Heimatsuchen. Ilse Tielsch

Heimatsuchen - Ilse Tielsch


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die älter als sechs Jahre waren, gab es anstelle von Fleisch zweihundert Gramm Hülsenfrüchte, wobei das Wort GRAMM ausgeschrieben war. Das machen sie, weil es so nach mehr aussieht, sagte Valerie.

      Dazu gab es achtzig Gramm Fett, anstelle von Hülsenfrüchten konnte Maisgrieß bezogen werden.

      Am 9. Oktober sagte der tschechische Staatspräsident Benesch, er wünsche ENGSTE WIRTSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT MIT ÖSTERREICH. Die politische Zusammenarbeit mit diesem Land würde von VIELEN DINGEN abhängen, vor allem von der ANSICHT RUSSLANDS.

      Die drei Millionen zählende deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei müsse auf dreihunderttausend Personen reduziert werden. SEIT ICH IN DIE TSCHECHOSLOWAKEI ZURÜCKGEKEHRT BIN, MUSSTE ICH FESTSTELLEN, DASS DIE ANZAHL DER DEUTSCHEN, DEREN LOYALITÄT GEGENÜBER DER TSCHECHOSLOWAKEI, SICH BEWÄHRT HAT, VIEL GERINGER IST, ALS ICH IN LONDON ANGENOMMEN HATTE.

      Am 10. Oktober erklärte der Generalstabschef der US-Armee, General George C. Marshall: WIR KÖNNEN SICHER SEIN, DASS DER NÄCHSTE KRIEG NOCH TOTALER GEFÜHRT WERDEN WIRD ALS DIESER!

      Am 11. Oktober veröffentlichte die Zeitung WIENER KURIER ein Bild, das die Schauspieler des Theaters in der Josefstadt beim Wegräumen von Bombenschutt zeigt. Jane Tilden hält ihre Schaufel hoch und lacht fröhlich in die Kamera.

      In derselben Zeitung eine Notiz: KEIN NAZI MEHR RICHTER IN ÖSTERREICH. (15. März 1938: Der Justizminister hat von Wien aus die sofortige Entlassung aller Gerichtsbeamten, die Juden oder Halbjuden sind, angeordnet und eine Aufnahmesperre für Juden in die Rechtsanwaltschaften und Notariate verfügt. März 1939: AUCH DIE BRÜNNER ADVOKATENKAMMER IST JETZT JUDENREIN!)

      In diesem Oktober hatte die Wiener Theatersaison wieder begonnen.

      Der dreiundachtzigjährige Gerhart Hauptmann sagte in Agnetendorf zu einem Besucher, er zweifle nicht daran, daß sich Deutschland in fünfzig Jahren wiedergefunden haben würde, aber es müßte dann ein ganz anderes Volk geworden sein als jenes, das blind in die Katastrophe gegangen sei. Der norwegische Dichter Knut Hamsun wurde zur Untersuchung seines Geisteszustandes in eine Nervenklinik in Oslo gebracht.

      Am 14. Oktober, einem Sonntag, fand um elf Uhr vormittags in Mistelbach die Enthüllung des Bezirksdenkmals statt, das für die gefallenen Soldaten der Roten Armee errichtet worden war. Es trug in roten Buchstaben die Inschrift: EWIGEN RUHM DEN HELDEN, DIE IN DEN KÄMPFEN FÜR FREIHEIT UND UNABHÄNGIGKEIT UNSERER HEIMAT GEFALLEN SIND.

      Es gab eine Ehrenwache, Militär, Schuljugend, Lehrpersonen, eine Tribüne für die Vertreter der Kommandantur, der Gemeinde und der Parteien. Eine größere Anzahl von Bürgern der Stadt war versammelt, Fahnen wehten, ein Prolog war verfaßt worden. DIE HÜLLE FÄLLT! SO IST ES DENN ENTSCHIEDEN, DASS MISTELBACH EIN DENKMAL SICH ERRICHTE!, die Schulkinder sangen, Ansprachen wurden gehalten, der Prolog wurde verlesen (oder von einem Schauspieler vorgetragen): WAS WIR ALS GEGENWART ERLEBT, ERLITTEN: IN GRAUEN UND QUAL UND UNNENNBAREM WEH, EIN ENDE DIESES SCHRECKENS ZU ERBITTEN, DAS BRACHTE UNS DIE ROTE SIEG’S-ARMEE!

      Die Leute murrten, das Ende des Schreckens sei ein Ende mit Schrecken gewesen. Auch daran würde das Denkmal erinnern.

      Befreit haben sie uns, ja, sie haben uns von ALLEM BEFREIT, sagte Frau O.

      Valerie sagte: Die armen Teufel sind auch nicht freiwillig gestorben, die hat man genauso umgebracht wie unsere Soldaten.

      Sie habe, sagt die Mutter, an Richard denken müssen, aber auch an die jungen Gesichter der Gefangenen, die man vor dem Kriegsende durch B. getrieben habe. Achtzehntausend gefangene deutsche Soldaten seien einmal eine Nacht lang in B. gelegen, alle Straßen und Gassen, der ganze Stadtplatz, alles sei SCHWARZ VON SOLDATEN gewesen.

      DU KANNST DIR NICHT VORSTELLEN, WIE ARM SIE GEWESEN SIND.

      MAN DARF NICHT DARAN DENKEN, sagt die Mutter, MAN DARF NICHT DARAN DENKEN, sie wiederholt den Satz, dreht das Gesicht weg, zum Fenster, fürchtet, man könnte bemerken, daß sie den Tränen nahe ist, die alten Bilder sind noch nicht gelöscht, sind nur verdrängt worden, werden wieder beschworen, wenn man davon spricht.

