Turmstraße 4. Hans Weinhengst

Turmstraße 4 - Hans Weinhengst


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einen tiefen Seufzer aus, als Schmerzen die Erinnerung an das Geschehene zurückbrachten.

      Schwach fragte sie, während sie zärtlich den Kopf der Mutter streichelte: »Wo ist der Vater?«

      »Sie haben ihn verhaftet«, antwortete die Mutter mit tonloser Stimme.

      Nach einer kurzen Pause sagte das Mädchen: »Es wird immer schlimmer mit ihm. In letzter Zeit ist er unerträglich.«

      »Ja, Kind, aber an dem bist auch du ein bissl schuld. Es wär gescheiter, du würdest ihm nicht so viel widersprechen. Komm ihm mehr entgegen, gib halt öfter nach. Denk dran, er ist ein Krüppel.«

      »Ich kann nimmer, Mamsch. Ich hab doch eh getan, was er wollte, ich hab auch immer Verständnis gehabt für ihn. Und ich hab den Glauben nie aufgegeben, dass er sich bessert. Aber er schikaniert und malträtiert uns beide immer ärger und jetzt schon ganz ohne Grund. Ja, ich weiß, er ist ein Kriegsopfer und bedauernswert, und mir tut’s auch leid, dass er wegen mir eingesperrt ist. Ich werd in Zukunft gehorchen so gut es geht und auf ihn Rücksicht nehmen – Respekt oder Liebe kann er allerdings nimmer von mir erwarten.«

      Die Mutter hob den Kopf und sah ihre Tochter voll Schmerz und Tadel an: »Er ist immerhin dein Vater!«, sagte sie. »Und er war nicht immer so. Ein fescher Mann war er einmal, strotzend vor Kraft und herzensgut. Ich hab ihn furchtbar gern gehabt, und wenn ich an damals denk, dann hab ich ihn heut noch lieb. Ein armer Kerl ist er. Der Krieg hat ihn kaputt gemacht.«

      »Ja, Mamsch, wenn er nicht so jähzornig wär und wenn er mich lieben tät, wie das ein Vater halt tut,« – Martha betonte das Wort »Vater« – »wär ich froh und er könnt alles von mir haben. Aber, Mamsch, er ist ja nicht nur zu mir so gehässig, sondern auch zu dir. Und mir geht’s nur noch um dich, sonst wär ich schon lang davongelaufen. Wieso regt er sich überhaupt auf, wenn ich mich mit dem Karl Weber treff? Der ist doch so ein guter und anständiger Mensch!«

      »Geh, das brotlose Armutschkerl! Der Vater sagt, so wie du ausschaust, so wie du den Männern g’fallst, kannst Glück haben und einen ganz Reichen finden. Außerdem weißt du ja, was er von dir will.«

      »Dass ich den Buckligen heirat’? Nie! Und wenn der drei Häuser hätt, würd ich ihn nicht zum Mann nehmen. Der ist so hässlich, dass mir vor ihm graust. Und primitiv ist der auch, und ein Trankler.«

      »Aber reich! Er hat ein Haus und eine gutgehende Firma. Und er sagt, dass er dir zuliebe ein anderer Mensch werden will«

      Martha gab keine Antwort mehr. Und auch die Mutter verfiel jetzt in Schweigen.

      Zwar lag dem Mädchen noch etwas auf dem Herzen, aber sie konnte nicht darüber sprechen. Sie betrachtete das Gesicht der Mutter. Noch jung – zweiundvierzig – und schon voller Falten. Aber irgendwie immer noch hübsch. Die Mutter hatte dieselbe Anmut in den Gesichtszügen wie die Tochter.

      Arme Mamsch! Welch großes Leid hatte in diesem Gesicht seine Spuren hinterlassen! Trotz alledem war sie immer geduldig, zuvorkommend und verständnisvoll. Würde sie allerdings ein wenig mehr Stärke zeigen, wäre der Vater vielleicht doch zurückhaltender und nicht so despotisch. Er war indes nicht nur herrisch, streitsüchtig und brutal, nein, er trank obendrein bis zur Bewusstlosigkeit, zuletzt immer öfter. Völlig besoffen verlor er alle Hemmungen und benahm sich wie ein wildes Tier.

      Martha erschauderte bei dem Gedanken. Nichts, was sie bisher erlebt hatte, ließ sich mit dieser wahnsinnigen Angst vergleichen, die ihr letzten Samstag das Herz abgeschnürt hatte, als der Vater die Abwesenheit der Mutter ausnützte, um sie, seine eigene Tochter, mit Gewalt ins Bett zu zerren. Er hätte sie – vor Geilheit beinahe von Sinnen – überwältigt, wenn nicht im entscheidenden Augenblick die Mutter am Eingang geklopft hätte. Aber wäre ihr das Glück beim nächsten Mal wieder hold und würde der Vater sein Ziel dann nicht mit noch größerer Brutalität und Vehemenz zu erreichen suchen?

      Nein, der Mutter konnte sie das nicht erzählen. Ihretwegen hatte sie den Vater auch nicht bei der Polizei angezeigt. Ihn hätte sie nicht verschont. Er verdiente keine Gnade.

