Heimatsuchen. Ilse Tielsch

Heimatsuchen - Ilse Tielsch


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er noch etwas von dem Sliwowitz bekommen könnte aus der kleinen Flasche, die er bei der Frau des Doktors gesehen habe?

      Die Frau nahm die Flasche aus ihrer Handtasche, er setzte sie an die Lippen und trank, dann gab er sie wieder zurück, kletterte auf den Wagen und griff nach den Zügeln.

      Hü! rief Wundraschek, und der Gaul, der diesen Zuruf verstand, wie ihn alle Pferde Mährens verstehen, zog an, das Gefährt entfernte sich auf dem Weg, auf dem sie gekommen waren.

      Die fünf Erwachsenen und die beiden Kinder standen noch ein paar Augenblicke lang wie verloren auf der Straße, dann bückten sie sich nach den Gepäckstücken, halfen einander in die Schulterriemen der Rucksäcke, griffen nach den Koffern und setzten sich in Bewegung. Sie kletterten über den Bahndamm, erblickten den Bach, der sich zwischen Weidengestrüpp und Schilfbüscheln schlängelte, und gingen darauf zu.

      Es scheint einfach, sich vorzustellen, wie damals alles gewesen ist, wenn man die Landschaft kennt, in der sich dies zugetragen hat, wenn man sich Wundraschek, sein mageres Roß, den kleinen hölzernen Wagen (STREIFWAGERL HAT MAN SO EIN FAHRZEUG GENANNT) bis in die kleinsten Einzelheiten ins Gedächtnis zurückrufen kann, wenn einem ähnliches immer wieder berichtet worden ist, wenn man weiß, daß es ein sonniger Junivormittag gewesen ist, das Getreide zu beiden Seiten der Straße noch grün, aber schon hoch. Die dunkelgrünen Blattbüschel der Zuckerrüben sind ebenso vorstellbar wie die langen Reihen der Maispflanzen auf den Feldern, der Weinstöcke auf den Hügeln, die eigene Erinnerung hat den Geruch von der Sonne beschienenen Unkrauts anzubieten, Wegerich, Zinnkraut, Kamille, Sauerampfer, auch gelber Steinklee ist dabei, Taubnesseln, Brennesseln, Löwenzahn, andere Kräuter, deren Namen nie genannt worden sind, das Rumpeln der eisenbeschlagenen Holzräder von Wundrascheks Wagen, das Schnauben des Pferdes, das Klatschen der Roßäpfel, das Rauschen des Pferdeurins, das Klappern der beschlagenen Hufe auf den Granitsteinen der schmalen Straßen, Bilder, Gerüche, Farben, die man sehr früh schon aufgenommen hat. Man sieht die Menschen vor dem Hintergrund dieser Bilder, man sieht die Landschaft, die Konturen der Hügel, die Farben der Felder, man weiß, was sich in jenen Wochen und Monaten zugetragen hat, es ist beinahe so, als wäre man selbst dabeigewesen.

      Das mit dem Bahndamm stimmt nicht, sagt die altgewordene Mutter, da ist kein Bahndamm gewesen, der Wundraschek hat uns mit seinem Wagen bis an den Grenzbach gebracht. Dort hat er unsere Sachen ins Gras geworfen. Wir waren sehr müde und voll Staub von dem langen Weg, die Kinder haben vor Müdigkeit geweint.

      Ich habe mir nicht vorstellen können, noch einen einzigen Schritt zu tun.

      Ich habe den Rucksack fast nicht mehr heben können. R. hat die Kinder nacheinander über den Bach getragen, dann alle unsere Rucksäcke und Koffer, dann sind auch wir anderen durch den Bach und durch das Schilf gewatet. Dann haben wir uns unter den Weiden ins Gras gesetzt.

      Man muß sich vorzustellen versuchen, wie sie auf dem Grasfleck sitzen, kauern, stumpf vor Müdigkeit, vor Erschöpfung, Schmerz, Trauer, Verzweiflung, all das wird erst später wiederkommen, das Bewußtwerden des Elends, in das sie nach all den durchlebten und überstandenen Schrecken gestürzt sind, wird nicht von einem Tag auf den anderen vor sich gehen, das Ausmaß des Verlustes und vor allem die Endgültigkeit dieses Verlustes werden sie nur nach und nach erfassen können, der Schmerz wird erst einmal zunehmen, anschwellen müssen, ehe er abklingen kann.

      Wenn die altgewordene Mutter heute sagt, sie sei MÜDE gewesen, dann schließt dieses Wort beinahe alles ein, was sie damals, auf dem Grasfleck zwischen den Weidenbüschen kauernd, empfunden hat.

      Ergänzend fügt sie hinzu, sie seien ALLE GLÜCKLICH GEWESEN, endlich auf österreichischem Gebiet zu sein.

      (Von den rund 3 295 000 Deutschen Böhmens, Mährens und dem zum Gebiet der Tschechoslowakei gehörenden Teil Schlesiens sind nach einer später anhand statistischen Materials durchgeführten Berechnung 2 814 000 lebend über die Grenzen gekommen. Nach Abzug der 235 000 nach 1945 in den genannten Ländern verbliebenen Deutschen und etwa 5 000 Vermißten gelangt eine 1959 erstellte Statistik zu dem Ergebnis, daß im Jahr 1945 unter der deutschen Bevölkerung dieser Länder 241 000 Todesopfer zu beklagen sind.)

