Heimatsuchen. Ilse Tielsch
hätten sie bleiben können, da der Ort ohne ärztliche Versorgung war, aber sie entschlossen sich weiterzuziehen. Ihr Gepäck ließen sie zurück. Sie gingen nach Mistelbach, übernachteten in einem Zimmer des Krankenhauses, wurden von dem für das Gebiet verantwortlichen ärztlichen Leiter nach Stronsdorf verwiesen.
Auf der Landkarte, die vor mir auf dem Schreibtisch liegt, sind die Entfernungen zwischen den an der Hauptstraße gelegenen Orten angegeben. Auch wenn ich die Möglichkeit von Abkürzungen über Feldwege in Erwägung ziehe, ist für den Weg von Ottenthal nach dem Städtchen Mistelbach eine Entfernung von rund dreißig Kilometern anzunehmen, von dort über Eichenbrunn nach Stronsdorf werden es wieder etwa fünfundzwanzig Kilometer gewesen sein. DAS ALLES ZU FUSS, sagt die Mutter.
Sie gingen hügelauf, hügelab, zwischen Feldern, an kleinen Wäldchen vorbei, an Obstbäumen, die vom Wind alle in die gleiche Richtung gezaust waren.
In Stronsdorf sei DER GANZE PLATZ VOLLER RUSSEN gewesen. Hier bleibe ich nicht, sagte Valerie.
(Der Marktplatz von Stronsdorf, auf dem die vielen russischen Soldaten gelagert haben, ist auf mehreren, im Juni 1981 entstandenen Fotografien zu sehen. Es ist ein großer, kahl wirkender, heute beinahe zur Gänze asphaltierter oder betonierter Platz, von niedrigen Häusern gesäumt, die eine Seite abgeschlossen durch einen Gasthof mit glatt verputzter Fassade, auf der anderen Seite eine Mariensäule, umgeben von Grün. Schwierig, sich vorzustellen, wie dieser heute friedlich wirkende Platz damals ausgesehen hat, nicht schwierig, die Angst nachzuempfinden, die Valerie beim Anblick der vielen russischen Soldaten überkam, ihre entschiedene Weigerung, in das heute noch unveränderte Arzthaus einzuziehen, obwohl ihr das angeboten worden ist.
Auch dieser Arzt war geflüchtet, auch die Bewohner von Stronsdorf waren ohne ärztliche Betreuung geblieben. Zwei alte Frauen, auf dem Weg zur Andacht in die wuchtige Pfarrkirche, zu der mehrere Steinstufen hinaufführen, erinnern sich: Ja, damals sei es furchtbar gewesen. Sie seien mit ihren Kindern alle UNTER DER KIRCHE gewesen. Nein, nicht möglich, das zu vergessen. Aber man habe es ja überstanden. Gott sei Dank.)
Heinrich und Valerie waren von dem ärztlichen Leiter des Mistelbacher Krankenhauses an eine bestimmte Adresse verwiesen worden, hatten das Haus gefunden, an die Tür geklopft, warteten. Endlich wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet, sie wurden nach ihren Wünschen gefragt. Heinrich nannte den Namen des Arztes in Mistelbach. Längeres Zögern, schließlich schob eine Hand die Sicherheitskette zurück, eine alte Frau öffnete die Tür, bat einzutreten, schloß sofort wieder ab, legte die Kette vor. (Man habe erkennen können, daß die Bewohner des Ortes in ständiger Angst gewesen seien.)
Sie wurden in ein Zimmer mit alten Möbeln geführt, mit Tee bewirtet, durften sich ausruhen, ein wenig schlafen, wurden dann an den Bürgermeister verwiesen, dort freundlich aufgenommen, zum Haus des Arztes gebracht. Obwohl das Haus zur Gänze eingerichtet, alles Notwendige vorhanden war, obwohl sie von der Frau des geflüchteten Arztes gebeten wurden, zu bleiben, beharrte Valerie auf ihrer Weigerung.
Hier bleibe sie nicht einen Tag länger, sagte sie.
Zurück nach Mistelbach, sagt die Mutter, sie seien an einer Schlucht vorbeigekommen, seien so erschöpft, so mutlos, traurig gewesen, daß sie nahe daran gewesen seien, in die Schlucht zu springen.
SPRINGEN WIR, soll der Vater gesagt haben. Da habe ihn Valerie an die Tochter Anni erinnert, die vielleicht noch am Leben sei. Daraufhin hätten sie einander an der Hand genommen und seien weitergegangen. Unterwegs habe ein russisches Lastauto angehalten, der Fahrer habe sie bis knapp vor Mistelbach mitgenommen. Das Lastauto habe junge Zwiebeln geladen gehabt, ihr Kleid und ihre Unterwäsche, sagt die Mutter, seien ganz grün von den Zwiebeln gewesen.
In Mistelbach habe man ihnen einen anderen Ort genannt, dessen Arzt ebenfalls geflüchtet war, sie gingen weiter bis dorthin, es waren nur wenige Kilometer, sie seien es schon so gewöhnt gewesen, zu gehen und zu gehen, im Traum, sagt die Mutter, habe sie noch ihre Füße bewegt.
Ich, Anna, suche das Dorf W. südlich von Mistelbach auf der Landkarte, in dem sie schließlich für längere Zeit geblieben sind. Die Frau eines Schusters nahm sie auf, sie lebte mit ihrer Schwiegermutter, Frau O., im gemeinsamen Haushalt, der Schuster war noch nicht wieder heimgekehrt, man hatte keine Nachricht von ihm, sein letzter Feldpostbrief war aus Rußland gekommen.
