Heimatsuchen. Ilse Tielsch

Heimatsuchen - Ilse Tielsch


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niemand wartete darauf, daß Heinrich und seine Frau nach Wien kamen, niemand suchte nach ihnen, niemand gab Suchanzeigen auf, um zu erfahren, ob sie noch lebten. Die Verwandten und Freunde hatten zu dieser Zeit andere Sorgen, sie trugen, was sie an Wertgegenständen besaßen, auf den Schwarzen Markt. BLACK MARKET nannten diesen Markt die Engländer und Amerikaner, die Zeitungen nannten ihn TUMMELPLATZ DER ASOZIALEN.

      Zwölfhundert Schilling (oder immer noch Mark) für ein Kilogramm Schweineschmalz, hundertfünfzig Schilling für ein Kilo Mehl, achthundert für einen Liter Öl, fünfzehnhundert für ein Kilo Bohnenkaffee. Hätte Anni in Wien gelebt, dann hätte sie die Wahl gehabt, für die ihr monatlich bewilligten einhundertfünfzig Schilling (oder Mark) entweder fünfzehn Eier oder ein halbes Kilo Zucker oder achtundachtzig Dekagramm Pferdefleisch zu erstehen. Sie hätte auch für diesen Betrag in Linz an der Donau genau einhundert amerikanische Zigaretten kaufen, damit unter gefährlichen Umständen die Demarkationslinie passieren, die Zigaretten in Wien zu fünf Schilling je Stück wieder verkaufen können. Dabei hätte sie einen Gewinn von dreihundertfünfzig Schilling erzielt, für die sie wiederum dreiundzwanzig Deka Bohnenkaffee oder eineinhalb Kilo Brot oder eineinhalb Paar Damenstrümpfe bekommen hätte. Das Unternehmen hätte sich nicht gelohnt, ganz abgesehen davon, daß die Bewilligung zu einer Fahrt über die Zonengrenze immer noch ausschließlich jenen Personen erteilt wurde, die im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft waren, es lohnte sich nur in größerem Umfang. Ein Schleichhändler, den man festnahm, hatte in Linz zwanzigtausend Zigaretten gekauft und durch den Wiederverkauf in Wien bei einem einzigen Geschäft einen Verdienst von siebzigtausend Schilling gehabt.

      WIR MÜSSEN GEWAPPNET SEIN, schrieb eine Linzer Tageszeitung im Oktober 1945, WENN BEI AUFHEBUNG DER DEMARKATIONSLINIEN SICH EINE FLUT VON SCHLEICHHÄNDLERN AUS DEM ÖSTLICHEN TEIL ÖSTERREICHS IN UNSER LAND ERGIESST. (Vorläufig konnte von einer Öffnung der Zonengrenzen allerdings keine Rede sein.)

      Zurück in das Dorf W. bei Mistelbach im niederösterreichischen Weinviertel, wo die Verhältnisse für Leute, die nicht selbst einen Bauernhof besaßen, zwar nicht so trostlos wie in der Großstadt Wien, aber trostlos genug gewesen sind.

      (Hedwig hat einmal auf dem Weg zur Arbeit eine Frau getroffen, die ihr erzählte, sie hätte jetzt mit ihrer Familie vierzehn Tage lang GANZ GUT gelebt, sie hätten EINEN HUND GEHABT.

      So weit, sagte Hedwig, sind wir Gott sei Dank nicht gekommen.)

      Zurück zu Heinrich, der Typhuskranke besucht, mutig und ohne die eigene Ansteckung zu fürchten, an ihren Betten sitzt, Geschlechtskranke mit unzureichenden Mitteln behandelt. (Das Penicillin war zwar erfunden, es stand jedoch in Österreich praktizierenden Ärzten kaum zur Verfügung.) Heinrich, der gegen Ruhrepidemien ankämpft, hochinfektiöse eiternde Hautausschläge, die rasch sich ausbreitende Krätze bekämpft, Eiterbeulen aufschneidet, Wunden verbindet, Gebärenden hilft, wenn es nötig ist, auch Zähne zieht, der eines Tages aus einem der Nachbardörfer heimkommt, sich auf einen der beiden hölzernen Sessel setzt, einen seiner Schuhe auszieht und feststellen muß, daß die durchlöcherte Sohle sich nun auch aus den Nähten gelöst hat, daß der total ruinierte Schuh nicht mehr reparierbar ist. (Ein Paar neuer Schuhe kostete auf dem Schwarzmarkt zu jener Zeit fünfzehnhundert bis zweitausend Schilling.)

      Valerie, die, Tage vorher, im Nachbarhaus einen einzelnen Herrenschuh auf einer Truhe, Kommode, sonst einem Möbelstück von geringer Höhe stehen sah, diesen Schuh, den die Bäuerin behauptete, gefunden zu haben, den sie wegwerfen wollte, mitgenommen hat. Jetzt geht Valerie zum Schrank, nimmt diesen Schuh heraus, reicht ihn Heinrich, es ist ein linker Schuh, wie jener ruinierte, den Heinrich eben ausgezogen hat, er probiert den Schuh, er paßt. (Zu bemerken bleibt nur, daß dieser Schuh hellbraun gewesen ist, der andere, jetzt zerrissene Schuh dunkelbraun, daß auch die Form des einen Schuhes sich wesentlich von der des anderen unterschied.)

      Ein Doktor, der mit zwei verschiedenfarbigen, verschieden gearbeiteten Schuhen zu seinen Patienten unterwegs ist? Zu jener Zeit und auf jenen Feldwegen, über die er bei jedem Wetter ging, ist das niemandem aufgefallen, und wenn es jemandem aufgefallen ist, hat es ihn nicht gestört. Nur Valerie konnte sich nicht damit abfinden, daß es, statt besser zu werden, immer noch abwärts ging.

