Turmstraße 4. Hans Weinhengst
Hans Weinhengst
TURMSTRASSE 4
Roman
Aus dem Esperanto übersetzt von Christian Cimpa
Mit einem Nachwort von Kurt Lhotzky
Inhalt
Hans Weinhengst und die Geschichte des Esperanto
1.
Ein grauer, heruntergekommener Wohnklotz. Das ist das Haus Nummer 4 in der Turmstraße. Wenn ich »grau« sage, beschreibe ich die Farbe der Mauern nicht ganz treffend. Sie sind in Wahrheit undefinierbar widerwärtig. Das Eckhaus, bei dem die Turmstraße die Trostlos-Straße schneidet, unterscheidet sich nicht merklich von den Nachbarbauten oder den vielen anderen Gemäuern in diesem Wiener Arbeiterviertel. Allerdings vereint es alle üblen Eigenschaften solcher Zinskasernen in besonderem Ausmaß. Die verfallene Fassade ist altmodisch verschnörkelt mit allerhand künstlichen Vorsprüngen und halb verwitterten Figuren über den Fenstern. Die Farbnuancen der Fensterrahmen sind nicht in ein, zwei Worte zu fassen – vor vielen Jahren waren sie vielleicht braun. Insgesamt bietet das Haus nichts dem Auge Schmeichelndes, mit Ausnahme verschiedenster Blumen, Blattpflanzen und Kakteen, die in fast jeder Fensternische zu sehen sind. Das Hausinnere zeigt auf den ersten Blick unverhohlen, dass die gesamte Konstruktion einzig dem Streben nach Ausbeutung folgt: Das Stiegenhaus und die Gänge sind schmal, der erdrückend enge Hof – »Lichthof« genannt – ist der den Bauvorschriften geschuldete einzige freie Raum, die Wohnungen sind winzig, dafür aber zahlreich.
Das vierstöckige, nicht auffallend große Haus umfasst sechsundfünfzig Wohneinheiten, die größtenteils aus je einer kleinen, dunklen Küche und einer Kammer mit einem einzigen Fenster bestehen. Das ganze Treppenhaus, und mit ihm mehr oder weniger auch die Wohnungen, sind erfüllt vom ekelhaften Gestank aus den alten Aborten, pro Stockwerk sechs an der Zahl. An heißen Tagen im Sommer und kalten im Winter, wenn die Fenster wegen des Frosts geschlossen bleiben, wird dieses Odeur unerträglich, vor allem zur Mittagszeit, wenn sich mit ihm diverse Gerüche aus fünfzig oder mehr Küchen vermengen. Aus vierzehn Türen, eng aneinandergereiht, strömen die Menschen zum einzigen Wasserhahn der Etage. Und Menschen gibt es hier viele: Im ganzen Haus wohnen an die dreihundert, in den winzigen Wohnungen oft zu siebt oder zu acht zusammengepfercht, aneinander klebend, einander in die Quere kommend bei jeder Bewegung.
Natürlich sind solche Massenquartiere unweigerlich auch Nistplätze finsterer Dämonen: Armut, Stumpfsinn, Hass, Verdruss, Verzweiflung und andere. Das edle Gewächs der Nächstenliebe kann unter solchen Umständen nur vegetieren, auch wenn die Herzen gerade der Menschen dieser Klasse grundsätzlich ein guter Nährboden dafür wären.
Unfrieden, Krawalle und lärmende Auseinandersetzungen sind Alltag im Haus Turmstraße Nummer 4. Ob Tratsch oder unvereinbar scheinende Ansprüche einen Konflikt zwischen Hausparteien auslösen oder ob ein Familienkrach aus diesem oder jenem Grund die Gemüter erhitzt – die wahre Ursache ist wohl meistens das Elend, das doch allen gemeinsam ist …
Eines Abends, in der ersten Märzwoche des Jahres 1929, hörte man aus der Wohnung Nummer 16 im ersten Stock lautes Geschrei. Das wüste Schimpfen eines Mannes hallte durch das halbe Haus. Eben die Treppe zum ersten Stockwerk hinaufsteigend hielt ein etwa achtzehnjähriges Mädchen unwillkürlich inne, um zu horchen – und erbleichte, als sie die Stimme ihres Vaters erkannte. Langsam und offensichtlich schweren Herzens nahm sie die weiteren Stufen der abgewetzten Steintreppe.
