Heimatsuchen. Ilse Tielsch
aus dieser gemeinsamen Heimat verjagt, entschlossen, es für immer daraus zu verstoßen.
Diesmal bestand keine Möglichkeit mehr, nach überstandenen Kriegsgreueln, nach überwundenen Schrekken, gemeinsam mit- oder wenigstens nebeneinander das verwüstete Land in Ordnung zu bringen, die Häuser neu aufzubauen, die Toten zu begraben, eine neue Ordnung zu schaffen. Nur in wenigen Fällen wurde der Versuch unternommen, jene, die schuldig waren, von den Unschuldigen zu trennen, es wurden beinahe ausnahmslos alle bestraft. Aufschreibend, wie es gewesen ist, gedenke ich, Anna, jener Ungenannten, die damals nicht billigten, was geschah. Jener Bäuerin gedenke ich, die heimlich ein Stückchen Brot, wenigstens einen Schluck Wasser reichte, jenes Bauern, der nur eine einzige Kuh besaß, diese vor einen Wagen spannte, eine Familie mit kleinen Kindern zur Grenze brachte, dafür nur geringen Lohn verlangte, weil er wußte, wie wenig denen, die er da fuhr, geblieben war.
Jenes Unbekannten gedenke ich, der das im Prager Stadion unter freiem Himmel und unter kaum zu schildernden Umständen geborene Kind einer Mutter aus B. in ein Krankenhaus brachte, wo es gepflegt wurde und überlebte. Aller jener, die Hilfe und Schutz gewährten, die im entscheidenden Augenblick rieten, das Land zu verlassen, wie das im Fall Heinrichs und Valeries gewesen ist.
(Die Statistik gibt die Zahl der EINZELWANDERER, also jener Deutschen aus den Ländern Böhmen, Mähren und Schlesien, die einzeln oder in kleinen Gruppen über die Grenze gekommen sind, allein für das Land Bayern bis zum April 1946 mit 18 000 an. Jene, die einzeln die österreichische Grenze überschritten haben, zu denen Heinrich und seine Frau Valerie gehört haben, wurden nicht gezählt.)
Wir sind mit der Mutter zur Grenze gefahren, Bernhard und ich, wir wollten der Vergangenheit begegnen und uns selbst in dieser Vergangenheit, wir wollten die Zeit zurückdrehen, wiederfinden, was sich damals begeben hat.
Die Mutter erinnert sich an Einzelheiten, und doch ist alles schon so weit weg, als ob es in einem früheren Leben gewesen wäre. So lange ist es schon her, daß wir das Haus, in dem Vater und Mutter, Heinrich und Valerie, damals, als sie über die Grenze gekommen waren, die ersten Tage verbringen durften, erst nach längerem Suchen wiederfinden. Ein alter Mann, der im Schatten eines Nußbaums auf einer Bank sitzt, weist uns den Weg, trotzdem stehen wir erst einmal längere Zeit vor einem anderen Haus, das die Mutter wiederzuerkennen glaubt. Sie beschreibt das Zimmer, in dem sie geschlafen hat, zeigt auf ein Fenster, sagt, hier sei es gewesen, bis sich herausstellt, daß sie sich irrt, daß es sich um das viel kleinere, niedrigere Nachbarhaus gehandelt hat.
Das sind gute Menschen gewesen, sagt die Mutter.
Aber ein ganz bestimmter Feldweg existiert noch, hellbraun, mit einem Stich ins Graue, er verläuft zwischen Weizen- und Rübenfeldern, zwei Fahrspuren, rechts und links, zeichnen sich ab, in der Mitte eine weichere, mit Erdstaub bedeckte Rinne. Damals waren es Spuren von eisenbeschlagenen hölzernen Wagenrädern, jetzt sind es Traktorenräder, von denen die Erde festgefahren worden ist, man merkt den Unterschied kaum, frühsommerliche Hitze hat den Boden ausgetrocknet, die harte Kruste ist von Rissen und Sprüngen wie von einem Netz überzogen. Der Weg läuft ein langes Stück geradeaus, schlängelt sich gegen den Grenzbach hin, verliert sich dann zwischen Weidenbüschen, das jedenfalls nehmen wir anfangs an, erst als wir später näher an den Bach herankommen, merken wir, daß er knapp vor dem mit Schilfbüscheln bewachsenen Ufer scharf nach links abbiegt, den Bach entlang weiterverläuft.
Ja, sagt die Mutter, hier sind wir gegangen. Sie erinnert sich, ein Irrtum ist ausgeschlossen, damals hat es genauso ausgesehen, hier hat sich nichts verändert, nur man selbst ist älter geworden, man hat seither so vieles erlebt, man ist über so viele Wege gefahren und gegangen, jetzt sieht man alles mit anderen Augen. Die Mutter streicht mit der flachen Hand über die noch grünen Weizenähren, eine fast zärtliche Bewegung, sie berührt mit ihren Fingern die Rinde eines kleinen, ruppigen Apfelbaums am Rand eines alten Straßenstücks, in das, von der Seite her, schon das Gras wuchert und das sich schließlich in einem Kartoffelfeld verliert.
Ich hab’ es so gern, wenn die Lerchen singen, sagt sie, aber jetzt, in der Hitze des Junimittags, sind keine Lerchen zu hören, kein Mensch ist weit und breit zu sehen, kein Tier, kein Ackergerät.
