Heimatsuchen. Ilse Tielsch

Heimatsuchen - Ilse Tielsch


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sich zwar die Nachricht vom Abwurf der BOMBEN auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 als alles verdunkelnder Schrecken ab, wann jedoch diese Nachricht Anni erreichte, in ihr Bewußtsein gedrungen ist, wann sie vom Ausmaß der Zerstörung, von der Anzahl der Toten, von all dem, was im Zusammenhang mit diesem Bombenwurf wahrscheinlich berichtet worden ist, erfahren hat, wann sie vor allem zum erstenmal Bilder der riesigen Rauchpilze zu sehen bekam, die vom Gedächtnis nur in Verbindung mit ANGST reproduziert werden können, ist vergessen. Es ist jedoch anzunehmen, daß über die bedingungslose Kapitulation Japans am 14. August und über die Ereignisse, die zu dieser Kapitulation geführt haben, sogar auf dem einsam gelegenen Bauernhof im oberösterreichischen Kremstal gesprochen worden ist.

      Ebenso ist anzunehmen, daß der in den erwähnten Zeitungen am 27. Juli abgedruckte Erlaß der Militärregierung von den Bewohnern dieses Hofes zur Kenntnis genommen worden ist, der den Österreichern das Beflaggen ihrer Häuser an bestimmten Feiertagen wieder erlaubte: VOM TAGE DIESES BEFEHLS AN IST ES GESETZLICH ZULÄSSIG, DIE ÖSTERREICHISCHE FAHNE UND DIE ÖSTERREICH VERSINNBILDLICHENDEN FARBEN SO LANGE ZU HISSEN, ALS DIES MIT DEN HIERAUF ANWENDBAREN ÖSTERREICHISCHEN GESETZEN UND GEBRÄUCHEN ZULÄSSIG ERSCHEINT.

      (Die Bäuerin zerschnitt ein Leintuch und nähte zwei weiße Streifen auf rotes Fahnentuch, je einen in der Mitte der vorderen und der rückwärtigen Fahnenseite. Rechts und links von diesen Streifen lugte das schmale Segment eines dunkler gefärbten Kreises hervor, der vorher mit dem bewußten weißen Stoffkreis abgedeckt, daher von Sonne und Wetter nicht gebleicht worden war.)

      Am 28. Juli konnte man in der Zeitung lesen, daß die Stadt Wien in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden war. Den ersten Gemeindebezirk mit ausgebranntem Stephansdom, zerstörter Staatsoper, ebenso zerstörtem Burgtheater, mit ausgebrannten Kirchen, zerbombten Straßenzügen, zahllosen Ruinen, mit Schuttbergen, aufgerissenen Straßen, defekten Wasserleitungen, abgebrannten Lindenbäumen am Ring, mit ruinierten Fassaden, geborstenen Fensterscheiben übernahm die aus Mitgliedern aller vier Besatzungsmächte bestehende Alliierte Kommission, er wurde zur Internationalen Zone erklärt.

      Am 6. August gab es in der amerikanisch besetzten Zone wieder Telegramm- und Telefonverkehr, allerdings NUR FÜR MITGLIEDER DER BESATZUNGSMACHT, FÜR VON DIESER AUTORISIERTE VERTRETER WICHTIGER, VON DER MILITÄRREGIERUNG ZUGELASSENER INDUSTRIEUNTERNEHMEN UND FÜR AMTSPERSONEN.

      Mit dem gleichen Datum begann der Eisenbahnverkehr mit Italien wieder zu funktionieren.

      Am 12. August wurden die Salzburger Festspiele eröffnet. Vor einem Volksgericht in Wien begann der erste Kriegsverbrecherprozeß.

      Am 30. August schreibt der Verfasser eines Zeitungsartikels zur Flüchtlingsfrage, es sei nicht gerecht, den Flüchtlingen nur halbe Lebensmittelkarten zu geben, da doch die normalen Rationen das Existenzminimum keineswegs überschritten. Außerdem sei es undemokratisch, verantwortungslos und vor allem gemütslos, wenn öffentliche Beamte den traurigen Mut besäßen, diesen Leuten ins Gesicht zu sagen, daß solche Maßnahmen nur aus einem Grunde getroffen würden: DEN FLÜCHTLINGEN DEN AUFENTHALT ZU VERLEIDEN.

      (Diesen Zeitungsartikel hat Anni bestimmt nicht gelesen, er ist in einem Waldviertier Lokalblatt erschienen.)

      Am 17. September begann in Linz an der Donau der Schulbetrieb. An die Bevölkerung war kurz vorher das Ersuchen gerichtet worden, an der Zustandebringung der während der ersten Tage nach dem Einmarsch der alliierten Truppen aus den Schulen geraubten Güter wie: Bilder, Bücher, Filmapparate, Schreibmaschinen und diverser Lehr- und Lernbehelfe, auch der verschwundenen Bücher aus den Schüler- und Lehrerbüchereien, mitzuarbeiten, da diese Gegenstände zur Wiederaufnahme des Schulbetriebs unbedingt notwendig seien. Grundsätzlich wurde erklärt, daß, da das Lehrziel im vergangenen Jahr in keiner Weise erreicht worden sei, alle Schüler dieses Jahr zu wiederholen hätten.