      Plötzlich bemerkte das Mädchen, dass die Mutter – am Sessel sitzend, den Oberkörper aufs Bett gelegt – eingeschlafen war. Martha erhob sich vorsichtig, dämmte die Flamme der Petroleumlampe und legte sich wieder hin. Bald befand sie sich im grenzenlosen Land der Träume. Dort konnte sie Schönheit, Freude und Liebe erfahren – Dinge, nach denen sie sich im wirklichen Leben sehnte und denen sie doch so selten begegnete.

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      Wohnung Nummer 32 im zweiten Stock des Gebäudes Turmstraße 4 war das Zuhause der Familie Weber. Diese bestand aus dem Familienoberhaupt Herrn Anton Weber, einem achtundfünfzig Jahre alten, hochgewachsenen Mann, an dessen Kopf- und Barthaaren man bereits die eine oder andere graue Stelle erkennen konnte, seiner Ehefrau Amalie, vierundfünfzigjährig, die zwar deutlich älter aussah, aber eine bemerkenswerte Rührigkeit und mitunter auch Konfliktbereitschaft an den Tag legte, den beiden Söhnen Anton und Karl und den zwei Töchtern Anna und Erna. Letztere war zwar verheiratet, wohnte aber in Ermangelung eines eigenen Heims mit ihrem Ehemann Heinrich und dem kleinen Sohn Heinz ebenfalls in der bescheidenen Wohnung der Eltern.

      Anna war eine einunddreißigjährige ledige Frau, die schon zweimal kurz vor der Hochzeit gestanden war. Außerdem wäre sie bereits Mutter zweier Kinder, hätte ein gnädiges Schicksal sie nicht von dem stets zur Unzeit eintreffenden Segen befreit: Zuerst nahm es ihr in Gestalt eines Mitleid empfindenden Todes den neugeborenen Buben, das andere Mal unterbrach eine Komplizin des Schicksals, die Hebamme, Annas Schwangerschaft. Bedauerlicherweise verursachte diese wertvolle Hilfe wohl durch ungeeignete Werkzeuge irreparablen Schaden an Annas Gesundheit. Enttäuschungen und chronische Leiden hatten sie innerlich verhärmt, sie war aufbrausend und leicht erregbar. In jungen Tagen ein auffallend hübsches, lebenslustiges Mädchen, welkte sie nun mehr und mehr dahin. Während fröhlicher Momente ließ sich aber manchmal noch ihr früherer Charme erahnen.

      Ihre um sechs Jahre jüngere Schwester Erna, ein kleines, zierliches Wesen, war nicht im wirklichen Sinne schön, aber auch weit davon entfernt, hässlich zu sein. Ihr fahles ovales Gesicht mit der Stupsnase und den dunklen, träumerisch wirkenden Augen spiegelte Herzensgüte und Milde, das schlicht in den Nacken fallende braune Haar unterstrich den Eindruck des bescheidenen, anspruchslosen Gemüts. Sie war so etwas wie der wohltätige, versöhnende Engel der Familie. Als sie vor zwei Jahren den Eltern gestehen musste, guter Hoffnung zu sein, erhielt sie von der Mutter eine endlose Reihe vorwurfsvoller Moralpredigten und vom Vater zwei schallende Ohrfeigen. Danach verheiratete man sie mit ihrem Geliebten, und man gewährte den beiden vorübergehend Obdach in der elterlichen Wohnung. Glücklicherweise war der nunmehrige Ehemann bei der Bahn, also ein Staatsbediensteter. Diese halbwegs sichere Anstellung garantierte seiner jungen Familie ein zuverlässiges Einkommen – ein Segen in Zeiten allgemeiner Arbeitslosigkeit. Zudem erwies er sich als besonnener und fürsorglicher Gatte, der weder rauchte noch trank. So hätten Erna und Heinrich vielleicht ein zufriedenes Paar sein können, erfüllt von gegenseitiger Liebe und gemeinsamer Verantwortung für ihren Spross Heinz, wäre ihnen ein eigener Hausstand vergönnt gewesen und hätte Erna eine kräftigere und gesunde Lunge besessen. Das Zusammenleben mit fünf erwachsenen Menschen in der kleinen Zimmer-Küche-Wohnung war dem ehelichen Glück mehr als abträglich und hatte einen zermürbenden Einfluss auf die Gesundheit der an Schwindsucht leidenden jungen Frau.

      Anton war achtundzwanzig und seit zwei Jahren ohne Arbeit. Von Beruf Metalldreher fand er nur ab und zu kurzfristig Beschäftigung und brachte daher den Großteil der Zeit zwangsläufig mit Nichtstun zu. Er war ein ungeschliffenes Raubein mit Hang zu Alkohol und Kartenspiel, ein rücksichtsloser Ichmensch und zuweilen ein echter Familientyrann, dem einzig der strenge, unbeugsame Vater beizukommen vermochte.

      Welch ein Unterschied zum Charakter seines Bruders Karl! Der Zwanzigjährige, mittelgroß und von schöner Statur, zeigte starke Ähnlichkeit mit seiner Schwester Erna und war gutmütig, harmoniebedürftig und ausgesprochen träumerisch veranlagt. Sein ebenfalls ovales Gesicht unter dunkelblondem Haar zeigte weibliche Züge, und aus seinen blauen Augen blickten stets staunende Neugier und herzliche Fröhlichkeit. Bisweilen ließ ihn sein ausgeprägter Hang


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