Heimatsuchen. Ilse Tielsch
Namen, Sonnberg, Altenberg, Stroßberg, Wechselberg, Kreuzberg, fügt die seltsamen Namen BETTLER UND LAUSER hinzu, läßt die Hügel wellig auslaufen, hat noch einen Namen für das niedrige Gebirge bewahrt, das hier in sanften Erhebungen und Mulden endet, nennt diesen Namen: DER STEINITZER WALD. Der Steinitzer Wald gehört zum Massiv des Marsgebirges, das Marsgebirge zieht sich westlich der mährischen Karpaten hin und ist durch die Furche der March von diesem getrennt.
Ein träge strömender Bach durchfließt das Tal, die Stadt, schlängelt sich zwischen Getreide-, Mais- und Rübenfeldern dem bräunlichen Gewässer des Flusses Thaya entgegen, der sich wiederum, nachdem er bei dem Dorf Muschau die vereinigten Flüsse Schwarzach oder Schwarzawa, Zwittach oder Zwittawa, Česava und Iglawa oder Igel aufgenommen hat, in Höhe des österreichischen Städtchens Hohenau in die March ergießt. Es kommt vor, daß der unscheinbare, sonst kaum beachtete Bach, nach starken Gewittern oder Wolkenbrüchen, die in der Gegend häufig sind, anschwillt, den Graben, zwischen dessen Böschungen er an heißen Sommertagen beinahe gänzlich versickert, plötzlich ausfüllt, aus seinen Ufern tritt, die Stadt überschwemmt, Brücken vernichtet, geschichtetes Holz und Ackergerät wegspült, Schweine, Rinder, Pferde, ja sogar Menschen mitreißt, die dann in seinen Fluten umkommen, ertrinken, Keller unbenützbar macht, Weinfässer wegschwemmt, Haus- und Stallmauern unterwäscht und zum Einsturz bringt. Es ist vorgekommen, daß sich die Bewohner von B. vor den Wassermassen auf Hausdächer retten mußten, daß sie gezwungen waren, ihre hölzernen Waschtröge als Fortbewegungsmittel zu benutzen. 1935 ist der Bach zum letztenmal aus den Ufern getreten, Heinrichs Tochter Anni, damals sechs Jahre alt, hat es erlebt.
Nach Brünn, nach Göding, nach Lundenburg, weiter nach Wien führten die Straßen, die B. mit der restlichen Welt verbanden, nicht immer zum Vorteil der Bewohner, die sich vor Schweden, Türken, Ungarn, vor Mongolen und Tataren, vor Preußen und vor den Söldnern der eigenen Kaiser, Könige, Herzoge, aber auch vor furchtbar hausenden Räuberbanden innerhalb ihrer Stadtmauern verstecken mußten. Sie beschossen die verschiedensten Feinde aus den Schießscharten ihrer Wehrmauern, mußten dann aber doch in den meisten Fällen nachgeben und die Tore öffnen, wurden ausgeraubt, geplündert, vergewaltigt, in Sklaverei abgeführt, Männer, Frauen, Kinder, gleich welchen Alters und welchen Geschlechts, mußten zusehen, wie ihre Häuser niedergebrannt, ihre Felder zertrampelt, ihr Hab und Gut gestohlen, ihre Ställe und Scheunen geplündert wurden, konnten sich nur selten und unter größten Opfern loskaufen, vor dem Allerärgsten retten.
Prokop der Kahle mit seinen taboritischen Horden, ungarische Kumanen nach der Schlacht bei Dürnkrut und Jedenspeigen, die Anhänger des gegen Rudolf den Zweiten rebellierenden Stephan Boczkay unter einem Fürsten namens Patschowsky, die Truppen Kaiser Rudolfs und seines Nachfolgers Matthias, Bethlen von Gabors plündernde, mordende, brandschatzende Haufen, Kaiser Ferdinands spanische Söldner, nach deren Abzug es hieß, in Mähren sei »an etlichen Orten weder Hund noch Katz zu finden, es sei alles aufgefressen«, sie alle sind diese Straßen entlanggezogen. Dreimal überfielen die Schweden unter Torstenson die kleine Stadt B., nach ihnen die Türken unter ihrem Großwesir Achmed Kiuprili. Auch jener Postmeister von Brünn, Johann Georg von Metzburg, der sich, weil er der türkischen Sprache mächtig war, als Türke verkleidet, durch die feindlichen Lager schlich, um in Wien Hilfe für seine bedrängte Stadt zu erbitten, wird durch B. gekommen sein, auch die den Türken folgenden kaiserlichen Generäle mit ihren Truppen, die einen so üblen Ruf hatten, daß sich die Einwohner der Dörfer und Städte bei ihrem Herannahen in die Wälder verkrochen, aus denen sie sich lange nicht wieder hervorwagten und von wo aus sie jenen Kometen beobachten konnten, der zu Beginn des Jahres 1664 am Himmel erschien, »in Gestalt eines gehörnten Mondes, einen langen, dreygespitzten Schweif gegen Mitternacht, zwei kleinere gegen Mittag ausstrahlend«, worauf sie das Nahen des Antichrist und den Untergang der Welt erwarteten.