      Als Anni nach Linz kam, ihren Rucksack auf dem Rükken, den Koffer in der einen, den Kasten mit der Ziehharmonika in der anderen Hand, waren die größten Bombentrichter im Bahnhofsviertel schon zugeschüttet worden, die geknickten, umgebrochenen Bäume weggebracht und zu Feuerholz zerschnitten, die höchsten Schuttberge entlang der Hauptstraßen hatte man abgetragen. Die Ruinen waren noch nicht beseitigt worden, die Aufschriften, die im letzten Kriegsjahr an die Häuserwände gemalt worden waren, DEIN OPFER UNSER SIEG oder NUN ERST RECHT, hatte man jedoch entfernt. Die Straßen und Plätze hatten ihre früheren Namen zurückbekommen, aus dem Adolf-Hitler-Platz war wieder ein Hauptplatz, aus den Hermann-Göring-Werken war die Österreichische Montan-Aktiengesellschaft geworden. Den Straßenbahnverkehr über die Donau hatte man wieder aufgenommen, die Überquerung der Brükke allerdings war jetzt nur mit Bewilligung der Behörde gestattet, da der jenseits der Donau liegende Stadtteil URFAHR von den Russen besetzt war.

      Zum Kochen stand wieder Gas zur Verfügung, wenn es auch nicht viel zu kochen gab.

      Salz jedenfalls gab es genug.

      Anni bezog ein Bett in der Wohnung der Familie M., das frei geworden war, weil man den Ehemann der Frau M. in ein Lager für politische Gefangene abgeholt hatte. Auch der ältere der beiden Söhne war aus dem Krieg noch nicht zurückgekehrt. Sie ging in die Schule, machte Hausaufgaben, holte monatlich hundertfünfzig Mark von ihrer Bank, zahlte Miete und Kostgeld, behielt einen kleinen Teil des Geldes für sich, um Schulhefte, Straßenbahnfahrten und ähnliche kleine Ausgaben bestreiten zu können, was übrig blieb, sparte sie. Hin und wieder ging sie ins Kino, einmal ging sie ins Theater und sah die Operette DREIMÄDELHAUS, weinte dann in ihr Kopfkissen, weil Heinrich daheim Operettenmusik auf dem Klavier gespielt hatte, versprach sich selbst, eine gute Schülerin zu sein, weil sie sonst niemanden mehr hatte, dem sie es hätte versprechen können.

      Auf diese Weise verging der Herbst. Es würde, hieß es, wahrscheinlich sehr kalt werden, die Menschen fürchteten sich vor dem Winter.

      4

      MAN DARF NICHT DARÜBER NACHDENKEN, sagt Valeries jüngere Schwester Hedwig. Lange bevor die Front B. überrollte, war ein Fluchtwagen bereitgestanden, Heinrich hatte Eisenstangen halbrund biegen lassen, man hatte diese Eisenstangen auf beiden Seiten des Wagens befestigt, mit PLACHEN überspannt, auf diese Weise eine Art Dach gebildet, das vor Wind und Regen schützen würde. Unter diesem Dach sollte die alte Großmutter mit den Kindern sitzen, Hedwig und ihr Vater würden abwechselnd auf dem Kutschbock sitzen oder neben den Pferden hergehen, der Wagen sollte die Familie in den Westen bringen. Im letzten Augenblick hatte sich Josef, der Großvater, geweigert wegzufahren.

      ICH VERLASSE MEINE HEIMAT NICHT, sagte er.

      Sie waren geblieben, Hedwig hatte Anfang April noch Zwillinge geboren, einer der Säuglinge war während der letzten Kriegstage gestorben, sie hatten ihn in dem an den Hof angrenzenden Obstgarten begraben müssen, ein Begräbnis auf dem Friedhof war nicht mehr möglich gewesen. Die beiden größeren Kinder waren fünf und sieben Jahre alt.

      Sie blieben auch dann noch, als Heinrich und Valerie die Stadt verließen, so lange, bis eine tschechische Familie mit neun Kindern aus dem Inneren Böhmens kam, um Haus und Hof zu übernehmen. (GOLDGRÄBER HAT MAN DIESE LEUTE GENANNT!)

      Die Leute, sagt Hedwig, seien allerdings erschrocken gewesen, die Besitzer des Hofes noch vorzufinden, man hatte ihnen gesagt, sie würden ein von seinen Bewohnern verlassenes Anwesen übernehmen. Die Frau habe sogar gefürchtet, es würde ihr UNGLÜCK BRINGEN, in diesem Haus zu leben. Trotzdem sind sie natürlich geblieben, sagt Hedwig. Da endlich sah Josef, der Bauer, ein, daß ein Bleiben nicht mehr möglich war. Er war zu diesem Zeitpunkt zweiundsiebzig, seine Frau Anna war siebenundsechzig Jahre alt, sie hatten fast ein halbes Jahrhundert auf diesem Hof gelebt, ihn durch ihre Arbeit und ihren Fleiß schuldenfrei gemacht, für Politik war in ihrem Leben kein Platz gewesen. Danach aber fragte jetzt niemand, es wurde nur nach ihrer Sprache gefragt.

      WAS GESCHIEHT JETZT MIT UNS, sagte Josef zu dem Mann, der mit den Fremden gekommen war, um sie in das Haus einzuweisen, WOHIN SOLLEN WIR DENN GEHEN?

      Ganz einfach, sagte der Mann, Sie gehen nach Bayern. DORT GEHÖREN SIE HIN.

      Wiederum war es Wundraschek, der mit seinem mageren Roß und dem klapprigen Wägelchen kam, um diese Deutschen


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