Heimatsuchen. Ilse Tielsch

Heimatsuchen - Ilse Tielsch


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Russen im Weingebiet, sagt die Mutter, ein Kapitel, das noch niemand geschrieben hat, das von jemandem geschrieben werden muß, der es selbst erlebt hat, der dabeigewesen ist. Die Wahrheit wird in den Geschichtsbüchern zu nüchternen Zahlen schrumpfen, NIEMAND WIRD SICH DIE WAHRHEIT, WIE SIE GEWESEN IST, VORSTELLEN KÖNNEN.

      Hin und wieder kann man davon erzählen hören, von den Einheimischen, die sich daran erinnern. Wie die Soldaten zum Beispiel in die Weinkeller eingedrungen sind, in die Fässer geschossen haben, dann bis zu den Knöcheln im Wein gestanden sind. Wie sie, berauscht von diesem Wein, alles, was Röcke getragen hat, aus Häusern, Kellern, Verstecken gezerrt haben. Wie sie nachts an die Haustore geschlagen, nach Frauen gerufen haben, wie die Frauen aus den Betten gesprungen, über die Höfe geschlichen, durch Zaunlücken geschlüpft sind, wie sie tagelang hinter Dachbalken gehockt sind, vor die man altes Gerümpel geschoben hatte, oder in leeren Selchkammern oder in Heuhaufen, manche sind von ihren Angehörigen sogar in Misthaufen vergraben worden, wie sie nicht zu atmen gewagt haben, wenn sie fremde Stimmen hörten, wenn sich etwas in ihrer Nähe bewegt hat. Wie nachts, heimlich, jemand von den Verwandten gekommen ist, Essen und Getränk gebracht, den Kübel ausgeleert hat. Das erzählen die Frauen manchmal, in kurzen, abgerissenen Sätzen, sie wollen nicht daran erinnert werden, nicht daran, wie sie zu den Ärzten und in die Spitäler gegangen sind, weil sie sich gefürchtet haben, angesteckt zu sein, was auch viele gewesen sind, wie sie ungewünschte Kinder abgetrieben haben, vor denen sie sich ekelten, die sie nicht zur Welt bringen wollten, wie sie NICHT MEHR WEITERLEBEN wollten, dann doch weitergelebt haben.

      Wenn sie erzählen, schildern sie ihre Verstecke, berichten, was ihnen selbst widerfahren ist, in der dritten Person, versichern meist ungefragt, sie selbst seien von all dem nicht betroffen gewesen, ihnen sei nichts geschehen.

      Uhren hätten sie gesammelt, die Russen, GANZ WILD seien sie auf Uhren gewesen. Manche hätten den ganzen Arm voller Uhren gehabt, vom Handgelenk bis zum Ellenbogen hinauf.

      Zum Beispiel seien Russen einmal in ein Spital eingedrungen, hätten den Leuten die Uhren weggenommen, der letzte, ein ganz junger Bursche, der keine Uhr mehr erbeutet hatte, habe vor Zorn und Enttäuschung geweint. (Uhrenwitze werden erzählt: Wie ein Russe mit einem Wecker zu einem Uhrmacher kommt, ihn bittet, aus dem Wecker zwei kleinere Uhren zu machen.)

      Und die Fahrräder, ja, wenn ein Russe jemanden mit einem Fahrrad auf der Straße gesehen habe, dann habe er es ihm sofort weggenommen. Obwohl sie angeblich meist gar nicht radfahren konnten. Defekte Räder hätten sie einfach weggeworfen. Überall an den Straßenrändern seien kaputte Fahrräder gelegen.

      Man kann aber auch anderes hören, zum Beispiel, wie Russen plötzlich in einer Küche standen, der zitternden Hausfrau Hühner überreichten, sie aufforderten, Suppe zu kochen. Wie sie dann, wenn die Suppe fertig war, die Hausbewohner zum Mitessen aufforderten, die Hausfrau MAMA oder Mamitschka nannten, Kinder streichelten, von ihren eigenen Frauen, Müttern, Kindern erzählten, jedenfalls zu erzählen versuchten. Wie sie, wenn man ihnen einen kleinen Dienst erwies, etwa einen im Straßenkot festgefahrenen Wagen anschob, bereitwillig in die Hosentasche griffen, in Zeitungspapier gewickelten Tabak hervorholten, davon an die Männer verteilten. Wie sie ihre Lastwagen anhielten, wenn Fußgänger auf der Straße winkten, diese Fußgänger auf ihre Wagen aufsteigen ließen, dafür keinerlei Lohn verlangten, während die österreichischen Chauffeure meist Lebensmittel, Brot, Speck oder hohe Geldbeträge forderten. (Beschwerden dieser Art sind in Lokalblättern nachzulesen. So beklagt sich zum Beispiel ein Leser in einer Waldviertler Zeitung darüber, daß er IN DIESER ZEIT DER ZUGSBESCHRÄNKUNGEN gezwungen gewesen sei, auf der Landstraße Autos anzuhalten, um zu einer dringenden Konferenz nach Wien zu kommen. In St. Pölten sei ein russischer Posten gestanden, mit dem Auftrag, DEN VERKEHR DAHIN ZU REGELN, DASS AUTOS, DIE WENIGER BELADEN SIND, PASSAGIERE MITNEHMEN MÜSSEN.