Wer hat behauptet, die Schrecken vergangener Jahrhunderte seien mit jenen unserer Zeit nicht zu vergleichen? In der sehr kleinen Stadt B. erschlugen allein die Soldaten des türkischen Großwesirs mit ihren Krummsäbeln zweihundertvierundsechzig Menschen. Dreihundert Männer, Frauen und Kinder wurden als Sklaven mitgenommen, unter ihnen sollen der Bürgermeister, der Richter, mehrere Ratsherren gewesen sein. Preußische Dragoner unter Friedrich dem Zweiten, österreichische Kürassiere, Spanier, Franzosen, Napoleon. Rote Husaren während der österreichisch-preußischen Kriege, von den 1866 in B. stationierten sechstausend Soldaten der preußischen Armee sollen die Rheinländer und die Westfalen die humansten, bescheidensten und freundlichsten gewesen sein, vor den Brandenburgern, den Pommern und den Schlesiern dagegen habe man sich, wie berichtet wird, zu hüten gehabt.
(Ein von der Obrigkeit ausgesandter Zeichner ist, wie der Chronist festhält, dem Zorn der Bürger von B. nur mit knapper Not entkommen. Er hatte seine Bitte, die Stadt ABREISSEN zu dürfen, auftragsgemäß vorgebracht und war in seiner Absicht mißverstanden worden. Die dennoch im Jahre 1727 angefertigte Zeichnung dürfte von einem der Hügel aus heimlich und ohne Zustimmung des Stadtrates entstanden sein. Sie stellt die von Mauern und Friedhof umgebene Pfarrkirche mit von einer großen und einer darübergesetzten kleineren Zwiebel gekröntem Turm, die große Zwiebel von vier Türmchen gesäumt, in den weiten, von Bürgerhäusern umrandeten Marktplatz hinein, umgibt den Kranz der Häuser mit Mauern, Türmen und Toren, setzt kleinere Häusergruppen vor die Mauern der Stadt in die Felder, zieht zwei Häuserreihen einen steil ansteigenden Hügel aufwärts, weist mit zierlicher Schrift darauf hin, man habe diese, außerhalb der Mauern gelegene Siedlung DAS BÖHMENDORF genannt.
Der Schluß liegt nahe, daß die Stadt selbst zu jener Zeit ausschließlich von Deutschen bewohnt gewesen ist.)
B., ein Ort, zu dem die Gedanken immer wieder zurückkehren, den sie umkreisen. Früher als in anderen Gegenden erntete man das Getreide, die Obstbäume blühten schon im April, auf den Südhängen reifte die Mandel, die Nachtigall schlug IN TAUSEND AKKORDEN.
Der Zwang, diesen Ort nachzuzeichnen, sein sich im Lauf der Jahrhunderte änderndes Bild anhand der Aufzeichnungen von Chronisten zu verfolgen, sich mit seiner Geschichte vertraut zu machen. Lange Vergangenes mit erlebter Gegenwart, die ebenfalls schon längst Vergangenheit geworden ist, in Verbindung zu bringen, ein Ganzes entstehen zu lassen, ein möglichst vollständiges Bild des Ortes zu malen, den man schon einmal verlassen hat, dem man sich noch einmal nähern will, um sich dann endlich für immer von ihm zu entfernen.
DIESE STADT IST ALT, DENN SIE WAR SCHON IM JAHR 893 EIN HALTBARER ORT, schreibt Franz Joseph Schwoy in seiner 1793 publizierten Topographie vom Markgrafthum Mähren, das VOR DEN HUNGARN FLÜCHTIGE HEER DES MÄHRISCHEN KÖNIGS SWATOPLUK habe sich in ihre Mauern gerettet.
Die Chronik hält die erste urkundliche Erwähnung in einem von König Wenzel I. 1240 gefertigten Schreiben fest, die Erhebung zur Stadt durch Kaiser Maximilian II. 1572, erwähnt in Verbindung mit diesem Ereignis das verliehene Recht, MIT ROTEM WACHS ZU SIEGELN, was anderen Städten gegenüber, denen nur MIT GRÜNEM WACHS ZU SIEGELN erlaubt war, eine Erhöhung des Ansehens bedeutet hat. Sie beschreibt, nach Kriegs- und Notzeiten, nach Pest und Cholera, einen aufblühenden, durch große Jahr- und Wochenmärkte, vor allem durch Viehmärkte weithin berühmten Ort, Umschlagplatz für allerlei in Gewerbe und schließlich sich entwickelnder Industrie gefertigte Waren, nennt als wesentlichsten Fehler, der weiterer günstiger Aufwärtsentwicklung hinderlich gewesen sei, den Beschluß, die 1839 von Wien nach Brünn gelegte Bahnlinie nicht durch die Stadt zu führen. Man habe, heißt es, eine Beeinträchtigung der Fuhrwerksunternehmen gefürchtet, kurzsichtig auf die Chance, einen Bahnhof an der Hauptbahnlinie zu besitzen, verzichtet, ein Schaden, der durch die später gebaute Lokalbahn nicht zu beheben gewesen ist.
Denkbar, daß damals, durch diesen Mangel an Weitblick, das Schicksal von B., zur VERTRÄUMTEN KLEINEN LANDSTADT abzusinken, besiegelt worden ist, denn obwohl es noch Höhepunkte in der Entwicklung gab, Zeiten, die zur Hoffnung berechtigten, obwohl B. zum Beispiel frühzeitig eine Poststation erhielt, vorübergehend Sitz eines Divisionskommandos war, sich sogar zur Bezirksstadt emporschwang, war der Abstieg zur Bedeutungslosigkeit der verschlafenen Kleinstadt nicht aufzuhalten. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im Herbst 1938 und dem darauf folgenden Anschluß an Deutschland wurden alle wichtigen Ämter in eine Stadt verlegt, die einen Bahnhof im Stadtgebiet besaß.
Ich rufe mir schon Gesagtes ins Gedächtnis zurück, hole es herüber in diese von mir weiterzuerzählende