen war, obwohl die eigene Präsenz in wohlwollend aufgenommenen und wohltuenden Spazierereien und Märschen recht erfreulich gewesen war, obwohl man nach außen hin Zufriedenheit hatte demonstrieren können, wusste der Nemec, wie es im Inneren dieser Verwaltung ausgesehen hatte, wie es um das Drinnen in den Ämtern und Kanzleien bestellt gewesen war. Denn wirklich einig war sich hier niemand, gut geordnet und reibungslos lief es schon am Anfang nicht immer ab: Da schrien die einen, aus Wien, nach Annexion, und die anderen, aus Budapest, meldeten ihr Nein. Und er selbst saß fest, mitten im Schlamassel, nicht an der Front, wo er Schlachten schlagen, auch verlieren konnte, sondern er saß fest in den Kanzleien, zwischen den Verordnungen und Provokationen, den Vorschriften, Unterschriften, Streitgesprächen mit den Ungarn, den Deutschen oder den Bulgaren. Jedes Gespräch, das er führen musste, begann mit einem »Das kommt drauf an« und einem »Aber«. Inwendig ist alles viel maroder, als von außen betrachtet, denn einen Glanz hat man halt außen schneller erzeugt als innen.
Darin meinten die Direktorin des Heeresgeschichtlichen Museums und ihre jüngere Kollegin die Gründe vorzufinden, die den Nemec in eine aus seiner Sicht wohl deprimierende Zwangslage gebracht hatten, die sich auf seine Psyche, so meinten sie, und daher auf seine Handlungen nur negativ hatte auswirken können.
Das große Problem, meinte die Direktorin, sei natürlich gewesen, dass innenpolitisch gesehen zwischen der österreichischen und der ungarischen Führung der Doppelmonarchie kein echtes Einverständnis darüber geherrscht hatte, was mit dem besiegten Land zu geschehen habe. Da dachte Ungarn, dass dieses Land ungarisches Interessengebiet sei und daher ungarisch dominiert zu sein habe. Dies folgte aus dieser ungarischen Sicht einer sehr klaren Logik [aber wir wissen schon, es ist nicht Logik, die die Welt und unser Handeln lenkt], denn keinesfalls sollte durch eine Annexion eine Ausweitung des slawischen Elements in der Donaumonarchie riskiert werden.
Dies stand, logischerweise!, im Widerspruch zu manchen Plänen in Wien, die in der Militärverwaltung für das eroberte Land eine Vorstufe zur Annexion im Sinne einer südslawischen Union unter kroatischer Führung sahen, was ja, wie doch alle wüssten, eine empfindliche Reduktion des ungarischen Teils der Doppelmonarchie bedeutet hätte und daher wiederum klarerweise im Interesse Österreichs gewesen sei.
Dass dieser Interessengegensatz im Streit kulminieren musste, war vorbestimmt, und dieser schon vorbestimmte Streit eskalierte rund um einzelne Personen oder um Dinge. Da konnte es schon vorkommen, dass Budapest einem österreichischen Offizier aus den kroatischen Gegenden vorwarf, er bevorzuge als Kroate den Feind. Schließlich traute man in Ungarn den kroatischen Menschen, würde man ihnen das eroberte Land in einer südslawischen Union zuschlagen, nicht genügend Widerstandskraft gegen südslawische Vereinigungsbestrebungen zu. Die würden doch – einmal vereint – noch störrischer eine Unabhängigkeit anstreben, nur wären sie dann mehr als bisher, was ja keinesfalls gut sein konnte und gut ausgehen konnte, in einem ohnehin von solchen Grundsatzproblemen geplagten Großreich. Es wurde daher recht kompliziert, ein gemeinsames Kriegsziel zu formulieren, auf Kongressen und bei Geheimtreffen.