Heimatsuchen. Ilse Tielsch

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       ILSE TIELSCH

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       ROMAN

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       Meiner Mutter

      Inhalt

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Kapitel 3

       Kapitel 4

       Kapitel 5

       Kapitel 6

       Kapitel 7

       Kapitel 8

       Kapitel 9

       Kapitel 10

       Kapitel 11

       Kapitel 12

       Kapitel 13

       Kapitel 14

       Kapitel 15

       Kapitel 16

       Kapitel 17

      1

      Neben dem Bahndamm hielt Wundraschek sein Pferd an. Prrr, das hieß: bleib stehen. Alle Pferde Mährens verstanden diesen Zuruf, auch dieser magere Ackergaul, unter dessen schäbigem Fell sich die Rippen deutlich abzeichneten.

      Wundraschek wußte natürlich, daß er mit diesem elenden Roß an keiner Schönheitskonkurrenz teilnehmen konnte, aber das lag ja auch nicht in seiner Absicht. Ein Pferd war Gold wert in diesen Zeiten, und dies im wahrsten Sinne des Wortes. Es hatte ihn viel Mühe und Schlauheit gekostet, dieses hier über die letzten Monate des Krieges und dann noch über das Kriegsende mit allen seinen Folgen hinüberzuretten. Jetzt machte sich diese Mühe bezahlt. Für die Fahrt, die er eben, durch Anhalten seines klapprigen Wägelchens, beendet hatte, war er mit einer goldenen Armbanduhr, einem tadellosen Sonntagsanzug und noch mehreren anderen nützlichen und wertvollen Gegenständen belohnt worden, und es war nicht die erste derartige Fahrt gewesen und würde auch die letzte nicht sein. Die Deutschen mußten aus dem Land, das stand fest, das hatte er, Wundraschek, schon lange vor dem Ende dieses Krieges gewußt, alle Tschechen hatten es gewußt, nur die Deutschen hatten es, auch wenn man heimlich darüber geredet hatte, nicht geglaubt. Einige von denen, die zuletzt noch von den abziehenden Soldaten in ihren Militärautos mitgenommen worden waren, oder von jenen, die, noch ehe die Russen gekommen waren, mit Pferd und Wagen oder in überfüllten Zügen die Flucht ergriffen hatten, waren sogar, als sich die Lage einigermaßen beruhigt hatte, zurückgekommen und hatten ihr gesamtes Fluchtgepäck wieder mitgebracht. Er, Wundraschek, hatte nur den Kopf schütteln können über soviel Dummheit oder Naivität, das konnte man nennen, wie man wollte, er jedenfalls hatte es nicht verstanden.

      Die meisten waren ohnedies dageblieben, in der Meinung, es würde schon nicht so schlimm werden, man würde die Besetzung durch die Russen in Kellern oder anderen Schlupfwinkeln abwarten, in den verzweigten unterirdischen Gängen etwa, die sich von der Kirche weg weit unter den Feldern und Weingärten hinzogen, man würde schon irgendwie überleben, und nachher würde alles wieder weitergehen, Tschechen und Deutsche in einem Land, wie das seit undenklichen Zeiten der Fall gewesen war.