Schon konnte sie das Geplärre verstehen. Der Auslöser für den Zorn des Vaters war sie selbst. Eben drohte er, ihr die Knochen zu brechen, sobald sie heimkäme. Die Hände vors Gesicht schlagend zögerte sie wieder.
Als sie aus der Wohnung deutlich das haltlose Schluchzen ihrer Mutter vernahm, öffnete sie zitternd die Tür und trat ein. Die Mutter, tränenüberströmt in der Küche beim Ofen kauernd, sah weder zu ihrer Tochter auf, noch antwortete sie auf deren leisen Gruß. Nur ihr Weinkrampf wurde mit einem Mal heftiger und unkontrollierter. Im Zimmer, äußerlich nun etwas zur Ruhe gekommen, lauerte der Vater.
Nichts Gutes ahnend betrat das Mädchen den Raum. Der Vater stand am Fenster und starrte auf die Straße. Martha grüßte und legte Mantel und Mütze ab.
Sofort schwoll der Zorn des Mannes erneut an und brach unvermittelt aus ihm heraus:
»Du Kanaille! Jetzt kommst du heim? Seit mehr als einer Stunde bist du überfällig! Um sechs hast im Büro aus, und jetzt ist es halb acht! Warst wieder unterwegs, Arm in Arm mit dem Nichtsnutz vom zweiten Stock, du falsche Katz! Am Sonntag hast dich mit deiner Freundin weggeschlichen, und ums Eck hat er schon gewartet, dein Liebling! Ausgerechnet der arbeitsscheue Tagedieb mit seinen Flausen im Kopf! Vielleicht bildest du dir ein, dass du mir was vormachen kannst, du Luder, aber ich werd dir noch zeigen, was sich gehört!«
Laut und mit wütender Gebärde schritt er auf die Tochter zu, die bis zur Wand zurückwich. Sein Gesicht, von einem Granatsplitter im Weltkrieg zerfetzt, war grundsätzlich grauenerregend, und die schwarze Klappe, die die leere rechte Augenhöhle verdeckte, machte den Anblick kaum erträglicher. Aber jetzt, vor Wut zur Grimasse verzerrt, war es scheußlich und abstoßend. Im selben Augenblick verlor die junge Frau jegliches Gefühl von Angst oder Respekt, und auf ihrem sonst anmutigen und zarten Gesicht spiegelte sich ein unbeschreiblicher Ausdruck von Hass und Ekel.
Der Vater hatte den letzten Satz kaum fertig gesprochen, als sie, fest in seine entstellte Fratze blickend, ruhig und gefasst erwiderte:
»Ich hasse es, zu lügen. Wenn ich’s getan hab, dann nur, weil’s für mich die einzige Möglichkeit ist, ein bissl Freude zu haben im Leben. Ich hab auch ein Recht auf mein Stück vom Glück, wie jeder andere. Und ein Tagedieb ist der Karl sicher nicht! Was kann er dafür, dass er keine Arbeit findet?«
Für einen Moment stand der Vater wie versteinert da. Noch nie hatte sich ihm das Mädchen direkt widersetzt. Doch dann tobte er wie von Sinnen. Mit tierischem Gebrüll fiel er über seine Tochter her und prügelte wild auf sie ein. Wahrscheinlich hätte er die Unglückliche totgeschlagen, wären nicht Nachbarn, von den Hilferufen der Mutter alarmiert, rettend eingeschritten. Sie überwältigten den von allen guten Geistern Verlassenen, hielten ihn von seinem Opfer ab und riefen die Polizei, die den Mann schließlich abführte.
Eine mitfühlende Nachbarin half der Mutter, die bewusstlos geschlagene Tochter zu entkleiden und zu Bett zu bringen. Martha blutete aus Nase und Mund, ihr Gesicht war geschwollen, und ihr zarter Körper zeigte deutlich die Spuren