Heimatsuchen. Ilse Tielsch
bei allen anderen zu verrichtenden Arbeiten über ihre weitere Zukunft nachzudenken. Sie hatte zu überlegen, auf welche Weise sie ihren Unterhalt verdienen würde, ohne anderen eine Last zu sein, ohne betteln zu müssen, ohne Bauernmagd bleiben, in Zukunft weiterhin ausschließlich Hilfsarbeiten verrichten zu müssen. Für eine Sechzehnjährige in jenen Monaten eine nicht ungewöhnliche Situation, wenn man bedenkt, daß wenige Wochen vorher Zwölfjährige nicht zu jung gewesen sind, in einem längst verlorenen Krieg zu sterben, daß jetzt überall im Land elternlose Kinder und Jugendliche unterwegs waren, daß überall Obdachlose auf den Straßen dahinzogen, die kein Ziel hatten, die nicht wußten, wovon sie in nächster Zukunft ihren Unterhalt bestreiten würden. Trotzdem, oder gerade deshalb, eine schwierige Situation. Es waren zu viele, die unterwegs waren, zu viele, die keine Unterkunft, keine Mittel, keinen Besitz mehr hatten, zu viele, die ihre Angehörigen suchten, zu viele, die unterzubringen waren, für die zu sorgen gewesen wäre. Dazu kam, daß sie, Anni, zu jenen gehörte, die man in diesem Land, das nun wieder Österreich heißen durfte, keineswegs brauchte, auch nicht haben, behalten wollte. Man hatte genug Sorgen mit den eigenen Bürgern, mit jenen, die durch Geburt, Herkunft, Heirat ein RECHT darauf hatten, in diesem Land zu leben, man brauchte keine anderen, Fremden, die aus Ländern kamen, in denen man sie auch nicht mehr haben wollte, sie sollten weiterwandern, möglichst rasch, möglichst bald, nach Deutschland ziehen, dort, so fand man, gehörten sie hin.
Wer wußte schon, und wenn er es wußte, wen hätte es interessiert, daß Heinrichs Hauptstadt niemals Berlin, immer nur Wien geheißen hatte? Wer wußte, wollte wissen, wie sehnsüchtig er als junger Student gehofft hatte, in dieser Stadt leben zu dürfen? Wer kannte schon die Geschichte von Heinrichs Mutter Friederike aus Furthof bei Lilienfeld, deren Mutter, der Mürzhofener Gastwirtstochter Amalia, die wiederum Enkelin eines steirischen Hufschmieds gewesen war? Wer wußte, daß Friederike, deren Jugendtraum die Kaiserstadt Wien gewesen war, zeitlebens, wenn der Name des Kaisers, der Kaiserin in ihrer Gegenwart nur genannt worden ist, wenigstens innerlich in eine Art Hofknicks niedergesunken ist? Die Geschichte der Urgroßtante, die im Lainzer Tiergarten als Dreizehnjährige für den jungen Kaiser gekocht, während er auf der Jagd gewesen war, von diesem Kaiser Säbel und Tschako zur ganz persönlichen Aufbewahrung übernommen hat, hätte niemanden interessiert. Kein Mensch wollte noch einen Kaiser. Von dem Reich, das er regiert hatte, für das in den Krieg zu ziehen man Heinrich als jungen Studenten gezwungen hatte, war ein winziger Rest geblieben, ein kleines Land, für das man sich Freiheit, Unabhängigkeit und eine demokratische Verfassung erhoffte, obwohl von all dem im Augenblick noch nicht viel zu bemerken war. Heinrichs Heimkehr aus diesem Krieg war eine Heimkehr auf Abruf gewesen. Was in der Folge geschah, ist bekannt. IHR SUDETENDEUTSCHEN SEID SCHULD AM KRIEG, diesen Satz hatte Anni mehr als einmal zu hören bekommen. Nun gehörte sie zu einer Gruppe von Leuten, die Staatsbürger keines Landes mehr waren, die keine Papiere besaßen, durch die sie zum Überschreiten der Zonengrenzen berechtigt gewesen wären, die nichts von dem tun durften, was ausschließlich Staatsbürgern zu tun erlaubt war, die kein Recht hatten, länger als ausdrücklich gestattet in Österreich zu leben. Nicht einmal zu jenen Verschleppten, Verstoßenen durfte sie sich zählen, die man in der Folgezeit DISPLACED PERSONS genannt hat, Leute, die ihre Heimat ebenfalls verloren hatten, denen dieses Unglück jedoch noch unter der Herrschaft des Hitlerregimes widerfahren war. Eine Tageszeitung, die von der amerikanischen Militärregierung herausgegeben wurde, teilte auch diese Menschengruppe in zwei Teile: Die D.P. WERDEN IN ZWEI KATEGORIEN GETEILT, DEREN ERSTE, DIE ALS »FREUNDE« ANGESPROCHEN WERDEN, SICH FREIWILLIG, WENN SIE GESUND SIND, ZUR ARBEIT MELDEN KÖNNEN UND REGULÄRE LÖHNE SOWIE BEI SCHWERARBEIT AUSSER DER LAGERVERPFLEGUNG ZUSÄTZLICHE LEBENSMITTEL ERHALTEN. DIE ZWEITE KATEGORIE, DIE ALS »FEINDE« ANGESPROCHEN WERDEN, ZUM BEISPIEL DIE VOLKSDEUTSCHEN, SIND DER ARBEITSPFLICHT UNTERWORFEN. FALLS SIE DIE ARBEIT VERWEIGERN, WERDEN SIE MIT NIEDRIGEREN RATIONSSÄTZEN IN ANDERE LAGER GESCHICKT.
