Turmstraße 4. Hans Weinhengst
Geschichten … Brutale Angriffe der Polizei gegen eine Demonstration verzweifelter Arbeitsloser und wieder schamlose Urteile von Klassenjustiz. Ein Fall zeigte auf ganz besonders empörende Weise die barbarische Willkür des heimischen Strafrechts: Ein wegen Diebstahls vorbestrafter und der Stadt verwiesener Mann war unerlaubt wiedergekommen und hatte aus einem Geschäft eine Wurst gestohlen. Und weil selbiges »nach Überwindung gewisser Hindernisse« geschah, wie die Anklage des Staatsanwalts blumig formulierte, wurde der Mann wegen »Raubes« und unerlaubten Betretens der Stadt zu einem Jahr Kerker verurteilt. Ein faschistischer Rotzbengel hingegen, der einen Arbeiter schwer verletzt hatte, ging straffrei aus – »weil seine Handlung in Notwehr erfolgte« … Eine Frau hatte zwei Monate in Untersuchungshaft verbracht, bis schließlich ihre vollständige Unschuld erwiesen war. Und jetzt wollte man ihr nicht einmal die Haftentschädigung erstatten, die ihr als Schadenersatz und Schmerzensgeld zustand. Widerlich! Widerlich!
Karl steckte die Zeitung ein. Er sah auf die Uhr des Kirchturms, der sich über den Platz erhob. Halb zwölf, also noch eine halbe Stunde, bis Martha das Büro verlassen würde. Die Sonne hatte sich hinter Wolken versteckt, und jäh empfand Karl die Kälte. Er stand auf und ging im Park umher. Dann nahm er die Zeitung wieder heraus und las zum Zeitvertreib nun auch die Rubrik »Aktuelles«. Kind von Auto überfahren, tot … Sturz eines Hausmädchens aus einem Fenster des dritten Stocks, weil die Herrschaft nicht – wie gesetzlich vorgeschrieben – dafür gesorgt hatte, dass sie beim Fensterputzen einen Sicherheitsgurt anlegte … Messerstecherei unter Betrunkenen … Familientragödien – die eine aufgrund großen Elends, die andere aus Eifersucht … Selbstmord in Arrestzelle …
Karl überflog all diese Berichte beiläufig, ohne besonderes Interesse. Aber beim letzten Artikel blieb er mit weit aufgerissenen Augen hängen, und nach den ersten Zeilen las er den folgenden Beitrag aufmerksam noch einmal von Anfang an:
»Selbstmord in Arrestzelle. Montagabend wurde der fünfzigjährige Kriegsinvalide Matthias Groner, Wien X, Turmstraße 4, ein leicht erregbarer, bereits zweimal in der Nervenheilanstalt ›Am Steinhof‹ internierter Mann, wegen eines heftigen Tobsuchtsanfalls verhaftet. Betrunken und offenbar aufgebracht wegen des späten Heimkommens seiner Tochter prügelte er auf diese ein und drohte, sie umzubringen. Die verzweifelten Hilferufe der jungen Frau und der Mutter alarmierten die Nachbarn. Diese drangen in die Wohnung ein und überwältigten den Rasenden. Die daraufhin verständigten Polizisten führten den Mann, der auch heftigen Widerstand gegen die Staatsgewalt leistete, ins Bezirksgefängnis ab. Dort wurde der wild um sich Schlagende in eine Einzelzelle gesperrt. Als man nach einiger Zeit nach ihm sah, fand man Groner an seinen Hosenträgern erhängt. Alle Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos.«
Erschüttert faltete Karl die Zeitung zusammen und steckte sie ein. »Schrecklich, schrecklich!«, murmelte er.
Mit einem Mal kam ihm ein Gedanke, ein hässlicher, egoistischer, aber durchaus natürlicher Gedanke: Jetzt ist Martha frei, wir müssen unsere Liebe nicht mehr verstecken. Und er erhob sich mit einem freudigen Gefühl. Gleich darauf schämte er sich dafür. Wie würde Martha das aufnehmen? Dieser Mann war immerhin ihr Vater!
Plötzlich wurde Karl wütend. Mit zorniger Stimme sprach er halblaut zu sich selbst:
»Und sogar den vollen Namen gibt die Polizei preis! Dieselbe Polizei, die taktvoll die Privatsphäre von korrupten Bankdirektoren und anderen Schurken aus der bürgerlichen Klasse in ihren öffentlichen Berichten schützt, kennt weder Anstand noch Gnade, wenn es sich um einen Arbeiter handelt! Arme Martha, sogar deinen Namen hat man in den Schmutz gezogen mit den bösartigen Worten ›wegen des späten Heimkommens seiner Tochter‹!«
Als Karl schließlich mit seiner Freundin im Wagen einer Elektrischen saß, war er sich nicht sicher, ob sie schon über das Schicksal ihres Vaters Bescheid wusste. Aber er wagte nicht, sie zu fragen. Schweigend saßen sie nebeneinander. Gedankenverloren blickte er vor sich hin, wie in eine unbestimmte Ferne. In seiner linken Hand hielt er Marthas rechte und mit der anderen streichelte er unaufhörlich dieses zarte Händchen. Martha saß da, als würde sie sich schämen, mit gesenktem Kopf und halb geschlossenen Augen. Mehrmals setzte Karl an zu reden, aber er konnte keinen Anfang finden. Auch wollte er in der Öffentlichkeit nicht wirklich über den Zeitungsartikel sprechen. So schleppte sich die Fahrt, die den beiden so lang vorkam wie nie zuvor, zu ihrem Ende.
