Heimatsuchen. Ilse Tielsch
zu finden, wenigstens vorübergehend, auf irgendeine Weise wieder zu Hause zu sein.
Und beinahe alle hätten die Hoffnung gehabt, daß sie nach nicht allzu langer Zeit wieder dorthin zurückkehren würden, woher sie gekommen waren.
NIEMAND HAT SICH VORSTELLEN KÖNNEN, DASS DIESES WEGGEHEN AUS DER HEIMAT EIN WEGGEHEN FÜR IMMER GEWESEN SEI.
Diesmal ist es Hedwigs Film, der abläuft, kleine Teilstücke eines Films, Erinnerungssplitter, die dazwischen fehlenden Teile sind nicht ergänzbar, Heidi ist damals zu klein gewesen, sie erinnert sich nur ungenau, ihr sind nur wenige Bilder und Eindrücke geblieben.
Sie hätten viel Hunger gehabt, ja, und dann hätte sie einmal das kleine Brüderchen, das im Bett des Großvaters lag, streicheln wollen, aber der Großvater habe ihre Hand zurückgezogen und gesagt, das Brüderchen könne sie nicht mehr streicheln, es sei schon tot.
An ihre erste Kommunion erinnert sie sich, die anderen Kinder seien alle Einheimische gewesen, sie die einzige, von der man wußte, daß daheim nichts, wirklich gar nichts zu diesem Fest an Besonderem auf den Tisch kommen konnte, da hätten die Mütter beschlossen, eine gemeinsame Tafel für alle Kinder in einem Gasthaus zu machen, so sei auch sie zu ihrem Stück Kuchen gekommen. Das hat sie nicht vergessen, sie ist dankbar dafür gewesen, ist es heute noch, sie wäre es damals auch gewesen, wenn ihre Mutter ihr nicht immer wieder gesagt hätte, sie seien jetzt so arm, daß niemand sie haben wolle, sie müßten für jede Freundlichkeit besonders dankbar sein.
Hedwigs Film zeigt den Umzug in das kleine Häuschen, das unbewohnt in einem der Nachbarorte stand. Die Tür hing schief in den Angeln, aber die Mauern waren trokken, es hatte ein Dach, einen Bretterboden.
Der Pfarrer, ein GROSSARTIGER MANN, sagt Hedwig, ein Mensch, der tatkräftige Hilfe geleistet hat, wo er nur konnte, besorgte Feldbetten, sie hatten eine Unterkunft für die nächste Zeit.
Dann der Besuch von Richards Schwester, die durch einen Brief Heinrichs über ihre Ankunft in W. informiert worden war und sich sofort auf den Weg machte, die Schwägerin aufzusuchen.
Sie sei, schreibt Richards Schwester in ihrem Tagebuch, zu Fuß mit einem Rucksack über Stammersdorf, Eibesbrunn, Wolkersdorf gegangen, am ersten Tag bis Gaweinstal, also etwa fünfunddreißig Kilometer weit. Unterwegs sei sie von Russenautos überholt worden, die Kartoffeln, Zucker, Mehl, aber auch Fahrräder und Einrichtungsgegenstände geladen hatten. Viele Menschen seien mit Rucksäcken, Handwagen, Kinderwagen unterwegs aus der Stadt zu den Bauern gewesen.
(Von Wolkersdorf bis Gaweinstal ging ich mit einem Wiener Arbeiter und seinem zehnjährigen Buben. Er geht alle vierzehn Tage, Samstag, Sonntag, Montag, hinaus und zurück, damit seine vier Kinder Erdäpfel haben.)
Die Felder zu beiden Seiten der Straße seien ausgedörrt und verwahrlost gewesen, von Bomben zerwühlt, überall seien verrostete Geschützteile und zertrümmerte Autos herumgelegen.
(Schützengräben entlang der Straße durch die Felder, die Obstbäume an den Straßenrändern mit abgebrochenen Ästen, umgefahren oder zerschossen. Von den Feldern in Straßennähe wird kein Bauer ernten. Die Russen lassen dort das Vieh weiden.)
Der Wirt in Gaweinstal habe sie nicht beherbergen wollen, er habe ihr nicht einmal erlaubt, auf einer Bank im Gastzimmer zu schlafen, er habe Russen im Haus gehabt und sich gefürchtet, eine Frau aufzunehmen, seine eigene Frau und seine Schwester, habe er ihr gesagt, müßten abends das Haus verlassen und sich verstecken.
Eine fremde Frau habe sie dann bei sich aufgenommen, ihr ein Nachtquartier gegeben.
(Als ich mich mit Dank verabschiedete, winkte sie nur ab und forderte mich auf, wiederzukommen. Ausgeruht wanderte ich bis Schrick, zusammen mit einem alten Mann, unterwegs begegnete mir ein Trupp vertriebener Landsleute aus Muschau, denen man an der Grenze alles, sogar die Kopfpolster und Tuchenten für die Kinder, weggenommen hat. In einem Handpäckchen und auf einem Schubkarren war ihr ganzer Besitz. Ich weinte mit ihnen.)
