Heimatsuchen. Ilse Tielsch
wer keine hatte, bekam überhaupt nichts, das war zwar kein sehr großer, aber doch ein wesentlicher Unterschied. Lebensmittelkarten bekam nur, wer im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung war, eine Aufenthaltsbewilligung erteilte man nur demjenigen, der Arbeit hatte. Es war ein Kreis, der sich in vielen Fällen nicht schließen ließ. In Hedwigs Fall, der kompliziert genug gewesen ist, hat er sich schließlich geschlossen, und daß dies geschah, verdankte sie jenen Soldaten der Roten Armee, die in den turbulenten Tagen rund um das Ende des Krieges nicht nur in Wohnhäusern und privaten Räumen Schranktüren eintraten, Schubladen aus Kommoden rissen, ihren Inhalt, soweit sie ihn nicht brauchen konnten, auf den Dorfstraßen verstreuten, sondern die dies auch in Fabriken, Bürohäusern und Werkstätten taten. In einem Bohrbetrieb jedenfalls, der drei Kilometer entfernt von Hedwigs neuem Wohnort lag, waren es unzählige Schrauben gewesen, HUNDERTTAUSENDE SCHRAUBEN, sagt Hedwig, die durcheinandergekommen und die nun wieder der Größe und Stärke nach zu sortieren waren, und man hatte ihr und noch einigen anderen Frauen erlaubt, diese Arbeit als bezahlte Hilfskräfte, dadurch zum Bezug von Lebensmittelkarten berechtigte Personen, zu verrichten.
Hedwig sortierte also Schrauben, bis in den Winter hinein, sie legte täglich zweimal den Weg von drei Kilometern zu Fuß zurück. (Wenn ich abends nach Hause kam, sagt sie, habe ich überall Schrauben gesehen, am Himmel, an den Häuserwänden, an der Zimmerdecke, wenn ich im Bett gelegen bin, sogar nachts habe ich von Schrauben geträumt.)
Josef und Anna hatten, solange auf den Feldern gearbeitet worden war, mitgeholfen, dafür immer wieder einige Kartoffeln, manchmal etwas Mehl oder sogar ein Stückchen Fleisch bekommen, Josef hatte in den umliegenden Wäldchen Klaubholz gesammelt, so daß ein kleiner Vorrat für den Winter zusammengekommen war. Verhungern, erfrieren würde man nicht.
Hedwig sah sich, nachdem alle Schrauben sortiert waren, nach einer neuen Beschäftigung um, hatte wiederum Glück, im Bohrbetrieb suchte man eine Köchin für die Werkskantine.
Was es bedeutet habe, für neunzig Männer zu kochen, wenn nichts zu kochen da war als zum Beispiel Wasser und Roggenmehl. Oder das Fleisch einer alten Kuh. Oder ein Haufen Knochen, die schon gestunken hätten. Oder ein Berg Krautköpfe, halb verfault.
Einmal habe sie so GENUG VON ALLEM gehabt, daß sie kündigen wollte. Aber die Männer hätten sie nicht gehen lassen, sie hätten keine andere Köchin gewollt.
Damals schien es, als würden sie bleiben, bis zu jenem Zeitpunkt jedenfalls, zu dem man ihnen erlauben würde, IN DIE HEIMAT zurückzukehren. Daß dies eines Tages der Fall sein würde, davon waren alle, vor allem die Eltern, fest überzeugt.
Wie sollten die da drüben jenseits der Grenze denn auf die Dauer ohne die Deutschen zurechtkommen, wer würde die Felder bebauen, die ihnen gehört hatten, wie würde man denn jene Dörfer besiedeln, in denen nur Deutsche gelebt hatten? Nein, eines Tages würde sich alles ändern, man würde zurückkehren, wieder miteinander leben, miteinander auskommen, sich wieder vertragen. Der amerikanische Präsident Truman hatte in einer Rede gesagt, man gehe EINER NEUEN UND BESSEREN WELT DES FRIEDENS UND DES INTERNATIONALEN GUTEN WILLENS ENTGEGEN.
Nur gut, daß man es, wenn zur Rückkehr aufgerufen würde, nicht so weit haben würde, NACH HAUSE. Gut, daß man in der Nähe der Grenze geblieben war.
Man lebte von einem Tag auf den anderen, man wartete auf ein Lebenszeichen derer, die verschollen waren. Richard zum Beispiel hatte im Sommer 1944 zum letztenmal Urlaub gehabt, war dann zu seiner Einheit zurückgekehrt, seither war kein Lebenszeichen von ihm gekommen. Er war VERMISST gemeldet, aber was hieß das schon. Er konnte in Gefangenschaft geraten, irgendwohin gebracht worden sein, wo eine Möglichkeit, sich zu melden, für ihn nicht bestand. Er konnte geflüchtet sein, desertiert, irgendwo untergetaucht, ein Versteck gefunden haben, die abenteuerlichsten Geschichten wurden erzählt. Er konnte verwundet worden sein, in einem Lazarett oder Krankenhaus, das von jeder Nachrichtenübermittlung abgeschlossen. abgeschnitten war, seiner Genesung entgegensehen. Es gab viele Möglichkeiten, die man sich ausmalte, vorstellte, einzureden versuchte. IN SOLCHEN ZEITEN KLAMMERT MAN SICH AN STROHHALME, sagt die Mutter. WENN RICHARD KOMMT, sagte Hedwig, und sie meinte damit: Dann würde es besser werden, dann würden sich die Verhältnisse normalisieren, dann würde jemand dasein, der in schwierigen Situationen Rat wußte, der sich zu helfen wußte, der ihnen allen helfen würde, dann würde das einen neuen Anfang bedeuten.
