Turmstraße 4. Hans Weinhengst

Turmstraße 4 - Hans Weinhengst


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und kurze Geschichten, die für gewöhnlich von Liebe und Leid handelten. Lange Zeit hatte er nur für sich selbst geschrieben und, was die Musen ihm schenkten, eifersüchtig vor fremden Blicken bewahrt. Zuletzt aber hatte er einen Menschen gefunden, den er an all seinen Geheimnissen teilhaben lassen konnte und in dem er einen bewundernden Zuhörer fand, wenn er – fernab vom Getriebe der Welt – seine Verse vortrug und voll innerer Anteilnahme Erzählungen von verlorenem Liebesglück oder den Entbehrungen eines notleidenden Waisenkinds vorlas.

      Dieser Mensch war die vom Leben schwer geprüfte Martha Groner aus dem ersten Stock, Nummer 16. Wie er, der schüchterne Bursche, diese bezaubernde junge Frau kennenlernen und ihr nahekommen konnte, darüber wunderte sich Karl insgeheim oft. Lange schon hatten die beiden sich zueinander hingezogen gefühlt, und die Liebe, diese wunderbarste Form schöpferischer Energie, hatte Mittel und Wege gefunden, sie als Paar zusammenzuführen. Martha liebte Karl voll Temperament und Leidenschaft, während das Herz des Burschen erfüllt war von seliger Schwärmerei für sie. Seit dem Moment ihres gegenseitigen Liebesgeständnisses wirkte er noch mehr in sich versunken, und er lebte in einem Traum, in dem ihn der bedrückende Alltag nicht zu erreichen schien.

      Wie ein Schatten auf einem Lichtbild trübte jedoch ein Umstand das Liebesglück der beiden jungen Menschen: Martha hatte sehr unter ihrem Vater zu leiden, der sie nicht nur unmenschlich behandelte, sondern ihr auch die Beziehung mit Karl untersagte – wie übrigens mit jedem anderen Mann, außer natürlich mit jenem, den er für sie auserkoren hatte. So mussten sie ihre Liebe verbergen und konnten das Glück ihres Zusammenseins nur verhältnis mäßig selten auskosten. Dieser Umstand beschenkte sie allerdings mit Stunden voll bitterer Süße und Romantik.

      An jenem Abend, an welchem sich die hässlichen Szenen in Marthas Familie abspielten, hatte Karl sie von ihrem Arbeitsplatz heimbegleitet. Aber er ging danach selbstverständlich nicht mit bis zum gemeinsamen Wohnhaus. Er wagte es nicht einmal, ihr in angemessenem Abstand zu folgen, sondern verbrachte trotz der empfindlich kühlen Abendluft etwa eine halbe Stunde im nahe gelegenen Park. Als er schließlich heimkam, war der tobende Groner von den Polizisten schon abgeholt worden, und es herrschte wieder die gewohnte Ordnung im Haus.

      Seltsam war, dass Familie Weber von jenem Aufruhr so gar keine Notiz genommen hatte. Wohl, weil derartige Vorkommnisse keine Seltenheit darstellten unter diesem Dach, weder bei den Groners noch bei sonst einer Hauspartei. Die Bewohner hatten sich an ein gewisses Maß an Aufregung und Tumult gewöhnt. Daher erfuhr Karl an diesem Abend nicht mehr, was seiner Freundin zugestoßen war. Sonst hätte er sicher nicht so gut geschlafen und vermutlich kaum bis zum späten Morgen in süßen Träumen geschwelgt, aus denen ihn ein grober Stoß seines Bruders Anton riss.

      »Hallo, du faule Ratte, raus aus dem Bett! Die Mutter hat dich schon zweimal geweckt. Und mich mit! Der Teufel soll dich holen und mit dir in einem Bett schlafen! Einmal rollst dich ein wie ein Igel, dann schlägst du im Traum wild um dich, wälzt dich herum oder hüpfst im Bett wie eine Ziege auf der Alm. Das halt ich nimmer lang aus!«

      Anton bellte diese Worte in seiner polternden, ungeschliffenen Art. Wie aus dem Himmel vertrieben rieb sich Karl die Augen und zog eine Grimasse, als könnte er seinen Tränen nicht mehr Einhalt gebieten.

      »Ich kann doch nichts für das, was ich im Schlaf tu. Außerdem brauchst du fast das ganze Bett für dich allein und mir bleibt überhaupt kein Platz.«

      »Halt den Mund und verschwind aus dem Wanzenstall! Wenn dieses Weibsbild nicht für mehr Sauberkeit sorgt, frisst uns sowieso bald das Ungeziefer. Die Leintücher schauen aus wie Miniatur-Schlachtfelder. Pfui Teufel!«

      »Nörgeln ist alles, was du kannst, du Blindgänger!«, verschaffte sich Anna mit schriller Stimme aus der Küche Gehör, »den ganzen Tag treibst dich rum, spielst Karten, versäufst das Arbeitslosengeld und stänkerst – was anderes kannst du nicht. Und wir rackern uns die Seele aus dem Leib! Vergiss mich!«

      »Pass auf, was du sagst, du aufgeblasene Gans, oder du kriegst von mir eine aufs Maul, dass dir die Lippen anschwellen wie Salatgurken!«

