Das lange Echo. Elena Messner
beim ersten Feldzug gegen das Land, das er nun besetzte, Überlegungen angestellt: über die unnötigen Personal- und Materialverluste, über taktische, also eigentlich gute Gründe, Gelände aufzugeben, die es immer wieder gegeben hatte, auf die er aber in Diskussionen nicht hinweisen durfte, denn da war sie eben, omnipräsent, diese Vorstellung, an der es festzuhalten galt: standhaft, ja, bis in den, seinen, unseren Tod, und dann? So dachte er bereits vor Jahren, nach Kriegsbeginn, manchmal, kurz, wirr. Jetzt, Jahre später, hatte sich dieses Fragezeichen rund um die Standhaftigkeit bis zum Tode zu einem Rufzeichen entwickelt, das ihn jedoch nur nachts quälte. Tagsüber verlor sich zumeist jede Spur davon.
Wie viele gerettet hätten werden können, wenn sie, ja, nicht standhaft bis in den Tod und so weiter hätten gehen müssen. Verstehst du denjenigen nicht, der seine Waffen niederlegen will, der nicht standhaft bleiben und weitergehen will, in den Tod, der ihm gewiss ist? Ähnlich hatten ihn im Feldzug – dem ersten – Zweifel ergriffen, manchmal [obwohl, ja, zugegeben: immer öfter, je länger der Feldzug dauerte], wenn er an seine Militärhandbücher dachte, an sein Exemplar von Zum Studium der Taktik, in dem der Franz Conrad von Hötzendorf die Grundgedanken der österreichisch-ungarischen Militärführung darlegte, die da waren: um jeden Preis Offensive und Angriff.
Dass diese Grundgedanken richtig und wichtig und vor allem in ihrer Wirkung unbestreitbar zielführend waren, zeigte sich ja schon daran, dass so ein Conrad sehr erfolgreich alles, was zu rebellieren, was sein Recht einzufordern wagte, niederzuwerfen vermochte. Wie schon sein Vater Jahrzehnte davor geholfen hatte, eine Revolution in Wien zu machtlosem Gepolter verkommen zu lassen, half auch er entschlossen mit, süddalmatinische Aufständische oder später italienische Hafenarbeiter niederzuschlagen. Er annektierte vorbildlich jenes Bosnien mit, von dem der Kaiser beschlossen hatte, es sich zu Regierungsjubiläum und Namenstag selbst zu schenken. All das in nur wenigen Jahrzehnten. Bei dieser Annexion forderte der Taktiker – daran erinnerte sich der Milan Nemec, ganz gut erinnerte er sich daran – mehrmals den Krieg gegen Serbien, im Zuge dessen er auch eine Eroberung, oder zumindest eine notwendige »Einengung« Montenegros mitvorschlug, wie auch die »Gewinnung« Albaniens und des westlichen Mazedoniens, all das mit dem Ziel, sich am Ende in Thessaloniki siegreich feiern zu lassen. Was der Milan Nemec davon zu halten hatte? Nun, auch wenn manche den Aktivismus eines Conrad von Hötzendorf, dessen taktische Schriften seine Kollegen und Schüler jahrzehntelang nach seinem Ableben begleiten würden, hinein in neue Reiche, die es zu verteidigen galt, auch wenn manche diesen Aktivismus als kadaveristischen Bellizismus und größenwahnsinnigen Imperialismus ansehen mochten, und auch wenn seine jahrzehntelang vorgetragenen Pläne, endlich das lästige Italien, bitte präventiv!, anzugreifen oder lästige slawische Ländereien im Süden endlich, auch präventiv!, zu annektieren, am Hofe doch mehrmals abgelehnt worden waren, weil das alles schließlich auch zu bezahlen war, hielt ihn das nicht davon ab, diese als patriotisch maskierten Forderungen immer wieder zu stellen, ein ums andere Mal, jahrzehntelang.
Dieser Conrad! So einer starb am Ende keineswegs zufällig an einem Gallenleiden und hatte naturgemäß ein Ehrengrab in Wien, bis ins Jahr 2012. Erst danach stuften sie es herab, das Grab, auf ein »historisches«. Aber die dutzenden Straßennamen, die Gebäudenamen, die Gedenktaferln, die ihm ihre eiserne Treue halten, die konnte man so schnell nicht herabstufen oder herunterstoßen, und was hieß das denn schon: Judenhasser? Was hieß das: Fremden- und Rassenhasser? Was hieß das: Kriegsfreund und Kriegstreiber? Was hieß das: Kriegsverbrecher? Gegen einen Conrad von Hötzendorf, gegen seine angriffsfreudige Entschlusskraft, seinen zielbewussten Tatendrang und seinen unbeugsamen Willen schien kein Einwand möglich, nicht in hundert Jahren schien da ein Einwand möglich.
Doch warum kam dann doch der Zweifel im Milan Nemec hoch, manchmal, wahrscheinlich unbegründet, ob der Angriff wirklich immer die beste Option war? Ob so ein Angriff wirklich eine Verteidigung … und wenn ja, ob eine gute, ob wirklich die beste … Oder doch nicht?
