Heimatsuchen. Ilse Tielsch
flirrenden Junimittag des Jahres 1924, den vor dem gelb gestrichenen, einsam zwischen Mais-, Rüben- und Getreidefeldern träumenden Bahnhofsgebäude haltenden Zug verließ, endlich, nach längerem Zögern, den Wunsch, auf den aus Brünn kommenden Gegenzug zu warten und in die Großstadt zurückzukehren, unterdrückte, sein altes, im Gepäckwagen des Zuges mitgebrachtes Fahrrad bestieg, schließlich in B. eintraf. Ich erinnere daran, daß er, der von einem Leben in Wien geträumt hatte, sich unter dem Zwang der Not, dieser Hungerzeit zwischen den Kriegen, entschlossen hatte, die freigewordene Stelle eines Landarztes anzunehmen, daß ihn, als er auf seinem Fahrrad in die Stadt B. einfuhr, beinahe der Mut verließ, ja daß ihn, angesichts der sich dehnenden, vor allem der mit Rüben bewachsenen Felder, der menschenleeren Gassen, des ebenso leeren Marktplatzes mit Dreifaltigkeitssäule, Sparkasse, Pfarrkirche und neugotischem Rathaus, den gegen die Sonne mit Tüchern verhängten Schaufenstern einer Bata-Filiale eine in Worten schwer zu beschreibende Melancholie überkam. Der Ausspruch eines Mannes, der von ihm damals nach dem Weg gefragt worden ist, wurde von ihm später häufig wiederholt: HIER WERDEN SIE ES NICHT AUSHALTEN, HIER IST DAS ENDE DER WELT.
(Die Erinnerung hält jedoch fest, daß Heinrich in der zweiten Hälfte seines Lebens, die mit dem Durchwaten des Grenzbaches im Juni 1945 begann, der kleinen, in die Hügel gedrängten Stadt B. immer mit Zärtlichkeit, ja mit HEIMWEH gedachte.)
Eine große Anzahl von Fotografien, im Lauf der Jahrzehnte gesammelt, von Freunden, Verwandten, Bekannten geschenkt, überlassen, in Kopien zugeschickt, zeigen, nebeneinandergelegt, die kleine Landstadt B. mit allen wichtigen Gassen, Gebäuden, Wegen, Wegkreuzen, Kapellen, mit Pfarrkirche, Rathaus, Dreifaltigkeitssäule, mit dem Trinkwasserbrunnen im unteren Teil des großen, annähernd quadratischen Platzes. Ein steinerner Poseidon hält eine Amphore auf den Schultern, Wasser plätschert in dünnem Strahl in das steingefaßte Becken, Lindenbäume umgeben ein Steinkreuz neben der Kirche, Johannes von Nepomuk steht auf seinem Postament, die Sparkasse leuchtet mit blinkenden Scheiben, hohe Baumkronen umgeben die alte Schule, Brücken überwölben den Bach, zum kleinen Lokalbahnhof führt eine von hohen Akazien und Kastanienbäumen gesäumte Allee.
Zwischen den schönen Bürgerhäusern, auf den weißen Kopfsteinen aus den Pollauer Bergen, läuft das Kind Anni hin und her, es lehnt sich aus einem Fenster, sieht die Kette der Pollauer Berge sich bläulich vom Himmel abzeichnen, das Gipfelkreuz ist deutlich erkennbar, das Kind drängt sich auf dem in eine Budenstadt verwandelten Stadtplatz zwischen feilschenden Hausfrauen und Händlern durch, steht staunend, mit offenem Mund, vor den Buden mit den Puppen, Stofftieren, Trompeten, sieht ein Äffchen an der Leine tanzen, läuft eine lange Straße entlang, die zum Böhmendorf führt, betritt den Hof der Großeltern Josef und Anna durch ein breites hölzernes Tor. Schneeweiße Gänse schnattern, Milchkannen klappern, Pferde wiehern, die Großmutter, zierlich und klein, rührt im blau gekachelten Herd in großen Kasserollen, der Großvater putzt sein Jagdgewehr, hantiert beim Bienenhaus, das Kind sitzt auf seinem Lieblingsplatz unter dem Maulbeerbaum, hält ein Stückchen blaues Glas vor sein rechtes Auge, kneift das linke Auge zu, träumt, was Kinder aus wasserarmen Gegenden manchmal träumen: DAS MEER. Nur wenig von jenen immer stärker werdenden Spannungen, die damals sogar in der stillen kleinen Landstadt B. zwischen den Einwohnern verschiedener Muttersprache bestanden haben, ist dem Kind Anni zu Bewußtsein gekommen.
(Der Chronist berichtet, daß die vorwiegend deutsche Bevölkerung zu Anfang des Jahrhunderts mit einer tschechischen Minderheit so lange in Frieden zusammenlebte, bis EINIGE HITZKÖPFE PROVOZIEREND DAS FRIEDLICHE ZUSAMMENLEBEN STÖRTEN.