Damals ist es auch so heiß gewesen wie jetzt, sagt die Mutter.
Es ist keine Bitterkeit in ihrer Stimme, obwohl ihr alles wieder gegenwärtig sein muß, was sie vor nun schon mehr als fünfunddreißig Jahren erlebt hat. Der Schmerz ist abgeklungen, das Leben ist weitergegangen. Damals, im Juni 1945, ist sie zweiundvierzig Jahre alt gewesen, jetzt wird sie bald achtundsiebzig sein, der Grenzbach mit den verschilften Ufern, den Weidenbüschen hat ihr Leben in zwei beinahe gleich große Hälften geteilt, auch die zweite Hälfte hat, nach Überwindung der ersten schwierigen Jahre, ihre erfreulichen Augenblicke, ihre Lichtpunkte gehabt. Dort drüben, jenseits der Grenze, liegen Kindheit, Jugend, liegen die ersten zwanzig Jahre ihrer Ehe mit Heinrich, dem Arzt, der aus Nordmähren in die kleine Landstadt im Süden gekommen war. Sie hat glückliche Jahre erlebt, Freude, aber auch Sorgen genug, zwei Weltkriege, Hungerjahre, zuletzt noch Schrecken und Todesangst. Nein, nicht nur freundlich sind die Erinnerungen an die erste Hälfte ihres Lebens, die mit dem Durchwaten des Grenzbachs im Juni fünfundvierzig abgeschlossen war, sie ist nüchtern genug, das zuzugeben, wehrt sich überhaupt gegen die Verzeichnung der Wirklichkeit, sieht Licht und Schatten in annähernd richtigem Verhältnis zueinander, ist dankbar für die guten Jahre, die sie, nach Überwindung der ersten Not, in der zweiten Hälfte ihres Lebens noch hatte.
Wie sie da steht, auf dem Weg zwischen Weizen und jungen Rüben, sieht die Mutter nicht so aus, als ob sie von furchtbaren Erinnerungen gequält würde. Man hat den Eindruck, daß sie diesen frühen Sommertag genießt, die Sonne, die warm auf die Haut scheint, den Geruch der Kräuter am Wegrand. Erst als Bernhard sich anschickt, auf dem Weg weiter bis zu der Tafel zu gehen, deren Schrift er aus der Entfernung nicht lesen kann, die jedoch offenbar anzeigt, daß hier die Staatsgrenze verläuft, wird sie unruhig, ruft ihm zu, er möge doch stehenbleiben, umkehren, zurückkommen. Ihre Stimme klingt ängstlich, schließlich fast böse, sie beruhigt sich erst wieder, als Bernhard tatsächlich umkehrt und wieder auf uns zukommt. Der Schmerz ist abgeklungen, Schrecken und Angst jedoch blieben unvergessen.
Auf der gefalteten, an der Unterseite mit Leinengewebe beklebten Landkarte, die mir ein alter Mann vererbt hat und auf der die deutschen Ortsnamen noch verzeichnet sind, finde ich, Anna F., die kleine Landstadt südlich von Brünn, die ich mit dem Buchstaben B. bezeichnet habe, um Abstand zum Schauplatz der Kindheit zu gewinnen, zu dem Ort, der auf diese Weise jedoch nicht verschiebbar, austauschbar wird, Distanz auch zu den Bewohnern und ihren Schicksalen.
Nur in diesem scheinbar imaginären Raum ist es mir möglich, mich frei zu bewegen, mich nicht an der Realität zu stoßen, zu verletzen. Ich muß mich, was diesen Ort betrifft, abheben können von der Realität, von der Trauer, von der verletzenden und verletzbaren Wirklichkeit.
B. also, dieser in früher Geschriebenem schon geschilderte Ort, noch einmal, ehe ich ihn für immer verlasse.
B., wie es damals, in jenem früheren Leben des Paares Heinrich und Valerie, gewesen ist, wie es heute nicht mehr existiert, wie es niemals mehr sein wird. B., das Valerie, ihren Eltern, Großeltern, Urgroßeltern HEIMAT gewesen ist, das auch Heinrich, der aus dem nördlichen Teil des Landes Zugewanderte, in sein Heimatbild einbezieht, das er später EINE VERTRÄUMTE KLEINE LANDSTADT nennen wird. B., wo die einzige Tochter des Paares, Anni, geboren worden ist.
Auf alten Postkarten schieben sich Hausdächer zu einem in einen Talkessel gedrängten Häuflein zusammen, Baumkronen füllen vorhandene Zwischenräume, ein spitzer, kupfergedeckter Kirchturm mit Turmknauf und Kreuz, gotisch gewölbten Fenstern und überdachtem Laubengang ragt hoch über dem gotischen Presbyterium und dem darangeschobenen niedrigeren Dach des Kirchenschiffes, das mit glasierten Ziegeln in bunter Musterung gedeckt ist, die hellen römischen Zahlen auf den schwarzen Zifferblättern der Uhr sind deutlich erkennbar. Gegen diesen Kirchturm wirkt der ihm gegenüberliegende Turm des neugotischen Rathauses zierlich und klein.
(Auf älteren Ansichten fehlt dieser Rathausturm, die Kirchturmspitze ragt hoch über ein zwiebelförmiges Dach empor.)
B., in einem nach Südosten geöffneten Tal, nur 193 Meter über dem Meer, von Hügeln