Heimatsuchen. Ilse Tielsch
es ist ihnen sehr schwer gefallen, denn, sagt die Mutter, sie haben ja nicht gewußt, ob sie einander noch einmal wiedersehen würden.
Dann sind sie losgezogen, auf jener Straße, über die Heinrich zwanzig Jahre vorher auf seinem alten Fahrrad gekommen war.
Ein Stück vor dem Bahnhof sind sie rechts auf die Straße, die nach dem Ort Tracht führt, abgebogen.
Ja, sagt die Freundin, das stimmt, nur so könnt ihr gegangen sein, verfolgt mit dem Finger den Weg auf der Landkarte, nennt weitere Ortsnamen: Unter-Wisternitz, Ober-Wisternitz, Bergen. Nein, sagt die Mutter, wir sind ÜBER DIE FELDER gegangen. IN TRACHT IST EIN POSTEN GEWESEN. (Vor diesem Posten hätten sie Angst gehabt.) Sei seien nicht bei Unter-Wisternitz über die Thaya gegangen, sie könne sich, sagt die Mutter, überhaupt nicht daran erinnern, die Thaya überquert zu haben.
Man muss über die Thaya, sagt die Freundin, ein längerer Wortwechsel folgt. IHR KÖNNT JA NICHT ÜBER DIE THAYA GESPRUNGEN SEIN! (Auf der Landkarte ist deutlich zu sehen, daß man den Fluß überqueren muß, wenn man zur Grenze will.)
DAS NEUE WIRTSHAUS haben wir nicht gesehen.
(Auch der Feldweg, der nach dem Dorf Unter-Tannowitz führt, ist auf der alten Karte eingezeichnet.)
Von dort weg ist Gertrud, die Arzttochter, die mit Anni das Gymnasium besucht hat, mit ihnen gegangen und hat ihnen den Weg zur Grenze gezeigt.
(Ob sie Angst gehabt hat? Nein, sagt Gertrud heute, damals sei so etwas selbstverständlich gewesen. Sie habe diesen Weg sehr gut gekannt, mehrfach Leute zur Grenze gebracht, auch Soldaten, die sich versteckt hatten. Sie habe Heinrich, Valerie und die anderen, so weit es nötig gewesen sei, begleitet, ihnen dann gezeigt, wo sie den Bahndamm zu überqueren hätten, sei dann wieder umgekehrt. HINTER DEM BAHNDAMM IST DER GRENZBACH GEWESEN.)
2
Hü! rief Wundraschek, und sein Pferd setzte sich in Bewegung.
Die fünf Erwachsenen und die beiden Kinder standen wie verloren neben den Gepäckstücken und blickten dem Wagen nach, der, eine Staubwolke hinter sich herziehend, langsam davonrumpelte, dann bückten sie sich nach ihren Rucksäcken und Koffern und kletterten über den Bahndamm und die Eisenbahnschienen.
Bis zum Bach waren es nur wenige Schritte. Sie durchwateten ihn, die Rucksäcke auf dem Rücken, einer der Männer, der von Valerie R. genannt worden ist, trug die Kinder und das restliche Gepäck ans andere Ufer, sie fanden eine trockene schattige Stelle zwischen den Weidenbüschen, fielen müde ins Gras, redeten nicht, die Kinder weinten leise vor sich hin.
Valerie war es, die sich schließlich bewegte, die Hand ausstreckte, nach Heinrichs Hand griff, nicht nur, weil sie das Gefühl seiner Nähe brauchte, das Gefühl, nicht allein zu sein mit all diesem Jammer, sondern auch, um ihm dieses Gefühl zu vermitteln. Wir leben, wollte sie ihm auf diese Weise sagen, wir sind davongekommen, wir sind nicht verlassen, solange wir einander haben.
Heinrich wandte ihr sein Gesicht zu, nickte zum Zeichen, daß er sie verstanden habe, und sagte leise: Ich habe heute Geburtstag.
Er war an diesem Tag genau fünfzig Jahre alt geworden.
Der Schmerz war beinahe erstickt gewesen von der Müdigkeit des Körpers, jetzt erwachte er, Valerie fühlte, wie er in ihr hochkroch, sie würgte, sie hatte das Gefühl, erbrechen zu müssen, aber es war ihr nicht möglich, aufzustehen, sich aufzuraffen, von diesem Krampf, der ihr den Hals zuschnürte, zu befreien. Sie ließ Heinrichs Hand los, drückte das Gesicht ins Gras, wartete auf das Nachlassen des Krampfes, auf das Abklingen der durch den wiedererwachten Schmerz hervorgerufenen Übelkeit, wartete auf Tränen, die nicht kamen. So muß sie längere Zeit gelegen sein, beinahe bewußtlos vor Erschöpfung, vielleicht sind es die Stimmen der Kinder gewesen, die sie schließlich zurückholten, vielleicht war es auch nur der Durst, den sie beim Nachlassen der Verkrampfung, des Ekels, zu spüren begann, der sie dazu brachte, sich aufzurichten. Sie griff nach ihrer Handtasche, holte die kleine Sliwowitzflasche hervor, die Wundraschek zur Hälfte leergetrunken hatte (sogar das bißchen Sliwowitz hat er uns weggetrunken), wandte sich an Heinrich und sagte leise: Gib mir den Becher.