      Die Autofahrer, die sich auf diese Weise um den schon üblichen Fuhrlohn geprellt sahen, debattierten lange mit diesem Posten, dieser ließ sich jedoch nicht überreden, auch in seinem Fall, schreibt der Mann, sei es so gewesen, der Posten habe den Chauffeur eines Wagens gezwungen, ihn und noch andere Wartende auf seinen Lastwagen aufsteigen zu lassen. KURZ WAR ABER DIE FREUDE, DENN DER MANN SCHÜTTELTE UNS ALLE BEI KAPELLN AUF OFFENER LANDSTRASSE WIEDER AB. Er sei mit den anderen auf der Landstraße gestanden, auch Kinder seien dabeigewesen, ein Russenauto habe sie schließlich mitgenommen.)

      Der Dechant von Poysdorf erzählt, wie in einer stürmischen Nacht im Spätfrühling 1945 an das Tor des Pfarrhauses geschlagen worden sei, wie er erschrokken gelaufen sei, um zu öffnen. (Poysdorf, der an der Grenze gelegene Weinort, sei mit Flüchtlingen überfüllt gewesen. Keine Kammer, kein Winkel, keine Scheune, die nicht mit Flüchtlingen VOLLGESTOPFT gewesen wären.) Draußen sei ein Russe gestanden, eine greise Frau auf dem Rücken. Etwa eine Stunde später sei er noch einmal gekommen, habe eine zweite alte Frau gebracht. Keuchend unter der Last sei er vor dem Tor des Pfarrhauses gestanden, habe nur abgewinkt, als man ihm danken wollte.

      ER WAR EIN EINFACHER MANN, schreibt der Pfarrer, ER VERSTAND NICHT, DASS MAN IHM FÜR DIE HILFE DANKEN WOLLTE.

      MAN MUSS IMMER DEN EINZELNEN MENSCHEN SEHEN, sagt die Mutter, immer und überall kommt es auf den einzelnen Menschen an.

      Ein Eßlöffel Schmalz, ein paar Deka Mehl, ein seidenes Trachtentuch, das mit Zucker gefüllt war, einige Kartoffeln, die Heinrich heimbrachte. Wenn Valerie, nach langem Anstellen, jene Lebensmittel, die in den Zeitungen aufgerufen worden waren, ihre fünf Deka Kaffee-Ersatz, ihr Viertelkilo Brot, ihr winziges Stückchen Butter oder Fett in der Tasche hatte, wenn diese Butter nicht durch KERNFETT ersetzt worden war, dann bedeutete dies einen Anlaß zur Freude. Neunhundert Kalorien pro Tag und Normalverbraucher, das war zum Leben zuwenig, zum Sterben in manchen Fällen nicht zuviel. Kinder und alte Leute fielen auf den Straßen vor Schwäche um, eine ungewöhnlich starke Fliegenplage trug zur Verbreitung der Seuchen bei, in den Spitälern gab es zu wenige Betten, auch die als Notspitäler eingerichteten Baracken und Schulen reichten nicht aus, es gab zu wenige Krankenwagen, einige standen ohne Reifen in Schuppen, die Reifen waren gestohlen worden, neue Reifen waren nicht aufzutreiben. Am 22. August wurde die UNRRA-Hilfe für Österreich beschlossen. Untertänig und herzlich bedankte sich die österreichische Regierung. Schon in normalen Friedenszeiten, schrieben die Zeitungen, sei Österreich außerstande gewesen, sich selbst zu ernähren, geschweige denn nach den Zerstörungen und Verwüstungen des Krieges.

      (Fast ein Jahr später, am 23. Juni 1946, würde sich der Bürgermeister der Stadt Wien trotzdem mit dem Hilferuf WIR KÖNNEN NICHT WEITER! an die UNRRA wenden müssen.)

      Die Erinnerung hat festgehalten, daß in der kleinen Stadt B., die von Heinrich wiederholt EINE VERTRÄUMTE KLEINE LANDSTADT genannt worden ist, das trotz der vorgeschriebenen Ablieferung in großen Mengen vorhandene Obst, Kirschen, Marillen, Pfirsiche, an Besucher aus der nahen Stadt Wien verschenkt, in vielen Fällen jedoch auch verkauft worden ist. Was den Verkauf von Gänsen angeht, die es, vor allem in den umliegenden Dörfern, immer noch gab, hat die Erinnerung sogar Zahlen anzubieten: hundert bis hundertfünfzig Reichsmark für eine Gans, es kann auch mehr gewesen sein.

      Jetzt galten andere Preise.

      Ein paar Eier und ein halber Sack Kartoffeln für ein Klavier, sagt Bernhard, in einem burgenländischen Dorf, er sei selbst dabeigewesen, als der Handel vollzogen wurde. Ein STINGL-FLÜGEL, sagt er, und in der Familie des Bauern, der ihn eingehandelt hatte, hätte kein Familienmitglied jemals vorher die Tasten eines Klaviers AUCH NUR VON WEITEM gesehen.

      Pelzmäntel für einen Sack Kartoffeln, glücklich, wer Stoffe, Pullover, Strickwesten anzubieten hatte, wem die Bomben während der allerletzten Kriegsmonate nicht noch die Kristallschüssel, die Teekanne aus Meißen, das kostbare Speiseservice zertrümmert hatten. Glücklich, wer noch besaß, was von einigem Wert war, Kleider, Schuhe, Seidenstrümpfe, den Sonntagsanzug des gefallenen Bruders, Ehemannes, die goldene Taschenuhr des Vaters, die eigene Firmungsuhr.

      Strafandrohungen, Aufrufe an die Bevölkerung, sich diszipliniert zu verhalten, der Beschluß, Schieber und Schwarzhändler mit astronomischen Geldstrafen, sogar mit Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren zu ahnden, ihre Namen öffentlich in den Zeitungen zu nennen, anzuprangern, Straßenkontrollen. Gegen den furchtbaren, Gesundheit und Leben bedrohenden Hunger nützte dies alles nichts.

      Bernhard


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