Heimatsuchen. Ilse Tielsch

Heimatsuchen - Ilse Tielsch


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mitgenommen werden.

      Diesmal wurde auch nicht mit einem Sonntagsanzug oder mit einer goldenen Uhr bezahlt, Josef hatte vier Doppelzentner Kleesamen auf einem Schüttboden, die Russen hatten diesen Schüttboden nicht aufgebrochen, Josef gab Wundraschek die Schlüssel mit der Bemerkung, wenn er von der Fahrt zur Grenze zurückkäme, solle er sich den Kleesamen holen.

      DER WUNDRASCHEK HAT SICH ABER GLEICH, NOCH VOR DEM WEGFAHREN, DEN KLEESAMEN GEHOLT.

      Sie packten einiges von dem, was sie unterwegs brauchen würden, auf den Wagen. Hatten sie die Hoffnung gehabt, wieder zurückkehren zu dürfen? Sie hätten zum Beispiel, sagt Hedwig, schöne neue Federpolster gehabt, die neuen Hausbewohner hätten ihnen auch erlaubt, diese mitzunehmen, aber ihre Mutter habe darauf bestanden, nur die alten, schon recht schäbigen Polster und Tuchenten einzupacken. (Sie hat sich dabei ähnlich verhalten wie Heinrich, der, als er wegging, seinen neuen Filzhut an den Haken zurückhängte und mit seinem alten, schon schäbigen Hut auf dem Kopf weggegangen ist.) Was sie noch mitgenommen hätten? Heidi, damals sieben Jahre alt, erinnert sich an ihre kleine Puppennähmaschine, die sie zu Weihnachten bekommen hatte und die ihr sehr lieb gewesen ist. Josef seien die Federbetten wichtig gewesen. Hedwig nahm vor allem mit, was für die Kinder unterwegs nötig sein würde, Anna brachte eine kleine Schmalztonne, sie hatte über das Schmalz gekochte Bohnen gegeben, das Schmalz auf diese Weise unter den Bohnen versteckt. (Auch einen Topf und eine große Kasserolle, EIN KASTROLL, sagt Hedwig heute noch, wie man damals in B. gesagt hat, hätten sie auf die gleiche Weise mit Schmalz und darübergegossenen Bohnen gefüllt.) Wäsche hatten sie nicht mehr viel, die hätten schon die Russen aus den Schränken genommen.

      Der Wagen (es sei ja nur ein kleines STEIRERWAGERL gewesen) war mit den Federn, den Töpfen, dem bißchen Kleidung und mit den Kindern ohnedies schon fast überladen.

      Hedwig zog Valeries Mantel mit dem Innenfell an, ihre Schwester hatte ihn bei ihr zurückgelassen und sie gebeten, ihn, wenn sie über die Grenze gingen, mitzubringen. In die eine Manteltasche steckte sie, was ihr heute merkwürdig erscheint, einen Wecker, in die andere das bißchen Schmuck, das ihr geblieben war. Dann gingen sie, wie schon viele vor ihnen gegangen waren, wie noch viele nach ihnen gehen sollten, die Straße entlang, von ihrem Hof weg, in die Richtung, in welcher der Bahnhof lag, passierten jedoch nicht heimlich den Grenzbach, wie Heinrich und Valerie es getan hatten, sondern gingen auf den offiziellen Grenzübergang in der Nähe der Stadt Nikolsburg zu. Es war Nacht gewesen, als sie weggingen, früh, als es schon hell war, kamen sie bei diesem Grenzübergang an.

      Eigentlich, sagt Hedwig heute, haben sie uns nicht durchsucht, sie haben mir nur in die Manteltasche gegriffen und den Wecker herausgenommen, den Schmuck habe ich vorher in den Kleiderausschnitt gesteckt. Dann haben sie gefragt, was wir mit den vielen Bohnen wollen. Wir würden unterwegs nichts zu essen haben, sagte ich, deshalb hätten wir diese Bohnen mitgenommen. (Das Schmalz hätten sie nicht finden dürfen, sagt Hedwig, das hätten sie uns sicher weggenommen.) Dann, sagt Heidi, sei die Geschichte mit der Puppennähmaschine passiert.

      Einer der Posten sei auf sie, die Siebenjährige, zugekommen und habe ihr die kleine Puppennähmaschine, die sie so gern gehabt habe, weggenommen.

      Das werde ich nie vergessen, sagt Heidi. Ich sehe den Mann noch auf einer Treppe stehen, er ist mir dadurch noch schrecklicher vorgekommen, als er ohnehin gewesen ist, mit meiner kleinen Nähmaschine in der Hand.

      Kleesamen war in jenen Tagen beinahe noch kostbarer, als es goldene Armbanduhren und Sonntagsanzüge gewesen sind. Wundraschek brachte die Familie bis auf die andere Seite der Grenze, wo die österreichischen Posten standen, half ihnen beim Abladen ihrer Bündel, warf ihr Gepäck ins Gras neben der Straße, wendete und entfernte sich auf dem gleichen Wege, auf dem sie gekommen waren. Die Kinder blieben mit Josef und Anna, den Großeltern, bei dem Gepäck zurück, Anna hockte auf einem der Bündel, eine in ihrer Traurigkeit, in ihrer Verlassenheit noch kleiner, noch zerbrechlicher wirkende Gestalt, hielt den Säugling im Arm und sah ihrer Tochter nach, die auf der Straße davonging, um eine Unterkunft für die Nacht zu suchen.

