Turmstraße 4. Hans Weinhengst
mit vor Eifer rot glühenden Wangen machte sich das Paar mehr als zwei Stunden lang daran zu schaffen. Plötzlich warf Karl den kleinen Hammer von sich und sprang auf.
»Und fertig!«, rief er freudig. »Probieren wir unser Werk gleich einmal aus! Wir müssen das Gerät nur noch mit dem Akkumulator und dem Lautsprecher verbinden – und los geht’s! Halt! Wir brauchen noch Antenne und Erdung!«
»Als Antenne können wir eine Matratzenfeder nehmen!«, schlug Martha vor. »Mit der Erdung wird’s schwierig, weil wir weder Leuchtgas- noch Stromanschluss in der Wohnung haben. Wir werden bald beides kriegen, ich hab schon um die Einleitung angesucht. Nur, müssen wir wirklich so lang warten?«
»Aber nein!«, war Karls entschiedene Antwort. »Ich frag die Hausmeisterin, ob sie uns erlaubt, dass wir einen Draht an der Wasserleitung befestigen, den wir dann von dort über den Gang in die Wohnung legen.«
Die im Erdgeschoß wohnende Hausbesorgerin war eine ehrwürdige Matrone, deren rundlicher Körper einem wandelnden Fass ähnlich sah. Nachdem der Liegenschaftseigentümer nicht vor Ort ansässig war, lag die Vollmacht in allen verwaltungstechnischen oder die Hausordnung betreffenden Fragen in ihren Händen. Das machte sie zu einer Ehrfurcht gebietenden Respektsperson. Sämtliche Arbeiten überließ sie ihren Kindern, während sie sich selbst ausschließlich in leitender Funktion sah. Sie hasste Geschwätzigkeit und Klatschsucht – bei anderen.
Als Karl seine Bitte ausgesprochen hatte, wiegte sie gravitätisch das kugelförmige Haupt mit dem roten Gesicht, in dem eine riesige Nase saß, die auch jeder männlichen Physiognomie beherrschend ihren Stempel aufgedrückt hätte.
Das Kopfwackeln war offenbar zustimmend und signalisierte Einverständnis, denn nach einem tiefen Seufzer sagte sie: »Na ja, wieso nicht? Das wird doch der Wasserleitung hoffentlich nicht schaden, wenn Sie einen dünnen Draht drüberwickeln. Und das Haus wird auch nicht schäbiger, wenn ein Draht am Gang liegt. Passen S’ aber auf, dass der niemanden stört. Sie wissen ja selber, was für streitsüchtige Kanaillen da herinnen wohnen.«
Karl wollte sich schon zufrieden davonmachen, aber so einfach ließ die Alte gewöhnlich kein Opfer gehen, das einmal in ihre Fänge geraten war.
»Na, na, junger Herr, nur nicht so eilig! Sie haben doch Zeit! Leider sogar viel Zeit, gell? Es ist zum Heulen heutzutag, dass junge, fleißige Leut mehr Freizeit haben, als ihnen lieb ist! So kommen der ganze Unfug zustande und all die Gaunereien! Es ist ja furchtbar, wenn man heut in die Zeitung schaut. Sagen Sie, wie geht’s denn den armen Frauen, den Gronerischen? Haben sie sich in ihrem Schmerz schon gefasst?« Sie atmete tief auf. Aber als Karl antworten wollte, fuhr sie rasch fort: »Dass sie nur nicht zu arg trauern, gell! Ehrlich gesagt haben sie nicht allzu viel verloren, ihr Leben ist jetzt sicher ruhiger. Der alte Groner – Gott hab ihn selig! – hat sie ja nur sekkiert. Es ist wirklich nobel, wie Sie sich um die zwei Frauen kümmern, die wären jetzt ganz auf sich gestellt, und bestimmt spricht das Herz da ein Wörterl mit, gell? Das Mädel ist aber auch eine Hübsche – und so anständig! Das muss ihr sogar der Neid lassen.« Bei diesen Worten rollte das schwatzende Fass vielsagend die Augen. »Wenn man heutzutag nur leichter Arbeit fänd – Sie haben ja auch keine, oder? Schauen Sie, ich hab zwölf Kinder, sieben sind verheiratet und die fünf ledigen wohnen noch bei mir. Von denen sind vier Söhne arbeitslos, und den Gatten von drei Töchtern geht’s nicht anders.«
»Zwölf Kinder!«, rief Karl staunend, eigentlich nur, um irgendetwas zu sagen.