      »Kruzifix! Ihr Falotten!« Jetzt mischte sich auch die Mutter in den Streit ein, die gerade die Schmutzwäsche aus dem unteren Kastenfach einsammelte: »Ist es notwendig, schon in aller Früh die Luft im Zimmer mit Schreien und Streiten zu verpesten? Ich schau da nicht mehr lang zu. Noch ist das meine Wohnung und noch werd ich hier wohl das Sagen haben. Karl, es ist schon acht und du musst unbedingt vor zehn am Arbeitsamt sein, oder du verlierst deine Unterstützung! Ihr seid elende Mistviecher! Die ganze Woche flaniert ihr nur in der Gegend rum, und wenn ich mich nicht am End drum kümmern würd, würdet ihr nicht einmal rechtzeitig losgehen für die paar Schilling, die ihr vom Staat kriegt. Mir scheint, ich muss andere Saiten aufziehen!«

      Karl war unterdessen aufgestanden und schlüpfte in sein Gewand.

      Frau Weber keppelte noch eine Weile weiter. Hatte sie einmal begonnen zu predigen, hörte sie gewöhnlich nicht auf, bis sie den Familienangehörigen ihr Repertoire an immer gleichen Vorhaltungen heruntergebetet hatte. Und diese Liste war ziemlich lang.

      Murrend drehte Anton das Gesicht zur Wand. Anna räumte mit zorniger Miene die Küche auf und schepperte dabei mit dem Geschirr mehr als nötig. Die tiefbetrübte Erna verschwand wortlos zum Einkäufen. Ihren Buben nahm sie mit. Trotz der erheblichen Anstrengung, die das für sie bedeutete, konnte sie es dem Kleinen nicht antun, ihn alleine zu lassen unter diesen aufgebrachten, wüst schimpfenden Menschen.

      Der alte Herr Weber, der in einer Maschinenfabrik beschäftigt war, und der auf einem Bahnhof Dienst versehende Heinrich hatten das Haus schon früh am Tag verlassen.

      Auch Karl beeilte sich nun, fortzukommen. Nicht nur, um zu gebotener Zeit am Arbeitsamt zu sein, sondern auch, weil es morgens besonders ungemütlich war in der kleinen Wohnung, selbst wenn zufällig einmal keine derart geladene Stimmung herrschte. Trotz der beiden geöffneten Fenster hielten sich in den Räumen hartnäckig die ekelhaften Gerüche des Schlafs, der menschlichen Ausdünstungen und der zerdrückten Wanzen.

      Karl wollte eben gehen, als ihn Anna zurückhielt.

      »Du gehst mir hoffentlich nicht mit so einem verdreckten Mantel außer Haus! Geh her da und putz dich ab!«

      Folgsam schlüpfte er aus den Ärmeln, ergriff eine Bürste und stellte sich auf den Gang. Dort stand schon eine Nachbarin, die den Staub aus ihren Kleidungsstücken klopfte. Und eben erschien eine zweite, einen Korb voller Lebensmittel und Gewürze in der einen, den zweijährigen Sohn an der anderen Hand.

      Karl und die beiden Frauen tauschten Grüße aus. Die eben Hinzugekommene beeilte sich, die Wohnungstür aufzusperren und den Korb auf dem Küchenboden abzustellen, um sich sofort an die Nachbarin zu wenden.

      »Frau Hesky, was sagen Sie zum Groner? Dieser Wahnsinnige wird irgendwann noch Frau und Tochter erschlagen. Wenn’s so weit ist, denken Sie an meine Worte!«

      »War er wieder rabiat?«, fragte die andere neugierig. »Ich hab gestern schon Lärm heraufghört von da unten, mich aber nicht drum gekümmert.«

      »Verhaftet ist er worden!«, antwortete die erste mit bedeutsamer Miene. »Der hätt die arme Martha umgebracht, wenn nicht die Nachbarn gekommen wären und die Polizei gerufen hätten. Die armen Frauen!«

      »Hätt ich so einen Mann, ich würd ihn erschlagen – und kein Gericht würd mich verurteilen!«

      Karl, der zu bürsten aufgehört hatte, lauschte dem Gespräch. Er verspürte einen Stich im Herzen und seine Wangen erbleichten. Unterdessen beschäftigte sich der kleine Bub der Nachbarin mit dem Essenskorb in der Küche. Plötzlich waren Geräusche zu hören, als ginge Glas zu Bruch, und schon kam das Kind weinend aus der Wohnung gelaufen, die kleine blutende Hand in die Höhe gestreckt.

      »Mama, Mama!«, piepste sein Stimmchen unter Tränen, »aua, aua!«

      Die schwatzhafte Mutter lief aufgeregt in die Wohnung und erstarrte für einen Moment. Dieser Unglücksrabe! Der Korb lag umgefallen da, zwei Flaschen waren zerbrochen, Zucker, Fett, Mehl und Salz schwammen in einer Pfütze aus Essig und Petroleum! Eilig versuchte die Frau zu retten, was zu retten war. Dann stürzte sie sich auf den Kleinen, der immer noch weinte, und schlug


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