Nachdem sie ein Stück des Weges von der Haltestelle nach Hause gegangen waren, blieb Martha stehen und flüsterte: »Karl, danke, dass du gekommen bist. Aber jetzt müssen wir uns trennen, damit man uns nicht zusammen sieht. Wir werden uns jetzt wohl auch länger wieder aus dem Weg gehen müssen.« Und als sie sah, dass Karl traurig den Kopf sinken ließ, fügte sie hinzu: »Ich bin ja selber unglücklich darüber, aber wir müssen uns eben in Geduld üben.«
Nach kurzem Überlegen antwortete Karl mit mitleidigem Blick: »Martha, mein Engel, es fällt mir wirklich schwer, aber ich muss dir was sehr Trauriges zeigen. Weil du anscheinend noch nichts drüber weißt und es besser ist, du erfährst es jetzt von mir, als später von jemand andern. Sei tapfer, Schatz, und lies das!«
Mit diesen Worten überreichte er ihr die Zeitung und zeigte auf den Artikel, der vom tragischen Tod ihres Vaters berichtete. Alarmiert begann Martha zu lesen und sank dann mit einem Aufschrei des Entsetzens in Karls Arme.
»Jessas, Vater! So ein schreckliches Ende …! Arme Mamsch! Und ich bin schuld! Das überleb ich nicht!«
Sie weinte so bitterlich, dass Passanten neugierig stehen blieben. Karl brachte die Willenlose unter zärtlich tröstendem Zureden in ihre Wohnung, die er zum ersten Mal in seinem Leben betrat. Unterwegs begegnete er sonderbar fragenden Blicken und auf der Treppe vernahm er hinter sich mitleidiges Tuscheln.
Als sie durch die dunkle Küche gingen, hörten sie aus dem Zimmer heftiges Schluchzen. Frau Groner saß auf dem Kanapee und wurde von Weinkrämpfen durchbebt. Wer weiß, wie lange sie da schon saß! Ihr Gesicht in den Händen vergraben, achtete sie nicht auf das Kommen der beiden jungen Leute.
Karl grüßte sie rücksichtsvoll und drückte mit einfachen Worten sein Beileid aus, aber die Frau schien ihn nicht zu hören. Martha sah die Mutter für einen Moment aus tränenverschleierten Augen an, dann ging sie auf sie zu und setzte sich zu ihr. Sie umarmte sie und drückte sie an sich in stillem, schmerzlichem Einvernehmen und mit dem bitteren Gefühl der Schuld.
Selbst schwer erschüttert zog sich Karl zurück, Mutter und Tochter diskret ihrer Trauer überlassend.
2
Acht Wochen waren seit Groners Tod vergangen.
Das Leben der beiden Hinterbliebenen, Witwe und Tochter, ging ruhig und ereignislos weiter. Mit anderen Menschen hatten sie jetzt weniger denn je zu tun. Bloß Karl Weber war ein oft und gern gesehener Gast. Nicht nur Martha freute sich über seine Besuche, auch der Mutter wuchs der ruhige, empfindsame Bursche mehr und mehr ans Herz. Er konnte mit zärtlichen Worten Trost spenden, und es gelang ihm, die beiden von ihrer Unschuld an Groners tragischem Tod zu überzeugen, ohne ihnen zu nahe zu treten oder ihre Gefühle zu verletzen. Auch in praktischen Belangen machte er sich mithilfe seiner Kraft und Geschicklichkeit nützlich.
Da Martha ihre Mutter nicht alleine lassen wollte, diese aber nur selten Anlass sah, außer Haus zu gehen, verbrachte Karl, um mit seiner Liebsten zusammen zu sein, ausgiebig Zeit in der Groner’schen Wohnung. So saß er auch eines Samstagnachmittags Martha gegenüber beim Tisch, auf dem verschiedene Handwerksutensilien lagen: Spulen mit isolierten und nicht isolierten Drähten, kleine Holzbretter, Schrauben, Nägel, Schalter und anderes für die Herstellung eines Radioapparates Erforderliche.
Frau Groner war für zwei bis drei Stunden fortgegangen, und die beiden jungen Leute wollten diese Zeit nützen, um sie bei ihrer Rückkehr mit einem selbst gefertigten Radio-Empfangsgerät zu überraschen.
Martha hatte mit ihrem ersparten Taschengeld nach Karls Anweisungen das nötige Material besorgt und dieser hatte ein geliehenes Buch über den Selbstbau von Radiogeräten studiert. Nun entstand unter ihren Händen in fröhlicher Zusammenarbeit ein einfaches, aber ansehnliches Kästchen, in dem Spulen, Kondensatoren, Elektronenröhren und andere Dinge