Heinrich hatte seit seiner Gymnasialzeit eine Vorliebe für Becher gehabt, die man in der Tasche tragen konnte. Er griff in seine Rocktasche, holte eine kleine, flache Aluminiumschachtel hervor, Valerie öffnete sie, faßte von den darin konzentrisch ineinandergelegten Ringen aus dünnem Aluminium den größten, hob ihn aus der Schachtel, die übrigen, ineinanderpassenden Teile und der in der Mitte liegende kleine Boden formten sich zum Trinkgefäß. Sie ging damit zum Bach, füllte es zu zwei Dritteln mit Wasser, goß etwas von dem Schnaps hinein und trank. Dann füllte sie den Becher wieder, kam damit zu den auf dem Grasplatz Liegenden, reichte ihn der Frau.
Sie tranken alle von dem mit dem Schnaps gemischten Bachwasser, auch die Kinder tranken davon. (Wir sind nicht krank davon geworden, sagt die Mutter, es ist ein sehr starker Schnaps gewesen, er hat das Wasser wahrscheinlich desinfiziert.)
Nachdem sie getrunken hatten, kramten sie hervor, was sie an Eßbarem hatten. Ein Stück Brot, ein Stückchen Speck, dann suchte jeder für sich eine Stelle am Bach, wo er sich, ungesehen von den anderen seiner Kleidung entledigen und waschen konnte.
Dann saßen sie wieder unschlüssig im Gras, konnten sich nicht dazu aufraffen, aufzustehen und weiterzugehen. Während des ganzen, mehr als zwanzig Kilometer langen Fußmarsches hatten sie Angst gehabt. Es war eine Folge dieser Angst gewesen, daß sie, trotzdem sie Papiere mit der amtlichen Bewilligung zum Grenzübertritt in der Tasche trugen, nicht den offiziellen Grenzübergang gewählt, sondern heimlich den Grenzbach und seine sumpfigen Ufer durchwatet hatten. Jetzt, da sie die Landesgrenze im Rücken wußten, hätte es eigentlich keinen Grund mehr zur Furcht gegeben. Trotz dieser Gewißheit jedoch, trotz des befreienden Gefühls, ENDLICH AUF ÖSTERREICHISCHEM GEBIET zu sein, wurden sie diese Angst nicht los, sie hatten sich zu sehr an sie gewöhnt.
Dazu, sagt die Mutter, sei dieses schreckliche Gefühl gekommen, ZUM BETTLER geworden zu sein, von Haus zu Haus gehen, um ein vorübergehendes Obdach, um etwas Nahrung bitten zu müssen. Ihr Ziel sei ja Wien gewesen, dort hätte jeder von ihnen Verwandte, wenigstens Bekannte aus besseren Tagen gehabt.
Aber bis Wien sei es noch weit gewesen.
Schließlich habe sich ein Bauernwagen auf sie zubewegt, ein Bauer aus dem nächstgelegenen Dorf sei unterwegs gewesen, um Klee zu holen. Heinrich hat die Begegnung mit dem Bauern in einem Notizbuch beschrieben: ER ERKLÄRTE SICH DAZU BEREIT, UNS BEI SICH AUFZUNEHMEN, VORSICHT SEI ABER GEBOTEN, DA IM DORF DIE RUSSEN SEIEN. ER WÜRDE JETZT NACH HAUSE FAHREN, DEN KLEE ABLADEN UND NOCHMALS ZURÜCKKOMMEN. DANN SOLLTEN WIR UNSER GEPÄCK AUF DEN WAGEN GEBEN, ER WÜRDE KLEE DARÜBER BREITEN UND ZU SEINEM HOF FAHREN. WIR SOLLTEN IHM IN GRÖSSEREM ABSTAND FOLGEN. SO GESCHAH ES DANN AUCH.
Heinrich, an Wundrascheks Entlohnung denkend, bot dem Bauern das einzige Stück von einigem Wert an, das Valerie gewagt hatte, in ihrer Handtasche mitzunehmen, eine silberne Puderdose. Der Bauer wies die angebotene Gabe zurück, er wollte für seine Hilfe keinen Lohn. (Das werde ich nie vergessen, sagt die Mutter.)
Sie trotteten hinter dem Kleewagen nach, jenen Feldweg entlang, der sich, hellbraun, mit einem Stich ins Graue, zwei Fahrspuren, in der Mitte eine mit Erdstaub bedeckte Rinne, vom Grenzbach weg, zwischen Weizen- und Rübenfeldern, in Richtung des Dorfes Ottenthal im niederösterreichischen Weinviertel hinzog. (Es ist der gleiche Feldweg gewesen, den ich, Anna, auf der im Juni des Jahres 1981 entstandenen Farbfotografie wiederfinde.)
ES SIND GUTE LEUTE GEWESEN, sagt die Mutter.
Die Bäuerin schlug Eier in eine Pfanne, gab ihnen ein Stück Brot dazu. Die Männer durften in der Scheune schlafen, Frauen und Kindern wurden zwei aneinandergeschobene Betten als Nachtlager angewiesen. Ob es ihnen etwas ausmache, daß in dem Bettzeug die Russen geschlafen hätten? Nein, es machte ihnen nichts aus.
Sie blieben mehrere Tage, arbeiteten auf den Feldern, wurden dafür, soweit dies möglich war, mit Nahrung belohnt.
Heinrich operierte eine Frau, die einen Abszeß im Hals hatte, mit seinem Taschenmesser. Der für den Ort zuständige