Heimatsuchen. Ilse Tielsch
Soldaten aus der Toilette gezogen, auf einen Sitzplatz gedrückt. Koffer und Rucksack sind in der Toilette geblieben, die Umhängetasche hängt an einem Haken neben dem Fenster, es ist kalt im Waggon, der Soldat schlägt die eine Hälfte seines Uniformmantels um Anni, die andere um seine eigenen Schultern. Anni sitzt mit dem Soldaten unter einem Zelt aus grobem Uniformstoff, sie sitzt eng an den Soldaten gepreßt, sie spürt Wärme, sie ist todmüde, es ist ihr gleichgültig, wer das ist, der sie an sich drückt, seinen Körper an ihren preßt, wer das ist, der ihr Wärme gibt, weil er selbst Wärme nötig hat, sie ist fast bewußtlos vor Müdigkeit, fällt in traumlosen Schlaf, aus dem sie emporschreckt, als der Zug auf offener Strecke hält, alles aus dem Waggon drängt, über Gepäckstücke stolpert, aus den Fenstern springt, sich in Buschwerk flüchtet, in Gräben oder an die flache Erde drückt.
Anni liegt auf einem Acker, Hände und Gesicht auf die klebrige Erde gedrückt, Flugzeuge dröhnen über sie hinweg, Schüsse peitschen, Geschosse schlagen ein. Der Soldat, neben dem sie Minuten vorher gesessen ist, kommt nicht zurück in den Waggon, sein Militärmantel liegt zusammengeknüllt auf dem Sitzplatz, der jedoch nicht leerbleibt, sofort wieder besetzt wird. Die Lücke hat sich geschlossen, der fehlende Mann wird nicht vermißt, oder sein Fehlen wird schweigend zur Kenntnis genommen. Annis Umhängetasche hängt noch am Haken, wird ihr jedoch irgendwann während dieser Fahrt gestohlen werden.
Das nächste Bild, zu dem es keine Überleitung gibt, setzt Anni und die Frau mit dem Säugling auf je einen Küchenstuhl, am Herd dieser Küche steht eine Frau, hantiert mit Kochgerät, wärmt Milch für den Säugling auf, kein Satz, kein von der Frau gesprochenes Wort ist im Gedächtnis haftengeblieben, erst später wird Anni wissen, daß die Frau Tschechin gewesen ist. Die junge Mutter mit dem Säugling ist von einem SS-Mann begleitet worden, der SS-Mann steht, an das Fensterbrett gelehnt, spielt wie zufällig mit seiner Pistole, blickt dabei ununterbrochen nach der Frau beim Küchenherd hin.
Erinnerungssplitter: Der SS-Mann ist sehr jung, die Frau am Herd ist alt gewesen, die Szene hat sich in Budweis abgespielt. Wie Anni in diese Küche, wie sie von dort wieder zum Bahnhof gekommen ist, wann der Zug von diesem Bahnhof wieder abgefahren ist, kann heute niemand mehr sagen, es gibt keine noch lebenden Zeugen dafür, zu denen ich, Anna, Verbindung hätte.
Der Zug, von Budweis nach Süden fahrend, behängt, beladen mit Menschen, immer mehr Menschen haben sich an den Trittbrettern festgebunden, sitzen auf den Puffern zwischen den Waggons, liegen auf den Dächern, klammern sich am Rand dieser Dächer feststehen, sitzen, hocken aneinandergedrängt im Inneren der Wagen, halten sich an Gepäckstücken, aber auch aneinander an. Niemand steigt unterwegs aus, immer noch versuchen weitere Menschen mit Bündeln, Rucksäcken, Koffern, in diesen hoffnungslos überfüllten Zug hineinzukommen. Mütter heben ihre Kleinkinder zu den Fenstern hoch, niemand ist in der Lage, ihnen zu helfen. Irgendwann sind die Soldaten nicht mehr im Zug, es sind die einzigen Fahrgäste, die unterwegs verschwunden, irgendwo ausgestiegen, verlorengegangen sind. In Linz an der Donau ist dann die Fahrt zu Ende, der Zug spuckt die Menschenmassen mit ihren Bündeln und Koffern aus.
Ein Zettel ist erhalten geblieben, ein vielfach gefaltetes, schon vergilbtes Stückchen Papier, das die Sechzehnjährige in einem um den Hals gebundenen Beutel auf dieser Fahrt bei sich getragen hat. Auf diesen Zettel hat Heinrich eine größere Anzahl von Namen und Adressen geschrieben, Leute, die er irgendwann näher kennengelernt hat, mit denen er im Briefwechsel gestanden ist, Verwandte, Freunde, Gastwirte, bei denen er mit Valerie während der spärlichen Urlaubswochen gewohnt hat. Daß diese Anschriften über niederösterreichische Kleinstädte, die Orte Furthof und Hohenberg, von Leoben bis Bad Goisern, von Passau bis Wien reichten, daß sogar eine Pariser Adresse darunter war, beweist, wie unmöglich die Berechnung von Annis Reiseroute gewesen ist. Irgendwo würde sie ankommen, irgendwo würde sie hoffentlich bleiben dürfen, würde man die Tochter aufnehmen, eine Zeitlang behalten, so hofften Heinrich und Valerie. Sie hätten, wäre das Kind eines Freundes oder Bekannten in ähnlicher Situation zu ihnen gekommen, das gleiche getan.