      Seit damals, sagt die Mutter, kann ich keine traurigen Bücher mehr lesen und keine traurigen Filme mehr sehen. ES IST OHNEHIN ZUVIEL TRAURIGES IN DER WELT.

      In Rußland gibt es auch Mütter, die jetzt weinen, sagte Valerie. Sie dachte: Hoffentlich kommt Richard zurück. Aber Richard war nicht der einzige, von dem man ein Lebenszeichen erhoffte, auch der Sohn von Heinrichs früh verstorbener Schwester, zu Kriegsende gerade einundzwanzig Jahre alt geworden, schwerkrank in einem Brünner Lazarett zurückgeblieben, war verschollen. Und Heinrichs alte Mutter hatte noch immer keine Nachricht gegeben. Von jenen Verwandten, die noch nicht über die Grenze gekommen waren, wußte man nicht, ob sie noch lebten, wo sie sich aufhielten, ob man sie noch einmal Wiedersehen würde.

      Woran Valerie vor allem dachte, was sie Tag und Nacht beschäftigte, muß nicht gesagt werden.

      Die Wahlaufrufe der provisorischen österreichischen Regierung las Heinrich mit Interesse, aber sie betrafen ihn nicht. Er durfte an der ersten allgemeinen freien Wahl nicht teilnehmen, er durfte nicht wählen, weil er kein Staatsbürger war. ER DURFTE NICHT ÜBER BESTAND UND ZUKUNFT EINES VOLKES MITENTSCHEIDEN, zu dem er einmal gehört hatte, zu dem man ihm jetzt nicht zu gehören erlaubte, er durfte sich nicht am Wahlkampf beteiligen wie andere MÄNNER, DIE, DER EIGENEN ÜBERZEUGUNG WOHL BEWUSST, ZUGLEICH DIE ÜBERZEUGUNG DES ANDEREN ACHTEN. ER WAR EIN LANDESFREMDES ELEMENT, die freie, unabhängige, demokratische Zukunft Österreichs ging ihn nichts an. Am Sonntag, dem 25. November, entschieden die Wähler für zwei Parteien, die Volkspartei und die Sozialistische Partei.

      Das Zentralorgan der Kommunistischen Partei schrieb: ES IST UNS NICHT GELUNGEN, DAS VOLK AUFZURÜTTELN.

      Was geschah sonst noch in diesem Herbst, wovon die Familie in besonderer Weise betroffen war?

      Heidi, die siebenjährige Tochter Hedwigs, durfte zur Schule gehen. Weil sie so ausgezeichnet sprach, erlaubte man ihr, die erste Klasse zu überspringen und gleich in die zweite Klasse einzutreten. Hedwig sortierte Schrauben im Ölgebiet. Josef, der Bauer ohne Land, sammelte Fallholz in den umliegenden Wäldern, zerhackte es sauber in kleine Stücke und band es zu Bündeln. Anna und die Kinder hielten Nachlese auf den abgeernteten Kartoffelfeldern, wühlten noch ein Häufchen Kartoffeln aus der lehmigen Erde. Heinrich, von der heimlichen Sehnsucht erfüllt, eines Tages nach Wien gehen, dort leben zu dürfen, brachte ein Gesuch um Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft ein, das Gesuch war vom Bürgermeister des Dorfes AUS GRÜNDEN DES ÖFFENTLICHEN WOHLES, aber auch, weil man mit diesem Doktor die besten Erfahrungen gesammelt hatte, weil er sich IM INTERESSE DER GESUNDHEITLICHEN BETREUUNG DER BEVÖLKERUNG IN AUFOPFERNDER WEISE EINGESETZT HATTE, UND NICHT ZULETZT DESHALB, WEIL NOCH AUF JAHRE MIT EINEM ERHEBLICHEN ÄRZTEMANGEL AUF DEM LANDE ZU RECHNEN sein würde, wärmstens befürwortet worden.

      Er war im Besitz einer auf ein Stückchen grobes Papier geschriebenen VORLÄUFIGEN AUFENTHALTSBEWILLIGUNG, die vom Bezirkshauptmann mit blauer Tinte, vom russischen Ortskommandanten mit rotem Stift unterschrieben worden war.

      Von Anni, der Tochter, war noch kein Lebenszeichen gekommen.

       6

      Ein erster Versuch, zu der immer noch Sechzehnjährigen zurückzufinden, die sich als Vollwaise fühlt, zur Schule geht, nachts, wenn sie in ihrem Bett liegt, über die Zukunft nachdenkt, ihr Leben zu planen versucht, scheitert. Anni entzieht sich, verschwindet immer wieder hinter einer Nebelwand, ein Schatten, kein Mädchen aus Fleisch und Blut, ihre Bewegungen, ihre Sprache sind nicht mehr rekonstruierbar, ihre Gedanken lassen sich nicht nachvollziehen. Obwohl sich denken läßt, daß sie Sorgen hatte, sind diese Sorgen nicht mehr wirklich vorstellbar, obwohl feststeht, daß sie Trauer empfunden hat, obwohl die Verwendung dieses Wortes TRAUER in bezug auf den Verlust der Eltern, besser, auf das durch diesen vermeintlichen Verlust hervorgerufene Gefühl, zweifellos richtig ist, bleibt es eben doch nur ein WORT, das man aufschreibt, ausspricht, in Verbindung mit dem Mädchen von damals aber nicht mehr nachempfinden kann. Zu vieles hat sich seither ereignet, zuviel ist geschehen, die Schatten von damals sind von anderen Schatten überdeckt,


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