Anni war ein Nichts, ein Niemand, kein Freund und kein Feind, ein Mensch, der nirgends hingehörte, niemand würde ihr eine Lehrstelle geben, niemand würde sie für längere Zeit beschäftigen, niemand würde ihr eine Chance geben können, die von Dauer gewesen wäre. Eigentlich, wenn man genau darüber nachdenkt, gab es Anni überhaupt nicht. (Nur gut, daß sie die Tragweite all der Bestimmungen und Verbote, die ihre Person betrafen, damals gar nicht bedachte oder auch gar nicht verstand.)
Was also blieb Heinrichs Tochter übrig, was konnte, was durfte sie tun?
Vielleicht, dachte Anni, würde es möglich sein, wieder zur Schule zu gehen.
DEN ELTERN WÄRE ES RECHT GEWESEN, dachte sie und teilte ihren Entschluß, sich in einem Gymnasium um Aufnahme zu bewerben, der Bäuerin mit.
Die Bäuerin hatte Einwände. Sie brauche jetzt jede Arbeitskraft auf dem Hof, vor allem bei der Arbeit im Heu. Und womit Anni das alles, Schule, Wohnung, Essen, bezahlen würde?
(Anni hatte nicht nur an die vier oder fünf Goldmünzen gedacht, welche die Mutter in den Saum ihres Mantels eingenäht hatte. Heinrich hatte Jahre vorher auf einer oberösterreichischen Bank etwas Geld hinterlegt, Anni eine Bestätigung dieser Bank in beglaubigter Durchschrift mitgegeben, dazu eine Vollmacht, die sie berechtigte, bei Bedarf von seinem Guthaben abzuheben. Anni hoffte, daß man ihr bei Nachweis ihrer Bedürftigkeit einen Teil dieses Geldes ausfolgen würde, daß es ihr gelingen würde, damit eine Unterkunft zu bezahlen.)
Nachdem man die durch Kriegseinwirkungen entstandenen Schäden an Gleisanlagen, Weichen, Signalvorrichtungen auf den wichtigsten Eisenbahnstrecken notdürftig repariert, einen Teil der zerstörten Brücken durch Notbrücken ersetzt, das Allernotwendigste an Zugsgarnituren und Lokomotiven wiederhergestellt hatte, nachdem die Schuttberge im Bereich der Bahnhöfe so weit abgetragen worden waren, daß an die Wiedereinführung eines beschränkten Reiseverkehrs zu denken war, hatten die Behörden, mit Bewilligung der Besatzungsmacht, Reisen auf kurzen Strecken wieder gestattet.
Anni überhörte die Einwände der Bäuerin, bestieg Mitte August einen Zug und fuhr nach Linz.
Ist es wirklich nur einer jener Zufälle gewesen, die sich hin und wieder ereignen, war es das, was wir, geübt in der Verwendung von Ausweichworten, geschickten Umschreibungen uns unerklärbarer Zusammenhänge FÜGUNG nennen? Hat einer jener, unseren Augen nicht sichtbaren, jedoch zweifellos in einer uns nicht vorstellbaren Körperlosigkeit existierenden Schutzengel das, was wir FLÜGEL nennen, über Annis Schicksal gebreitet? Oder hat sie einfach nur – wie würde es Valerie genannt haben – GLÜCK GEHABT? Wer wollte sich herausnehmen, dies zu entscheiden?
Alles, was Heinrichs Tochter in der folgenden Zeit unternahm, gelang auf eine sie selbst überraschende Weise. Hilfe wurde ihr geboten, wo sie mit dieser Hilfe gar nicht gerechnet hatte. Schon im Zug ergab es sich, daß sie neben einer beinahe Gleichaltrigen saß, die sie nach ihrem Fahrtziel fragte, sich nach längerem Nachdenken an eine Familie erinnerte, die möglicherweise bereit sein würde, sie bei sich aufzunehmen, was dann auch tatsächlich geschah. Die Direktorin der Schule, in der Anni vorsprach, hörte sich die Geschichte der Sechzehnjährigen an, die nicht Hilfsarbeiterin oder Bauernmagd werden wollte, und beschloß, ihr trotz der fehlenden Staatsbürgerschaft den Schulbesuch zu gestatten. Da Schulzeugnisse nicht vorgelegt werden konnten, hatte Anni in absehbarer Zeit die Bestätigung eines Lehrers vorzulegen, der am Gymnasium der südmährischen Kreisstadt N. unterrichtet hatte und Anni den Abschluß der fünften Klasse bescheinigen konnte. (Was zunächst unmöglich zu sein schien, gelang, ein solcher Lehrer wurde gefunden.) Die Bank gewährte dem Mädchen, das ohne Angehörige war, eine monatliche Barabhebung von einhundertfünfzig Mark zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes.
Anni hatte ein Dach über dem Kopf, wenn auch nur für die nächste Zeit, sie hatte Geld, um Unterkunft und Lebensunterhalt zu bezahlen, sie mußte sich um die allernächste Zukunft keine Sorgen mehr machen. Auch die Erwachsenen wagten ja nicht, für längere Zeit zu planen, Prognosen für eine fernere Zukunft zu stellen. Der Krieg war vorbei, man lebte, ein gewisser Optimismus war angebracht, irgendwie würde sich alles fügen.
Anni fuhr aus Linz zurück auf den Bauernhof, um ihre Sachen abzuholen.
Ob und wieweit Heinrichs und Valeries Tochter durch das in der bäuerlichen Wohnstube laufende Radiogerät oder durch im Juli schon erscheinende Tageszeitungen oder nur durch die Gespräche und Berichte der Erwachsenen über bestimmte Zeitereignisse unterrichtet