In einem Ausschnitt des Erinnerungsfilms sitzt Anni auf ihrem Rucksack auf dem Bahnhof in Linz an der Donau, der noch nicht durch jenen allerletzten, schwersten Bombenangriff des Zweiten Weltkriegs auf diese Stadt zerstört worden ist. Sie studiert den vom Vater mitgegebenen Zettel, findet den nächstgelegenen möglichen Zufluchtsort auf der Strecke Linz-Liezen, beschließt, sich versuchsweise dorthin zu wenden.
Sie besteigt wieder einen überfüllten Zug, erreicht den auf der Liste des Vaters rot unterstrichenen Ort, verläßt den Zug mangels anderer Gelegenheit durch das Fenster, ihr Gepäck wird ihr, ebenfalls auf diesem Wege, nachgereicht. Ihre Entscheidung ist eine gute Entscheidung gewesen. Die Adresse bezeichnet einen einsam gelegenen Vierkanthof, die Bäuerin, Witwe nach einem Verwandten der Mutter Valerie, nimmt Anni bei sich auf.
Erinnerungsreste, aneinandergereiht, ergeben ein Filmstück, das, rasch ablaufend, das Wesentliche aus dem Leben von Heinrichs und Valeries Tochter während der folgenden Monate erkennen läßt.
Anni, auf der Flucht vor amerikanischen Besatzungssoldaten, die das Kriegsende feiern, bei der Arbeit auf den Hof umgebenden Wiesen, Heu wendend, Ochsen treibend, Milchkannen schleppend, am ganzen Körper, vor allem an den Händen und Füßen, von ständig eiternden Wunden bedeckt, deren Narben lange sichtbar bleiben werden. Anni, papierdünne Scheiben vom schmalen Segment eines Brotlaibs schneidend, das sie wöchentlich zugeteilt bekommt, mehlige, bitter schmeckende Mostbirnen sind zusätzliche Nahrung gewesen.
Dann kommt eine Stelle, an welcher der Film angehalten werden muß, oder an welcher er von selbst anhält, weil das Gedächtnis den Schrecken festgehalten hat, der mit dem aufgezeichneten Augenblick verbunden gewesen ist. Ein Mann nähert sich dem Hof, betritt das Wohnhaus, sitzt in der Wohnstube neben dem Kachelofen auf einer mit gestickten Polstern belegten Bank, sagt, er habe B. BRENNEN sehen, er sei dabeigewesen, wie Annis Vater, Heinrich, GEFALLEN sei. Auch ihre Mutter sei nicht mehr am Leben. Kaum jemandem von der Bevölkerung könne die Flucht aus der brennenden Stadt gelungen sein. Er selbst sei wie durch ein Wunder davongekommen, von den in der Stadt Gebliebenen habe vermutlich niemand überlebt. (Später wird sich niemand finden, der sagen kann, wer dieser Mann gewesen ist. Ein Sadist, ein Irrsinniger, einer, der geträumt hat, was er nun als Realität weitergab, einer, der von anderen gehört hatte, was diese von anderen gehört hatten, der dieses vielleicht von Mund zu Mund immer schrecklicher Weitererzählte, in immer grelleren Farben Gemalte nun als sein eigenes Erlebnis wiedergab? Einer, der beauftragt worden war, Heinrichs Tochter zu ängstigen, ein Gespenst? Wie und wann und vor allem von wem hat der Mann von Annis Aufenthalt auf dem einsam gelegenen oberösterreichischen Bauernhof erfahren, wenn Anni selbst erst auf dem Bahnhof in Linz an der Donau auf die Idee gekommen ist, dort um Unterkunft zu bitten? Züge verkehrten kaum, Post wurde nicht befördert, Zeitungen waren seit dem Ende des Krieges noch nicht gedruckt worden, Botschaften wurden weitergesagt, gingen von Mund zu Mund, bis sie, in besonders günstigen Fällen, endlich ihre Adresse erreichten. Eine Möglichkeit, zu überprüfen, was der Mann erzählt hatte, gab es nicht. Man hatte die Wahl: zu glauben oder nicht zu glauben. Aber welche Veranlassung hätte Anni gehabt, zu bezweifeln, daß sich tatsächlich ereignet hat, was ihr erzählt worden ist?)
Die Stube mit dem Tisch, den Stühlen, der Eckbank aus Lärchenholz, mit dem bemalten Bauernschrank neben der Kammertür, mit Heiligenbild, hölzernem Herrgott am hölzernen Kreuz, mit den auf einer holzgerahmten Fotografie pyramidenförmig übereinandergeschichteten Mitgliedern eines Turnvereins, die kleinen, durch Gitter gesicherten, nach außen sich verjüngenden Fensteröffnungen, der Sonnenfleck auf der weiß gekalkten Wand, die gestickten Sprüche auf den Polstern, der grünweiß geflammte Milchkrug auf dem Regal, das Reh- und das Hirschgeweih, all das mit den Augen Erfaßbare ist eingeflossen in jenen Moment des Schreckens, es taucht in der Erinnerung an ihn, mit ihm, wieder auf.
Der Mann, der auf der mit bestickten Polstern belegten Bank neben dem Kachelofen gesessen ist, war mittelgroß, glatzköpfig, untersetzt. Auch er läßt sich aus der Vergangenheit heraufholen, sein gedrungener Körper, sein Rundschädel, seine Arme und sogar seine kurzen, stämmigen Beine, aber nicht seine Stimme, auch nicht sein Gesicht. Wo sein Gesicht sein müßte, ist ein leerer Fleck, Augen, Nase, Mundform sind nicht einmal angedeutet.
Obwohl wahrscheinlich ein Name genannt worden ist, ist kein Name im Gedächtnis, auch nicht im Gedächtnis