Der Nemec hatte, von auftauchenden Zweifeln an seiner Sache schon geschwächt, so ließe sich schlussfolgern, die größtmögliche Kränkung erlitten: von einem jammernden Mütterchen aus dem Feindesland an den blöden eigenen Tod erinnert zu werden, diesen lächerlichen eigenen Tod im trockenen Kehllaut einer müden Frau als Gewissheit zu erkennen, als seine fest vorgezeichnete Zukunft. Nun war aus diesem Erlebnis die leise Ahnung in ihm aufgetaucht, dass es ein dummes Ich gab, nämlich seines!, dem er, wenn er recht ehrlich war, inniger verbunden war als dem Wir, von dem in den Ausführungen des Besuches die Rede war, einem Wir, das ihm zunehmend ein wenig ins Abstrakte und Philosophische abgesunken war, ungreifbar und umso bedrohlicher.
Dazu trällerte ihm zu allem Überfluss ein Wind, der durch die Löcher in den zitternden Flügeln eines Falters pfiff, das Lied von jenem Wir, das zu besiegen er ausgezogen war und das er hier in dieser scheußlichen Stadt zu kontrollieren, zu verwalten hatte. Dabei hatte er bislang nie das Gefühl von Mitleid mit dem empfunden, was sich amtlich Zivilbevölkerung nannte, die er nicht wie einige seiner Kollegen als Abschaum, jedoch auch nicht als eine echte Menschenansammlung wahrnahm, sondern als bloßes Objekt seiner Etappenaufgaben. Nur militärische und verwaltungstechnische Überlegungen waren ihm wichtig erschienen, wenn er an diese Zivilbevölkerung dachte.
Auf jeden Fall, so schien ihm, musste diese vorsichtig behandelt werden. Es kam drauf an, je nachdem, ob sie nämlich nahe der Kampfzone oder im Landesinneren gelebt hatte. In der Kampfzone waren manchmal Zivilpersonen in besonderem Maße von Gewaltexzessen betroffen gewesen, das konnte nicht geleugnet werden. Gerade dieses dumme Belgrad hatten seine Truppen mehrmals einnehmen und wieder räumen müssen. Da passiert allerlei, beim Einnehmen, Räumen, Wiedereinnehmen. Daher war nur vorsichtig abzuschätzen, welche Vorerfahrungen die Zivilbevölkerung, deren Leben er hier mit seinen Beamten und Soldaten verwaltete, erlebt hatte. Je nachdem waren sie entweder eine kleinere, eine große oder gar keine Gefahrenquelle. Je nachdem, wie viele Menschen ihnen weggestorben, wie viele Beine oder Arme sie verloren, wie viel Prügel sie hatten einstecken müssen. Je nachdem, ob ihr Haus noch stand, ob es zerbombt oder niedergebrannt worden war. Das musste er an ihren Gesichtern und Körpern ablesen lernen.
Sein Umzug hierher hatte ihn anfangs in einen Schockzustand versetzt, in fast den gleichen Schockzustand, in dem auch die Stadt selbst sich befand. Da war alles die Demonstration einer totalen Zerstörung. Spürbar waren für ihn vor allem die Lebensmittelengpässe, an denen selbst sie, die Offiziere, zu Beginn litten. Spürbar war zudem eine Leere, die etwas unheimliche Veränderung in den Einwohnerlisten. Eine Stadt kann nicht nur von Gefangenen, Kranken, Alten, Kindern und Frauen verwaltet werden, das steht außer Frage. Da konnte diese Stadt nur froh sein, dass sich die neue Militärverwaltung um ihren geordneten Fortbestand kümmerte. Es war nur sinnvoll, dass – weil die frühere Regierung und Verwaltung zu bestehen aufgehört hatte, oder aus unterschiedlichen Gründen an der Ausübung ihrer Geschäfte gehindert wurde, dass also die österreichischen Militärs auch die zivilen Aufgaben übernehmen mussten. Wobei diese zivilen Aufgaben naturgemäß den militärischen Notwendigkeiten unterzuordnen waren, wie es in den Vorschriften vermerkt wurde.
Deshalb braucht es mich hier, ja, genau!
Er hatte diese Stadt, die zerstörte, mit Leben zu füllen. Hatte sich um Ämter und Straßen zu sorgen, um Zeitungen und Wohnungen. Um den Verkehr und die Kommunikationslinien. Um die Eisenbahnzüge, die laufend Kranke und Verletzte von der Front brachten oder Truppenteile an andere Kampfplätze verschoben, die bald sogar Urlauber nach Belgrad transportierten, etwa die Frauen und Kinder der Besatzer, der Beamten und Offiziere.
Während er mit dem Besuch durch die Straßen des verödeten Belgrads spazierte, schämte er sich für die Hässlichkeit der Stadt, als sei er allein dafür verantwortlich – nicht, weil er sie mitverursacht hatte [hatte er das?], nein, vielmehr, weil er diese Hässlichkeit nicht durch die Aufrechterhaltung der notwendigen Ordnung wieder beseitigt hatte, notfalls unter Einsatz von Zwang und Gewalt. Keine Mauer, die nicht beschädigt, keine Fassade, die nicht abgeblättert, keine Straße, die nicht voller Krater oder ganz aufgerissen, kaum ein Fenster, das nicht mit Holzbrettern verschlossen, kein Gras, das nicht niedergetreten war. Der Winter war hart, erklärte er an jeder Ecke seinem Besuch, der Winter 1917, das wissen Sie ja, anderswo war es ebenfalls nicht leicht, so auch hier nicht, und nicht einmal der Sommer war gemütlich.
Da