Es habe für die wenigen tschechischen Familien einen Volksrat, eine Sparkasse, ein Vereinshaus gegeben. Erst anläßlich der Eröffnung einer tschechischen Schule im Jahre 1909 sei es zu Reibereien gekommen. Die Regierung habe der Minderheit Schutz gewährt, den Ausnahmezustand verhängt und verstärkten Polizeischutz geboten. Fünfunddreißig Gendarmen hätten eine Art Besatzung gebildet. Die Lage habe sich jedoch in den folgenden Jahren IMMER MEHR ANGESPANNT. Im November 1918 sei B. von einer slowakischen Brigade mit zwei Maschinengewehren besetzt worden, die Besetzung habe sich jedoch IN ALLER RUHE vollzogen. Die Bezirkshauptmannschaft, die Post, die Eisenbahnstation und das Rathaus seien besetzt, das Verbot, andere Farben als die tschechischen zu tragen, sei erlassen worden. Zum erstenmal in der Geschichte der Stadt habe es nacheinander zwei tschechische Bürgermeister gegeben. Zahlreiche tschechische Beamte und Lehrer seien in die Stadt gekommen, die Zahl der Tschechen in der Stadt habe ständig zugenommen. Die deutschen Beamten seien ihrer Posten enthoben, durch tschechische Beamte ersetzt worden.
Wirtschaftlich habe sich die Abtrennung von den ehemaligen Absatzgebieten für landwirtschaftliche Produkte, aber auch für im Gewerbe und in der Industrie hergestellte Waren, bemerkbar gemacht. Die Ziegelwerke seien geschlossen worden. Die drei Mühlen hätten mit Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt. Die kleinen Handwerksbetriebe hätten sich zwar als Bedarfsträger des dichtbesiedelten bäuerlichen Umlandes schlecht und recht durchbringen können, die Konkurrenz sei jedoch groß und ungesund gewesen. Die für landwirtschaftliche Produkte gezahlten Preise hätten kaum noch das Notwendigste eingebracht. Ganz besonders hätte der Weinbau unter den herrschenden Verhältnissen gelitten, die Zahl der Weingärten habe sich ständig verringert. Allerdings hätten nicht nur die deutschen, sondern auch die tschechischen Bauern unter der herrschenden Not zu leiden gehabt, unter der furchtbaren Arbeitslosigkeit hätten in südmährischen Industriestädten tschechische und deutsche Einwohner in gleichem Maß gelitten.
Wegen der hohen Kosten habe man erst spät mit der Elektrifizierung der Stadt beginnen können, der Bau einer Wasserleitung stellte sich als finanziell untragbar heraus, an eine Kanalisation war nicht zu denken. Einzig das Baugewerbe blühte, Schulen und Häuser für die neuen tschechischen Beamten wurden gebaut. Für das neu errichtete tschechische Gymnasium habe es zu wenige Schüler gegeben, man habe die Schüler von weither holen müssen.
Die nationalen Spannungen hätten SIEDEHITZE erreicht. Die deutschen Truppen im Herbst 1938 seien deshalb mit Jubel empfangen worden.
Sei bis dahin, seit 1918, von tschechischer Seite eine falsche, die Deutschen benachteiligende Politik betrieben worden, habe in der folgenden Zeit Hitlers Politik, die IN JEDEM SLAWEN EINEN MENSCHEN ZWEITER KLASSE gesehen habe, alle Hoffnungen zunichte gemacht.)
Heinrich, der von einem Leben in der Musik- und Theaterstadt Wien geträumt hatte, blieb in B., eröffnete eine Praxis, nahm zwei Jahre später die Bauerntochter Valerie zur Frau. Er versah seinen Dienst als praktischer Arzt mit immer gleichbleibender Geduld, machte bei seinen Patienten keinen Unterschied, was Sprache oder Religion betraf. Über die Geburt der Tochter soll er sich gefreut haben. Söhne, soll er gesagt haben, seien immer und zu allen Zeiten KANONENFUTTER gewesen.
Am 15. April 1945 wurde die kleine, in die südmährischen Hügel gedrängte Stadt B. vom Krieg überrollt.
SEI FROH, DASS DU ES NICHT ERLEBT HAST, sagt die heute alt gewordene Mutter Valerie.
Sei froh, daß du nicht dabeigewesen bist, sagen Schulfreundinnen der Tochter Anni, die es erlebt haben. ES, DAS FURCHTBARE, DAS UNBESCHREIBLICHE, das auch heute, nach dreieinhalb Jahrzehnten, immer noch nicht erzählbar geworden ist.
Diesmal war die Not mit dem Ende des Krieges nicht vorüber, wie dies in früheren Jahrhunderten meist der Fall gewesen war.
Ich möchte den Weg genau kennen, den Heinrich und Valerie, Vater und Mutter, damals am 16. Juni 1945 hinter Wundrascheks klapprigem Wägelchen gegangen sind, bitte die Mutter, ihn mir zu beschreiben, lege die alte Landkarte auf den Tisch. Auf dieser Karte sind nicht nur die Straßen, es sind auch die allerkleinsten Wege, Feldwege, Hohlwege eingezeichnet, auch die Namen der Hügel, die Bäche, die Wegkreuze, die Obstbaumalleen. Es ist eine Karte, wie man sie heute nicht mehr bekommen kann.
Die Mutter hat eine alte Freundin eingeladen, weil sie nicht sicher ist, ob sie sich noch an Einzelheiten erinnert. Zwei Stunden nach Mitternacht sind sie damals aufgebrochen, der Vater und sie, im Hof ihres Elternhauses haben noch jene drei Erwachsenen und die zwei Kinder gewartet, von denen in diesem Zusammenhang schon die Rede gewesen ist, auf Wundrascheks Wagen sind schon Gepäckstücke gelegen, sie haben ihre beiden Rucksäcke und den Koffer dazugelegt.
(Mehr haben wir nicht mehr gehabt, sagt die Mutter, mehr hat uns nicht mehr gehört.)
Sie