Heimatsuchen. Ilse Tielsch
sie alles eintauschten, was tauschbar gewesen sei. Einmal sei auch seine Tante Gusti mitgefahren, sie hätten alles mitgenommen, was daheim an entbehrlichen Wollsachen zu finden gewesen sei, sie hätten dafür einen Korb Marillen, Kartoffeln, sogar zwei Gänse eingehandelt. Wie die Tante Gusti auf der Rückfahrt (hundert Kilometer hin, noch einmal hundert zurück!) vor Müdigkeit beinahe vom Fahrrad gefallen sei, wie sie, knapp vor der Stadtgrenze, von einer Polizeistreife angehalten worden seien, wie man ihnen alles wieder weggenommen habe. Die Tante habe nicht aufhören können, vor Zorn und Enttäuschung zu weinen.
Was man für Feuersteine alles bekommen hat.
Wie kostbar eine einzige Rasierklinge gewesen ist.
Und Salz habe es auch keines gegeben.
DER GOLDENE WESTEN, sagten die Leute, wenn sie von den amerikanisch besetzten Bundesländern, vor allem von Oberösterreich, sprachen. Dort gab es zum Beispiel Salz genug, lange Verhandlungen mit den Besatzungsmächten waren nötig, um die Bewilligung zu erhalten, in gewissen Abständen einen SALZZUG nach Wien bringen zu dürfen. Immer wieder wurden die Bauern ermahnt, die landwirtschaftlichen Produkte ordnungsgemäß abzuliefern.
JEDER LITER MILCH MUSS IN DIE MOLKEREI.
Selbst die Kaiserin Maria Theresia wurde zitiert: IN DER PFLICHTERFÜLLUNG LIEGT DAS GLÜCK!
SCHÖNE STARKE EICHEN SIND GEGEN SCHWEINDL EINZUTAUSCHEN, las Valerie in der Lokalzeitung, einem dünnen Blättchen, das in der Hauptsache aus Tauschanzeigen bestand, sie hoffte, unter den eingeschobenen Suchmeldungen den Namen eines ihrer vermißten Angehörigen zu entdecken. GEBE EHEBETTEN FÜR GUTE HERRENSTOFFHOSE, TAUSCHE SPRUNGEBER GEGEN STEIRERWAGERL.
Man bot Wein für Kleeheu, Kinderwagen für Hobelbänke, eine Melkkuh für ein Ackerpferd, das den Pflug über die verwüsteten Felder ziehen konnte. Die Gemeinde Pullendorf suchte ihre während der Kriegshandlungen abhanden gekommene Feuerspritze.
Valerie hatte nichts, was eintauschbar gewesen wäre, in zwei Rucksäcken und einem Koffer hat nichts Überflüssiges Platz, sie besaß keine Schweine oder Ackerpferde, sie brauchte kein Eichenholz. Aber wäre es nicht möglich gewesen, daß jemand, der über den Aufenthaltsort ihrer Tochter, ihres verschollenen Schwagers Richard, über den Fluchtweg anderer naher Verwandter, Bekannter, Freunde Bescheid geben konnte, auf dem Weg über den Annoncenteil einer Zeitung nach ihr und Heinrich suchte? In solchen Zeiten klammert man sich an Strohhalme, sagt die Mutter.
Zur Pflichterfüllung im Sinne Maria Theresias mußte Heinrich nicht ermahnt werden, er tat in jenen Monaten mehr, als seine Pflicht gewesen wäre. Ob das den Leuten, die er betreute, wenn sie ihn brauchten, aufgefallen ist?
Eines Tages gab es für die Bewohner von W. Sonderrationen an Zucker, irgendwo war ein Lagerraum entdeckt worden, man brach ihn auf, der Zucker wurde verteilt. Als Valerie sich auch etwas davon holen wollte, schickte man sie mit der Bemerkung weg, für Flüchtlinge gäbe es nichts. Valerie kam weinend nach Hause.
Ein andermal, als in einer Nachbargemeinde Kirtag gefeiert wurde, lud ein Patient den Doktor und seine Frau zum Essen ein, bewirtete sie und blies zum Dank für sie auf seiner Trompete. Heinrich schrieb in sein Notizbuch: DER HAUSHERR GAB FÜR UNS EIN TROMPETENKONZERT! Auch damals hat Valerie geweint.
Schwere Zeiten für alle, die es nicht verstanden, Kapital aus der Not zu schlagen. Sehr schwere Zeiten für Heinrich und Valerie.
IRGENDWIE HABEN WIR UNS DURCHGEBRACHT.
Ihr größter Kummer sei es gewesen, daß sie nicht wußten, ob ihr einziges Kind, die Tochter Anni, am Leben geblieben sei.
3
Es scheint notwendig, die Spur der knapp vor dem Ende des Krieges eben sechzehn Jahre alt gewordenen Anni zu verfolgen, die in B. bleiben, in einem Keller über die erste, turbulente Zeit des zu erwartenden Fronteinbruchs, des erhofften und zugleich gefürchteten Kriegsendes versteckt werden sollte, mit dieser Entscheidung ihrer Eltern einverstanden war, die dann aber doch, im April, in einen der allerletzten, mit Menschen vollgestopften, mit Menschen behangenen, nach Westen fahrenden Züge gepreßt, ins Ungewisse, das Rettung, aber auch Tod bedeuten konnte, davongefahren ist.