Um die Rückführung der Kriegsgefangenen zu beschleunigen oder zu ermöglichen, wurden Suchdienste eingerichtet. Hedwig schrieb ein Ansuchen, eine Suchmeldung nach der anderen. Richards Namen, sein Geburtsdatum, seinen Geburtsort, seinen militärischen Dienstgrad, seine letzte Anschrift und Feldpostnummer, das Datum des letzten Briefes, ihren eigenen Namen, ihren jetzigen Aufenthaltsort.
Sie schrieb an die Suchdienste der neu gegründeten Rundfunkanstalten, an das Rote Kreuz, sie bezahlte Einschaltungen in den Zeitungen: WER KANN AUSKUNFT GEBEN ÜBER MEINEN MANN, RICHARD S. …
Sie ging sogar mehrere Male nach Wien, immerhin eine Strecke von etwa vierzig Kilometern, um bei Suchstellen nachzufragen, bei dieser Gelegenheit Verwandte und Freunde aufzusuchen. Auf Briefe allein konnte und wollte sie sich nicht verlassen. Während das britische Postministerium erwog, Düsenflugzeuge zur Postbeförderung über den Atlantik einzusetzen, die bei einer Stundengeschwindigkeit von 740 Kilometern zwei Tonnen Postsendungen über eine Strekke von dreitausend Kilometern transportieren würden (diese Post würde New York in sechs, Kalkutta in zwölf, Johannesburg in vierzehn, Australien in vierundzwanzig Stunden erreichen), brauchte ein Brief von Mistelbach nach Wien im besten Falle zwei Wochen. Wenn so ein Brief dann auch tatsächlich ankam, trug er den runden Stempel der Zensurstelle. Man durfte nicht alles schreiben, was man gerne geschrieben hätte, man durfte nicht alles berichten, was man gerne berichtet hätte, man durfte nicht alles fragen, was man gerne gefragt hätte.
Vor allem teilte Hedwig allen Bekannten, Verwandten, allen, die Richard gekannt hatte und die ihn gekannt hatten, die Anschrift ihres neuen Aufenthaltsortes mit. WENN RICHARD KAM, mußte er, gleichgültig an wen er sich um Auskunft wandte, erfahren, wo seine Familie zu finden sei.
Richard kam nicht, aber andere kamen, standen plötzlich vor Haustüren, umarmten Frauen, die ihnen fremd geworden waren, küßten Kinder, die sie noch nie gesehen hatten. Die Kinder drückten sich verlegen in Zimmerecken, hielten sich ängstlich an den Röcken der Mütter fest. Die fremden Väter waren nach Hause gekommen, aber sie waren noch lange nicht zu Hause. Sie gingen wie verloren herum, nannten, wenn man sie fragte, manchmal einen Namen, ja, den oder jenen hätten sie noch vor Monaten irgendwo lebend gesehen, dann aus den Augen verloren, einer der noch Vermißten hatte ihnen aufgetragen, seinen Angehörigen mitzuteilen, in welchem Lager er sich befinde, daß er gesund sei, oder sie hatten diese Nachricht über Dritte zu übermitteln. Manchmal waren sie Todesboten, überbrachten Botschaften, die zu überbringen sie lieber unterlassen hätten, aber nicht unterlassen durften. Manchmal tauchte einer von ihnen kurz in einem Dorf auf, das er auf seiner Heimkehr zu durchwandern hatte, suchte nach einer bestimmten Familie, fand sie nicht gleich und ging weiter, weil es ihn dorthin zog, wo er zu Hause war. Dann konnte man Tage später in den Zeitungen lesen: JENER HEIMKEHRER, DER AM 12. OKTOBER DURCH X.; GEGANGEN IST UND NACH DER FAMILIE Y. GEFRAGT HAT, WIRD DRINGEND GEBETEN, SICH ZU MELDEN.
In den geplünderten, ausgeraubten Häusern fanden die Heimgekehrten in den wenigsten Fällen noch eines jener Kleidungsstücke vor, die sie getragen hatten, ehe man sie zu Soldaten machte. Ihre Frauen trugen dann die Uniformfetzen, die sie Jahre hindurch in Erdlöchern, Schützengräben, Unterständen, Tag und Nacht am Leib gehabt hatten, diese von Schweiß, von Nässe und Schmutz, manchmal auch von Blut verklebten, immer wieder mühsam gesäuberten Lumpen, von denen sie sich so gerne für immer getrennt hätten, in eine Färberei. Bestimmte Färbereibetriebe hatten sich ausschließlich auf das Umfärben von Soldatenuniformen spezialisiert, das Tragen von Kleidungsstücken, die als Uniformteile deutscher Soldaten erkennbar waren, hatten die Besatzungsmächte verboten.
Es kam auch vor, daß einer dieser unerwartet Heimgekommenen wieder fortging, wie jener Schneidermeister, dem ein Fremder die Tür öffnete, als er nach Hause kam. Nicht, daß der Schneider Angst vor Fremden gehabt hätte, aber dieser Fremde war nicht mehr fremd, er gehörte offensichtlich zum Haus und zu der in diesem Haus wohnenden Frau. Der Schneidermeister aus dem Dorf X., der bei minus vierzig