Bei Schrick sei ihr ein Treck begegnet, oder vielleicht der Rest eines Trecks, dreißig oder vierzig mit Schilf gedeckte Plachenwagen, es seien Siebenbürger Sachsen gewesen. (Ich sprach mit ihnen, sie waren elend, abgezehrt, viele traurig bis zum Stumpfsinn. Sie sagten, sie seien daheim freie Bauern gewesen, nun würden sie hier als Knechte arbeiten müssen. Sie seien schon lange unterwegs, zuletzt sind sie in Oberösterreich gewesen.)
An diesem zweiten Tag, schreibt Richards Schwester, sei sie von Gaweinstal etwa vierzehn Kilometer weit nach W. gegangen, habe dort Valerie daheim angetroffen, diese habe sie dann nach K. zu Hedwig und den Eltern begleitet. (Das erste Wiedersehen nach schwerer, banger Zeit war für uns alle voll Schmerz und doch voll Freude, da wir bis auf die beiden Kleinen leben und gesund sind.)
Hedwig sei sehr traurig gewesen, die beiden Kinder scheu, die alten Eltern gefaßt.
Ja, es seien gute, hilfsbereite Menschen im Dorf, vor allem der Pfarrer, der den anderen ein Beispiel gebe.
(In anderen Orten sieht man die Flüchtlinge nicht gerne, es sind zu viele für das ausgeraubte Land.)
Hedwigs Gedächtnis hat diesen ersten, unerwarteten Besuch ihrer Schwägerin als große Freude registriert.
Dann der Festtag, an dem es DAS GULASCH gegeben hat. Die Frau, die für Hedwig ein Stück Fleisch von einem Pferd schneidet, ihr das große Stück Pferdefleisch überreicht.
Josef, der Großvater, ging auf die Felder hinaus, in der Hoffnung, irgendwo ein paar von einem Wagen heruntergefallene Zwiebeln zu finden, er kam an ein Lauchfeld, begann, Lauch abzuschneiden, fand bei diesem Gang über das Feld einen schon halb verwesten toten Soldaten neben seinem ebenfalls schon verwesenden Pferd. (Damals, sagt Hedwig, sind überall die toten Soldaten und die toten Pferde gelegen, NICHTS WAR EINGEGRABEN.)
Josef erschrak, wendete sich ab, kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an, zwang sich dazu, in anderer Richtung weiterzugehen, trotzdem noch etwas von dem Lauch abzuschneiden, brachte den Lauch nach Hause, erzählte nichts von seinem grausigen Fund, ging erst später ins Dorf, um die Stelle anzugeben, an der er den Toten und sein verendetes Pferd gefunden hatte. Irgendwann, später, hat man den Mann und das Tier dann begraben.
Aus dem Lauch und dem Fleisch kochte Hedwig das Gulasch, an das sie sich, weil es ein so besonderes, seltenes Festmahl gewesen ist, heute noch erinnert.
Sie seien alle um den Tisch gesessen, hätten gegessen. Es habe ihr so geschmeckt, daß sie vor Übermut mit den Füßen gescharrt und das Wiehern eines Pferdes nachgeahmt hätte. Ihr Vater habe sie zornig angeschaut, dann nur noch in den Teller geblickt. Die Mutter sei aufgestanden, hinausgegangen, habe sich vor Ekel übergeben müssen. Daheim auf dem Hof waren die Pferde nicht nur Helfer bei der Feldarbeit, nicht nur Zugtiere für Wagen, Schlitten, Kutschen gewesen, man hatte sie wie Freunde, wie nahestehende Menschen geliebt. Nie hätte man sich vorstellen können, von ihrem Fleisch zu essen. Jetzt war es anders, die Not und der Hunger waren zu groß, aber selbst jetzt konnte Annas Magen dieses Fleisch nicht behalten.
Nie mehr hat sie Pferdefleisch gegessen, außer dann, wenn es gelang, sie zu täuschen, ein Gericht, das aus Pferdefleisch gekocht war, so zuzubereiten, daß sie nicht am Geschmack erkannte, was sie da aß. Sie hätten, sagt Hedwig, einmal von einer Tante aus Wien zwei Dosen mit HORSE-FLEISCH bekommen, es hätte ihnen herrlich geschmeckt, aber die Mutter habe keinen Bissen davon angenommen.
Bilder, die man aneinanderreiht, die man aus der Vergangenheit heraufholt, die es möglich machen, einen Teil dieser Vergangenheit zu beschwören.
Hedwig, mit ihren beiden Kindern, den alten Eltern, dem Kindergrab auf dem Dorffriedhof, keine Nachricht von Richard, ihrem seit dem Winter in Rußland verschollenen Mann, mußte Arbeit finden, um bleiben zu dürfen, um nicht wieder weiterziehen zu müssen. Der Winter stand vor der Tür, es hieß, es würde ein strenger Winter werden, ihre Kinder brauchten ein Dach, das sie vor der Kälte schützen würde, sie brauchten die beiden winzigen Kammern, in denen sie nun hausten, auch wenn sie noch so elend waren, sie brauchten den eisernen Ofen, den man ihnen geschenkt hatte, um nicht zu erfrieren oder krank zu werden. Vor allem aber brauchten sie Lebensmittelkarten, wenn auch selten alles, was gegen Vorweis dieser Karten hätte zu