Man wies ihnen ein Zimmer zu, zwei Betten, ein kleiner Tisch, zwei Stühle, ein Heiligenbild.
Heinrich hatte sechs, mehrere Kilometer voneinander entfernt liegende Dörfer zu betreuen, er hat die Namen in seinem Notizbuch notiert.
Ich stelle mir vor, wie er, mager, mittelgroß und schwächlich, mit ständig schmerzenden Magengeschwüren, bei Tag und Nacht zu seinen Kranken unterwegs gewesen ist. Nicht einmal ein altes Fahrrad hatte er, wie er es damals am Anfang in B. besessen hatte, nur wenige Medikamente, die er aus dem Mistelbacher Krankenhaus bezog, kaum Instrumente. Mit unzureichenden Mitteln kämpfte er ununterbrochen gegen Seuchen, Infektionskrankheiten, Geschlechtskrankheiten an. STÄNDIG WAREN FLÜCHTLINGE, VERTRIEBENE AUF DEN STRASSEN UNTERWEGS!
(Flüchtlinge, Vertriebene überall, an den Straßenrändern kauernd, auf den Feldern liegend, ein Mann, der zu dieser Zeit nach Wien gegangen ist, beschreibt sie, WIE SCHAFE zusammengedrängt, oder WIE KRÄHEN auf abgemähten Getreidefeldern hockend, Hunderte, TAUSENDE Menschen, vor allem Frauen, alte Leute, Kinder, Tausende auch auf dem Überschwemmungsgebiet an der Donau bei Wien, schon im Stadtgebiet. Alte Frauen hätten sich, auf diesen Feldern und Wiesenflächen sitzend, ihre Röcke gegen den Regen über den Kopf gezogen, als wollten sie nichts mehr von all dem sehen, was um sie herum vorging, was sich ereignete. In Wien übernachteten sie in Hausfluren, irgendwo unter freiem Himmel, neunhundert Vertriebene aus der Gegend von Pilsen lagerten, nachdem sie über drei Wochen von Preßburg nach Wien zu Fuß gegangen waren, einen Tag und eine Nacht lang auf dem Wiener Heldenplatz.)
Im leerstehenden Haus des aus W. geflüchteten Arztes hatte man Vertriebene untergebracht, die an Ruhr erkrankt waren.
DU KANNST DIR DAS NICHT VORSTELLEN, sagt die Mutter, wie das ausgesehen hat, wie fürchterlich das gewesen ist. Die Kranken sind in den Zimmern auf dem Fußboden gelegen, der Kot ist über die Treppe heruntergeronnen. Viele sind gestorben. EIN WUNDER, DASS WIR NICHT KRANK GEWORDEN SIND.
An einem einzigen Tag dreißig an Typhus Erkrankte in den umliegenden Dörfern, Heinrich hat es in seinem Notizbuch aufgeschrieben. Er eilte, unterernährt, geschwächt, selbst von Schmerzen geplagt, ununterbrochen auf den Feldwegen zwischen den Dörfern hin und her. Man bezahlte ihn mit einem Löffel Schmalz, mit einem Mittagessen am Familientisch, mit einigen Kartoffeln, einem Ei.
Bilder: Ein russischer Lastwagen hält vor dem Haus des Schusters, der Lastwagen hat geschlachtete Kühe geladen, der Fahrer, ein Russe, steigt aus, klopft an die Haustür. Valerie will nicht öffnen, der Russe gibt nicht nach, klopft immer wieder, will den Doktor sprechen, verlangt ein bestimmtes Medikament.
Schließlich öffnet Valerie, sieht das Fleisch auf dem Lastwagen. Sie habe, sagt die Mutter, EINE IDEE GEHABT. Als der Russe seine Forderung nach dem Medikament wiederholt, zeigt Valerie auf den Wagen, erklärt, sie würde das Medikament geben, wenn sie dafür Fleisch bekäme.
Der Russe verlangt ein Beil, Valerie holt die große Holzhacke der Frau O., der Russe steigt auf den Wagen, hackt die Hälfte einer halben Kuh ab, wirft sie vom Wagen herunter, steigt ab, schleppt das Fleisch an Valerie vorbei in den Hausflur hinein, Valerie bezahlt mit dem gewünschten Medikament.
Sie hat Mut gehabt, immer schon, sie hat es mehrfach bewiesen.
Die alte Frau O. allerdings, sagt die Mutter, die eben, als dieser Handel vollzogen wurde, aus der Kirche kam, aus dem SEGEN, habe ihr Vorwürfe gemacht. MIT EINEM RUSSEN, habe sie gesagt, das Wort RUSSEN dabei betont, sie bringe ja das ganze Dorf in Verruf.
ABER DAS FLEISCH UND DIE SUPPE HABEN IHR GESCHMECKT, sagt die Mutter. Das Beil allerdings habe von dem Zerhacken der Knochen Scharten bekommen.
Ein andermal habe sie einem russischen Soldaten die Hand verbunden, ja, sie habe Angst gehabt, sie sei allein im Haus gewesen. Der Soldat habe sich bedankt, sei nach etwa einer Stunde wiedergekommen, habe ein seidenes, an den Enden zusammengeknotetes