      Da haben sie sich getäuscht, dachte Wundraschek, das ist vorbei. Überall waren sie jetzt wohl unterwegs, der Grenze entgegen, jene jedenfalls, die man nicht in Lager gesperrt hatte, Frauen, Kinder, alte Leute, Mütter mit ihren Kleinkindern auf dem Rücken, die größeren an der Hand, von den jüngeren Männern waren die meisten gefallen, und jene, die noch lebten, waren wahrscheinlich irgendwo in Sibirien oder vielleicht auf dem Weg dorthin. Auf allen Straßen zogen die Deutschen dahin, einzeln oder in kleinen Gruppen oder in langen Zügen, man hatte ihm davon berichtet, aber Genaues wußte er nicht, wollte es auch nicht wissen. Was ging ihn das alles an? Er brachte diese hier zur Grenze, sie hatten ihn gut bezahlt, und er hatte dabei auch noch das Gefühl, ein gutes Werk zu tun. Wenn er sie nicht mit seinem Wagen bis hierher gebracht hätte, dann hätten sie immerhin etwa fünfundzwanzig Kilometer weit ihre Rucksäcke und Koffer selbst schleppen müssen, und das wäre ihnen, schon der Kinder wegen, nicht leichtgefallen. Die Kinder wenigstens hatten hin und wieder, wenn es nicht gerade steil bergauf gegangen war, auf dem Wagen sitzen dürfen. Wenn er dafür ein paar Wertgegenstände als Bezahlung genommen hatte, war das nur recht und billig. In außergewöhnlichen Zeiten waren für außergewöhnliche Leistungen immer noch besondere Preise berechnet worden. Er kannte die Leute von Kind an, vor allem die eine der beiden Frauen. Sein Vater hatte als Taglöhner auf dem Hof ihrer Eltern gearbeitet, später hatte sie den Doktor geheiratet und ein gutes Leben gehabt. Der Doktor war gekommen, wenn eines der Kinder krank gewesen war, auch nachts war er gekommen, wenn man ihn gerufen hatte, aber das war ja schließlich seine Pflicht gewesen, und es spielte jetzt keine Rolle mehr. Eine neue Zeit war angebrochen, nicht nur die Herrschaft der Deutschen war vorüber, auch die Herrschaft der Reichen, es würde keine Reichen und keine Armen mehr geben, keine Taglöhner und keine Knechte, keine Großbauern und keine Dienstboten, die für die Gnädigen die Wäsche wuschen. Von nun an würden alle gleich sein, gleich wohlhabend selbstverständlich, niemand würde mehr dienen müssen, niemand würde mehr arm sein. So jedenfalls stellte er, Wundraschek, sich die Zukunft vor. Wenn er jetzt, als Lohn für seine Fahrten, noch ein wenig zusätzlichen Reichtum sammelte, ein paar goldene Uhren, ein paar Ringe, Sonntagsanzüge, Halsketten für seine Frau, wen ging das schließlich etwas an?

      (So oder ähnlich mag Wundraschek an jenem Vormittag im Juni 1945 gedacht haben. Viel später sollten jene Leute, die er nach und nach mit seinem klapprigen Wagen an die Grenze gebracht hatte, einander bei verschiedenen Anlässen wieder begegnen und erzählen, daß sich damals einer, der noch ein Pferd besessen habe, dazu bereit erklärt hätte, sie zur Grenze zu bringen. Sein Name würde genannt werden, und man würde auch den Fuhrlohn erwähnen. Er, Wundraschek, würde dadurch zu einer Art trauriger Berühmtheit gelangen, die er nicht beabsichtigt hatte.)

      Prrrr, machte Wundraschek, und sein Pferd blieb stehen, im gleichen Augenblick von Fliegen umtanzt, die es durch Schlagen mit dem Schweif und durch unruhiges Stampfen mit den Beinen abzuwehren versuchte. Sein Herr klopfte ihm den mageren Hals, dann griff er nach den Gepäckstücken, die auf dem Wagen lagen, mehreren Rucksäcken und Koffern, und warf sie nacheinander auf den Grasstreifen neben der Straße. Er wußte, daß die fünf Erwachsenen, die dastanden und ihm zusahen, gehofft hatten, er würde sie vielleicht doch noch ein Stück weiter, bis zur nächsten, jenseits der Grenze gelegenen Ortschaft bringen, aber das wagte er nicht. Wer konnte schon sagen, ob nicht drüben, im Österreichischen, irgendein Posten lauerte, der nur darauf aus war, ihm sein Pferd wegzunehmen? Er hatte sie bis hierher gebracht, nun sollten sie sehen, wie sie weiterkamen, nach Österreich hinein oder weiter nach Deutschland, irgendwohin jedenfalls, von wo sie nicht mehr zurückkommen würden.

      Dort, hinter dem Bahndamm, sagte er schließlich, sei der Bach, und dieser


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