Christian, der Freund, zwei Jahre älter als Anni und schon Soldat, hatte darauf bestanden, daß man sie wegschickte. Die Erinnerung hat Bilder aus diesen Tagen bewahrt, sie stellt Christian wieder an die Tür, die in Heinrichs und Valeries Wohnzimmer führt, läßt aus dem Radioapparat Wehrmachtsberichte und Sondermeldungen tönen, läßt Christian aufgeregt auf Heinrich und Valerie einreden, die ihn ratlos anstarren. Sie läßt die blassen Lichtkreise zweier vorschriftsmäßig abgedunkelter Fahrradlampen sich auf dem Granitsteinpflaster der Straße berühren, überschneiden, wieder voneinander entfernen. Christian und Anni sind auf ihren Fahrrädern zum mehrere Kilometer weit außerhalb der Stadt entfernten Bahnhof unterwegs. Dieses Bild der beiden blassen Lichtkreise auf dem Straßenpflaster hat das Gedächtnis festgehalten, während es den eigentlichen Zweck dieser Fahrt nicht mehr preisgibt. Sicher ist, daß sie im Zusammenhang mit Annis nun beschlossener und bevorstehender Abreise unternommen worden ist.
Einzeln, wie Szenenausschnitte aus einem Theaterstück, lassen sich diese Bilder beschwören, wie übriggebliebene Teile eines zerrissenen Films, was dazwischen geschah, ist verlorengegangen.
Anni und Christian sitzen im Zug, sie fahren aus der Kreisstadt zurück nach B. oder vielmehr zum Hauptbahnhof von B., wo sie ihre Fahrräder wieder vorfinden und auf ihnen in die Stadt zurückkehren werden. Wahrscheinlich hat Anni bei einem der zuständigen Ämter gegen Vorweis einer von Heinrich besorgten Dringlichkeitsbescheinigung eine Fahrkarte, jedenfalls die Bewilligung, eine solche zu erwerben, abgeholt, Christian hat sie auf diesem Weg begleitet. Man weiß nicht, ob später gemeinsame Wege noch möglich sein werden, ob man einander lebend wiedersehen wird. (Immer noch rollten DIE RÄDER FÜR DEN SIEG, an den niemand mehr glaubte. Reisebewilligungen wurden nur gegen den Nachweis äußerster Dringlichkeit ausgegeben.)
Der Zug ist vorschriftsmäßig abgedunkelt, das Abteil ist voll besetzt, aber stockfinster. Am Himmel steht kein Mond, schwarze Papierrouleaus sind vor die Fenster gezogen.
Ein Volksgenosse tappt im Dunkeln nach Annis Knie, Anni schlägt mit der Faust auf die tappende Hand, der Schlag ist deutlich zu hören, der Mann gibt einen knurrenden Laut von sich. Anni berichtet Christian empört, was geschehen ist, jemand kichert schadenfroh, die anderen schweigen.
DIESES SCHWEIN, sagt Christian laut.
Bilder: Anni, am Abend vor der Abreise, packt Koffer und Rucksack, steckt rasch noch einen kleinen Teddybären ein, läßt die von der Mutter vorbereiteten Schulzeugnisse liegen, ordnet Bücher auf einem Regal, als würde das Zimmer ausgespart bleiben aus allem, was sich in den nächsten Tagen ereignen wird. Sie nimmt eine kleine Umhängetasche aus Trachtenstoff aus einer Lade, sucht Fotoalben hervor, reißt Fotos von den Seiten ab, steckt die Fotos in die Umhängetasche, sitzt dann noch spät mit den Eltern beim Radio, hört noch einmal das Lied LILI MARLEEN.
Der Abschied von den Freunden am nächsten Tag, Abschied von Christian, rascher Abschied von den Eltern am Bahnhof, es ist nicht die Zeit für langes Abschiednehmen, man ist bemüht, keine Gefühle zu zeigen, obwohl oder gerade deshalb, weil man weiß, was diese Abschiede bedeuten können. Es ist möglich, daß man mit dem Leben davonkommt, es kann aber auch sein, daß man einander niemals mehr wiedersehen wird. Die Tränen kommen später, als Anni, zwischen andere, Fremde gepfercht, auf der Toilette eines Eisenbahnwaggons steht. Ihren Koffer hat sie an die Wand der Toilette geschoben, den Rucksack hat sie zwischen den Beinen, die Umhängetasche hängt über ihrer Schulter. Auf der Klosettmuschel sitzt, auf einem über die Muschel gelegten Koffer, eine junge blonde Frau mit einem Säugling im Arm.
So steht Anni viele Stunden lang. Wie lange diese Fahrt, oder ihr erster Teil, gedauert hat, ist nicht mehr rekonstruierbar, der Film ist nur noch in winzigen Teilen vorhanden, Tage und Nächte fließen ineinander, nur Augenblicke sind geblieben, die sich aus dem Dunkel der vergangenen Jahre heraufholen lassen.
Soldaten sind im Waggon, junge Männer, die noch am Leben sind, es vielleicht nicht mehr lange sein werden. Irgendwann muß die Toilette