»Ja, zwölf Kinder!«, ratschte die Frau weiter. »Aber, was glauben Sie denn: Ich hätt neunzehn, wenn nicht sieben schon tot wären. Was hab ich getrauert und geweint um jedes einzelne, besonders um den letzten Buben! Der ist mit siebzehn an einer Verletzung gestorben, die er sich beim Fußballspielen zugezogen hat. Ich rat Ihnen: Spielen Sie um Gottes Willen nie Fußball, gell! Aber heut denk ich mir fast, es ist besser, dass sie tot sind. Die würden vielleicht Gott weiß was mitmachen, wenn sie noch am Leben wären. Na ja! Also, montieren Sie ruhig Ihren Kontakt am Wasserhahn, dass Sie schön Ihre Radiomusik hören, gell! Und grüßen Sie mir die lieben Frauen!«
»Danke! Auf Wiedersehen!« Karl, der die ganze Zeit nur ungeduldig auf das Ende des Wortschwalls gewartet hatte, wandte sich rasch zur Tür.
»Auf Wiederschauen, junger Herr!«
»Zwölf Kinder, neunzehn Mal gebären!«, murmelte Karl in Gedanken, während er die Treppe nach oben lief. »Furchtbar!«
Er entschuldigte sich bei Martha für sein langes Fortbleiben, aber sie lächelte nur.
»Ich hab selbst schon erlebt, wie schwer es ist, der Hausmeisterin zu entkommen. Es ist jetzt meine Aufgabe, jeden Monat bei ihr den Zins abzuliefern.«
Nun sahen sie zu, dass sie mit ihrer Arbeit fertig wurden. Schon bald drehte Karl an den Skalenscheiben, mit denen man die Funktion des Rheostats, der Kondensatoren und des Variometers graduell regulieren konnte. Und mit einem Mal war das Zimmer erfüllt von der Musik eines ganzen Orchesters, und das alles kam aus diesem Gerät!
Wie Kinder freuten sich die beiden jungen Menschen über das Werk ihrer Hände. Vor allem die musikbegeisterte Martha, die bisher leider nicht oft Gelegenheit gehabt hatte, gute Musik zu hören, war hingerissen. Es ist leicht, Angehörigen der besitzlosen Klasse eine Freude zu bereiten.
»Aber jetzt verlang ich eine Belohnung«, sagte Karl, als die Radiosendung Pause machte, »und ich will sie sofort!«
»Die sollst du haben!« Hingebungsvoll bot Martha ihre Lippen dar, denen Karl einen feurigen Kuss entriss.
»Na, ihr amüsiert euch ja prächtig!«, war im selben Moment Mutter Groners Stimme zu vernehmen. Ihr Eintreten war unbemerkt geblieben, weil die Liebenden in ihrer Seligkeit das Öffnen der Wohnungstür und die Schritte durch die dunkle Küche überhört hatten.
»Das war ein Honorar, Mamsch, das ich dem Karl schuldig war. Er hat sichs aber wirklich verdient«, erklärte Martha, ein wenig errötend. »Schau, was er für dich gemacht hat!«
Sie wollte eben auf den Radioapparat zeigen, aber in diesem Moment begann die Musikübertragung von neuem und das Gerät zog ganz von selbst die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich.
»Zum Zeitvertreib«, sagte Karl, »wenn Sie allein zu Haus sind.«
»Na, ihr seid so lieb! Und ich sag euch noch was: Jetzt müsst ihr nicht mehr mit mir in der engen Wohnung hocken! Draußen lacht der Frühling! Gleich morgen macht ihr einen Ausflug, wenn das Wetter so schön ist wie heut. Die Martha braucht dringend frische Luft. Ich würd auch gern mitkommen, wenn ich an den Beinen nicht so bedient wär mit dem Rheumatismus. Das Heimgehen war für mich jetzt schon sehr anstrengend.«
Martha und Karl protestierten anfangs dagegen, die Mutter alleine zu Hause zu lassen. Aber schließlich fügten sie sich gerne und begannen voll Begeisterung, eine Route für ihre Wanderung zu planen.
Beim Abendessen mit seiner Familie war Karl so sehr von Gedanken an den bevorstehenden Ausflug vereinnahmt, dass er die außergewöhnlich beklemmende Stimmung, die über der Tischrunde hing, gar nicht wahrnahm.
Unvermittelt brach er das Schweigen und sagte freudig erregt: »Morgen mach ich einen Sonntagsausflug in den Wald. Kann mich bitte wer um fünf wecken? Ich zieh mich auch ganz leise an und werd niemanden stören.«
»Kauf dir lieber eine Zeitung und studier die Stellenanzeigen!«, schnalzte Anna in scharfem Ton.
Verdutzt blickte Karl in die Runde. Erst jetzt fiel ihm das verzagte Gesicht des Vaters auf, in dessen Zügen Schmerz und Sorge zu lesen waren. Auch bemerkte er jetzt die roten, verweinten Augen der Mutter und den ungewohnten Ernst in Antons Miene.
»Was ist passiert?«
»Jetzt hat der Vater auch noch seinen Posten verloren«, antwortete Anton düster.
Schweigen. Langes, drückendes Schweigen. Man hörte nur noch die unvermeidlichen Geräusche des Suppe-Essens: das Klimpern der Löffel und das Schlürfen der Münder.
Jetzt