      Dokumentationen, Berichte von Augenzeugen, halten fest, wie es gewesen ist. Wie man sie aus ihren Häusern und Wohnungen trieb, ihnen sagte: Ihr müßt fort. Packt eure Sachen, was ihr tragen könnt, dürft ihr mitnehmen (keinen Schmuck, keine Sparbücher, keine Grundbesitzbogen, keine Wertgegenstände), alles andere bleibt zurück.

      Sie liefen, rannten, packten die unsinnigsten Dinge zusammen, rafften Wäsche aus Schubladen, schnürten sie zu Bündeln, ließen Wichtiges liegen, steckten Unwichtiges in Rucksäcke, Koffer, Handtaschen, dachten nicht daran, daß sie ein zweites Paar Schuhe, eine wärmere Jacke, ein Kopfkissen für die Kinder brauchen würden, waren verwirrt, fassungslos, zu Tode erschrokken, stopften Kochtöpfe in Kinderwagen, konnten es nicht fassen, nicht glauben, nicht begreifen, dachten, sie gingen nur für kurze Zeit, würden zurückkehren, einen Teil des Zurückgelassenen wiederfinden, versteckten Schmuckstücke hinter Dachsparren, wickelten Kleinkinder in Decken, banden ihnen Kopftücher um die kleinen Köpfe, fanden keine Zeit zu trösten, Tränen zu trocknen, standen auf der Straße, liefen wieder zurück, doch noch ein Schmuckstück, ein Dokument, ein Fläschchen Milch für das kleinste Kind zu holen, steckten ein Stück Brot in die Tasche, sperrten Häuser und Wohnungen ab oder ließen die Türen offenstehen. Manche von ihnen fing man auf der Straße ein, jagte sie zu den anderen, die man schon zusammengetrieben hatte, erlaubte ihnen nicht, noch einen Mantel, ein Tuch, eine warme Decke zu holen, nach ihren Angehörigen zu suchen.

      Man trieb sie wie Vieh über die Straßen, der Grenze entgegen, die Alten und Schwachen brachen unterwegs zusammen, krepierten wie Tiere, wurden später verscharrt oder auf Haufen geworfen, mit Benzin übergossen, angezündet und verbrannt.

      In den Dörfern setzte man Fremde in die Bauernhöfe, ließ die ehemaligen Besitzer die Arbeit von Knechten verrichten, solange man sie brauchte, steckte sie dann in Lager, pferchte sie in Ställe, man schleppte sie in Keller, folterte sie, quälte und erniedrigte sie auf jede nur denkbare Weise, man ließ sie auf den Knien über Glasscherben kriechen, man schlug sie wie Ungeziefer tot, ertränkte sie in Löschteichen, kennzeichnete jene, die am Leben bleiben durften, mit weißen Armbinden, auf die ein schwarzes N gedruckt war, N, das hieß NEMEC, also Deutscher, es war das Letzte, das Niedrigste, was man sein konnte.

      Manchen gelang die Flucht aus Lagern, Gefängnissen, sie krochen wie Tiere über die Grenzen, manche nahmen sich das Leben, manche banden Alte und Kinder an sich fest und sprangen in Flüsse, das Wasser riß die Menschenbündel mit sich fort, spülte sie irgendwo an Land, wo sie liegenblieben, bis sich einer erbarmte und sie begrub. Andere brachte man später zu Bahnhöfen, stopfte sie in Güterwaggons oder in offene Kohlenwaggons, in denen sie aneinandergepfercht standen, schob sie über die Grenzen nach Österreich oder gleich nach Deutschland ab, HEIM INS REICH, sagte man ihnen, das hätten sie immer gewollt, dort gehörten sie hin.

      Aber auch einzeln, in kleinen, elenden Gruppen, zogen sie über die Straßen, winzige Reste ihrer Habe in Bündeln, Rucksäcken, Koffern tragend, auf klapprigen Wägelchen hinter sich herziehend, in Kinderwagen gestopft. Manchen von ihnen hatte ein barmherziger Nachbar, ein Freund, zu gehen geraten, ehe die anderen, die vielen gingen, zum Gehen gezwungen würden. Oft war es eine gute Tat, ein Freundesdienst, eine Hilfe in der Not gewesen, die jetzt durch einen Rat, durch die heimliche Aufforderung zum raschen Weggehen vergolten wurde. Sie schleppten sich über die Grenzen, hockten, lagerten auf den Feldern, wußten nicht, wohin sie sich wenden sollten, sahen von weitem aus wie traurige Riesenvögel, zogen dann weiter, bettelten um Unterkünfte, um ein Nachtlager im Stroh, in einer Scheune, in einem leerstehenden Stall, in irgendwelchen Winkeln, die vor dem Regen, vor der Kälte der Nächte schützen konnten. Sie arbeiteten für einige Kartoffeln auf fremden Feldern, viele trugen ihre unterwegs verstorbenen Säuglinge, Kleinkinder mit, um sie auf fremden Dorffriedhöfen zu begraben, wo man ihre Namen auf kleinen Grabsteinen lesen kann, viele brachten ihre alten, halbtoten Eltern nur noch zum Sterben jenseits der Grenzen mit. Unzählige verreckten an Typhus, an der Ruhr, die sie dann auch in die Grenzgebiete einschleppten. Tragödien, wie sie sich im Lauf der Jahrhunderte immer wieder, in vielen grausamen Varianten, ereignet haben? Diesmal war es anders, diesmal war es mehr. Zwei Völker


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