      Als Hedwig an den ersten Häusern des nächstgelegenen Dorfes vorbeiging (nein, es sei nicht Ottenthal gewesen, wo Heinrich und Valerie die ersten Tage und Nächte verbrachten, das Dorf habe anders geheißen), kam ihr ein Mann entgegen.

      Der Mann sei dick gewesen, der Typ eines Schiebers, sagt Hedwig, MAN HAT GLEICH GESEHEN, WAS DAS FÜR EINER GEWESEN IST. Die goldene Armbanduhr, die sie noch gehabt und ihm angeboten habe, als Lohn dafür, daß er vielleicht bereit sein würde, die Eltern und Kinder mit ihrem Gepäck mit einem Wagen abzuholen, ins Dorf zu bringen, untersuchte er gründlich, schüttelte sie, hielt sie ans Ohr. GEHT SIE? soll er gefragt haben.

      Ja, sagte Hedwig bitter, sie geht.

      Erst nachdem sich der Mann davon überzeugt hatte, daß die Uhr tatsächlich in Ordnung war, erklärte er sich dazu bereit, seinen Wagen zu holen.

      Sie klopften an die Tür eines Hauses, in dem eine Familie lebte, die sie von früher her gut kannten, und baten um Aufnahme für eine einzige Nacht, wurden jedoch abgewiesen. Schließlich erlaubte ihnen ein Bauer, in seiner Scheune zu übernachten. Es war Herbst, und die Nächte waren schon kalt, durch die Fugen zwischen den Scheunenbrettern pfiff der Wind, Hedwig drückte das Kleine an sich, aber sie konnte es nicht gut genug vor der Zugluft schützen. Vor allem nachts, als sie selbst eingeschlafen war, wird das nicht der Fall gewesen sein.

      Dort in der Scheune, sagt Hedwig heute, hat sich das Kind erkältet, dort hat es sich den Tod geholt.

      (Auch dieses Kind, ein kleiner Junge, ist wenige Tage später gestorben, es wurde auf dem Friedhof des Dorfes W. begraben.)

      Wer ihr gesagt habe, daß ihre Schwester und deren Mann sich in W. aufgehalten hätten?

      Ich weiß es nicht mehr, sagt Hedwig. Sie haben jemandem, der auf dem Weg zur Grenze gewesen ist oder in die Nähe der Grenze gehen wollte, eine Nachricht für uns mitgegeben, dieser Mann oder diese Frau hat es jemand anderem gesagt, der hat es wieder weitergesagt, bis sich dann schließlich jemand gefunden hat, der nach B. gegangen ist, über die Grenze hinüber, der uns dann mitgeteilt hat, sie seien in diesem kleinen Ort in der Nähe von Mistelbach untergekommen und würden versuchen, für uns eine Unterkunft zu finden, wenn auch wir herüberkämen.

      Das sind ja oft fast WUNDER gewesen, wie sich die Menschen wiedergefunden haben.

      Man ist auf der Straße gegangen, auf einmal hat man jemanden getroffen, von dem man schon lange nichts mehr gewußt hat oder den man gesucht hat.

      Man hat an jemanden gedacht, der verschwunden gewesen ist, plötzlich hat man aus dem Fenster eines Hauses geschaut, da ist er auf der Straße vorbeigegangen.

      Das ist wahrscheinlich so gewesen, weil damals ALLE unterwegs gewesen sind, weil alle ohne dauernde Unterkunft waren, weil jeder irgendwelche Angehörige oder Freunde gesucht und vermißt hat.

      Es war, sagt Hedwig, eine furchtbare Zeit, aber es haben sich gerade in dieser Zeit wirkliche Wunder ereignet. Manches jedenfalls hat man sich nicht anders erklären können. Ich weiß nicht, wer uns die Nachricht damals gebracht hat, sagt Hedwig heute, aber wir haben es jedenfalls gewußt, und der Mann, dem ich die Armbanduhr gegeben habe, hat uns am nächsten Tag noch mit seinem Wagen nach W. gebracht.

      (Heinrichs Notizbuch: EINES TAGES STANDEN HEDWIG UND DIE SCHWIEGERELTERN MIT DEN KINDERN VOR UNSERER TÜR.)

      Es gelang, sie im mittlerweile leerstehenden Arzthaus unterzubringen, jenem Haus, in welchem während des Sommers die an Ruhr erkrankten Flüchtlinge einquartiert waren.

      Aus einem Fenster dieses Hauses blickend, habe sie, sagte Hedwig, eine ihr bekannte Familie aus B. mit ihren sieben Kindern vorbeiziehen sehen. Der Mann und die Frau hätten einen Handwagen gezogen, auf dem Handwagen seien die kleinsten der Kinder gesessen, die größeren hätten angeschoben. So seien diese armen Leute den ganzen Weg von zu Hause weg über die Grenze zu Fuß gegangen.

      Sie, Hedwig, habe sie ins Haus geholt, sie seien aber nur über Nacht geblieben, am nächsten Tag wieder weitergezogen.

      Niemand hat damals ein Ziel gehabt, sagt Hedwig, aber alle haben gedacht, weitergehen zu müssen, immer weiter,


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