      (Welchen Kreisen haben die Damen angehört, die damals KLEIDER MIT BLUSIGEM RÜCKEN trugen, für den Nachmittag mit Valenciennes-Spitzen besetzt oder mit aufgenähten Stoffblumen verziert? Wer konnte sich jene Abendkleider leisten, die SPARSAMER ALS BISHER DIE REIZE SCHÖNER FRAUEN zeigten, die vorne hochgeschlossen, dafür am Rücken tief dekolletiert waren, BEVORZUGTE MATERIALIEN: BROKAT, TÜLL UND TAFT?

      SEID GETROST, FRAUEN, schreibt der Verfasser des Modeartikels im WIENER KURIER, auch für euch wird bald die Zeit kommen, da ihr in beschränktem Ausmaß wieder einkaufen könnt!

      Wer konnte die vielen aus Loden, aus Wolle, aus Seide und Brokat gefertigten Trachtenmodelle kaufen?

      EINES STEHT FEST, hieß es, DIE RÖCKE WERDEN WEITER. Unter dieser Notiz, klein gedruckt, ein Hinweis: WIENER AUFGEPASST! ALLE VERBRAUCHER ÜBER 12 JAHRE ERHALTEN AUF ABSCHNITT M DER BROTKARTE 70 DEKA BROT!

      Valerie besaß einen Rock, zwei Blusen, eine Strickjacke und ein vor Jahren in Bad Goisern von einem Schneider angefertigtes, jetzt an den Kanten schon abgewetztes Lodenkostüm. Andere allerdings hatten nicht einmal das. Heinrich hatte drei Hemden über die Grenze gebracht, es gab keine Waschmittel, Valerie hatte diese Hemden mit reinem Wasser auszuwaschen, ein bißchen Seife auf Kragen und Manschetten, dann hängte sie die Hemden im Hof zum Trocknen auf, zog sie zurecht, ein Bügeleisen hatte sie nicht.

      Wir waren so arm, sagt die Mutter, daß sich das heute niemand mehr vorstellen kann.)

      Der Tag, an dem Valerie zum zweitenmal das Nachbarhaus betrat, aus irgendeinem Grund, an den sie sich nicht mehr erinnert, nach der Bäuerin rief, keine Antwort erhielt, bis sie durch das Vorhaus weiterging, in den Hof. Valerie stand wie erstarrt, sie konnte nicht glauben, was sie da sah. Quer über den Hof waren, von einer Mauer zur anderen, Wäscheleinen gespannt. Aber an diesen Leinen waren nicht etwa Hemden, Socken oder Unterhosen des Bauern, der Bäuerin, ihrer Kinder, nein, da waren Herrenanzüge befestigt, sichtlich von guten Herrenschneidern gearbeitet, Damenkleider verschiedenster Machart, aus Wollstoff, aus Seide, ein Abendkleid, das keineswegs der kurzbeinigen Bäuerin gehören konnte, spitzenbesetzte Nachthemden hingen da und ein Morgenmantel aus Samt. Vor allem aber hingen, über die Wäscheleine geworfen, die Wäscheleine schwer belastend, eine Herausforderung für die Augen, zwei Damenpelzmäntel und ein Herrenwintermantel mit Innenfell.

      Valerie stand bewegungslos, sie hätte sich gar nicht bewegen können, auch wenn sie die Absicht gehabt hätte. Sie sah die Bäuerin und eine Nachbarsfrau geschäftig hin- und herlaufen, weitere Wäschestücke, Kleider aus großen Kisten nehmen, über die Stricke werfen. So versunken waren die beiden in ihre Beschäftigung, so von ihr in Anspruch genommen, daß sie in ihrem Eifer die ungebetene Augenzeugin nicht bemerkten.

      Valerie verfolgte ihre Bewegungen mit den Augen, registrierte: ein Sommerkleid, zweifarbig, mit Rüschen besetzt, ein roter Seidenrock, weiß getupft, eine Jacke aus Wollstoff, eine Seidenbluse. Wem immer dies alles gehören mochte, es war, nach immerhin siebenjähriger Kriegszeit mit Kleiderkarten und Bezugsscheinen, die man nur selten bekam, eine märchenhafte Garderobe.

      Dann, endlich, blieben ihre Augen an einem braunledernen Gegenstand hängen, der in einer Ecke des Hofes auf dem Boden lag. Valerie stellte sofort aus der Entfernung fest, daß es sich nur um den zweiten, den fehlenden Schuh handeln konnte, ging hin, konstatierte, daß ihre Vermutung richtig gewesen war, hob den Schuh auf und hielt ihn noch in der Hand, als sich, in diesem Augenblick, die Bäuerin zu ihr umwandte.

      Bilder, die unvergessen geblieben sind, die jetzt von der Mutter geschildert werden: das vor Schreck und Entsetzen verzerrte Gesicht der Bäuerin, ihre gestikulierenden Hände, mit denen sie Erklärungen zu unterstreichen versucht. Die mit hilflos herabhängenden Armen dabeistehende, ebenfalls erschrockene Nachbarsfrau. Die Wäschestücke, die im aufkommenden Herbstwind zu flattern beginnen, ein Wäschestück, das sich losreißt, von der Leine löst, in den Zweigen des breitästigen Nußbaumes hängenbleibt. Diese Sachen, erklärte die Bäuerin, fast schreiend vor schlechtem Gewissen, habe ihr jemand zur Aufbewahrung übergeben, sie seien im Hauskeller versteckt gewesen,


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