Turmstraße 4. Hans Weinhengst

Turmstraße 4 - Hans Weinhengst


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sich vom Mund ab, und so eine Missgeburt richtet nur Schaden an! Ich werd noch wahnsinnig! Aber ich bring dir schon noch bei, dass du deine Finger nicht überall dran haben musst!«

      In diesem Moment erschien ein fünf- oder sechsjähriges Mädchen, die Tochter der aufgebrachten Frau. Angesichts der furchteinflößenden Szenerie näherte es sich ängstlich und versuchte, sich an der Mutter vorbei in die Wohnung zu schwindeln. Die aber ließ den wie am Spieß brüllenden Buben los, schnappte sich die Kleine und verpasste ihr eine Ohrfeige. Mit einer Schimpforgie drosch sie mehrmals in das zarte Gesicht der Tochter und riss sie an den Haaren.

      »Du unnötiger Parasit, du! Die ganze Zeit frisst du nur und faulenzt oder streunst auf der Gasse herum, aber einmal auf deinen kleinen Bruder aufpassen – dazu bist nicht imstand! Aber ich brech dir deine Knochen, bevor du zur Hure wirst und zur Verbrecherin!«

      Jetzt konnte sich Karl, der zunächst wie gelähmt schien, nicht mehr zurückhalten. Rasch entriss er das Mädchen der überraschten Mutter und maßregelte diese in ungewöhnlicher Schärfe. Da mischte sich aber die zweite Nachbarin ein, sodass das laute Geschrei weitere Personen herbeilockte und schließlich ein gewaltiger Wirbel entstand, weil die gute Mutter das Eingreifen eines Fremden in ihre mütterlichen Rechte selbstverständlich nicht widerspruchslos hinnahm.

      Karl sah zu, dass er wegkam, während aufgeregte Worte der Entrüstung noch lange von einer Tür zur anderen quer über den Gang hallten.

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      Es war noch dunkel, als Martha Groner erwachte. Sie setzte sich im Bett auf, um ein Streichholz auf dem Nachtkästchen zu suchen. Augenblicklich flammte der Schmerz in ihrem Kopf und an anderen Körperstellen, auf und erneut schossen ihr die furchtbaren Ereignisse des letzten Abends in den Sinn. Im Licht des Streichholzes erkannte sie, dass die Uhr noch nicht fünf zeigte und ihre Mutter im Bett des Vaters schlief, der also nicht heimgekommen war.

      Weil noch mehr als eine Stunde Zeit war, legte sich Martha wieder hin, auch wenn sie nicht mehr einschlafen konnte. In ihrem Inneren jagte ein Gedanke den anderen, und sorgenvolles Grübeln trug dazu bei, dass ihr Kopfweh nicht nachließ.

      Der Vater verbrachte die Nacht offensichtlich in der Gefängniszelle, vielleicht geplagt von Gewissensbissen. Martha war nun fast selbst überzeugt, dass er im Innersten nicht so schlecht war, wie es manchmal den Anschein hatte. Er war invalide, und wer weiß, was er schon alles an körperlichen und seelischen Qualen durchgestanden hatte! Vermutlich war das, was die Mutter sagte, richtig: Sie wären eine glückliche Familie, wenn der unselige Krieg nicht alles kaputtgemacht hätte.

      Aber wie sollte es jetzt weitergehen? Der Vater würde sicher bald wieder daheim sein. Sie hatte trotz allem nicht vor, gegen ihn auszusagen. Wenn wenigstens Karl ein Einkommen hätte! Dann könnten sie eine Heirat in Erwägung ziehen. Einen »arbeitsscheuen Tagedieb« nannte ihn ihr Vater ungerechterweise. Karl würde gerne eine Anstellung annehmen, wenn er nur eine bekäme. Bestimmt litt er selbst schwer unter seiner Arbeitslosigkeit. Er war ein so feiner, mitfühlender junger Mann! Bedauerlicherweise etwas zu weich. Martha wünschte sich einen Lebenspartner mit mehr Energie und Entschlossenheit …

      Schließlich wurden ihr das Herumliegen und das Sinnieren unerträglich. Sie stand auf, machte Licht und kleidete sich an. Davon erwachte auch die Mutter und erhob sich.

      »Guten Morgen, Mamsch!«, grüßte Martha leise. »Du kannst im Bett bleiben. Es ist noch sehr zeitig, und ich mach heut das Frühstück.«

      »Nein, nein! Ich kann eh nicht mehr liegen. Ich muss nachschauen, was mit dem Vater los ist. Mir hat heut Nacht was Furchtbares geträumt.«

      »Kennst du die Sprichwörter: ›Träume sind Schäume‹ und ›Was der Traum dir bringt – mit dem Traum verklingt‹«.

      »Wenn’s nur so wär. Schon öfter hat sich ein Unglück durch einen Albtraum angekündigt. Zum Beispiel, als der Vater verwundet worden ist, hab ich eine fürchterliche Vision gehabt. Wie geht’s dir, Martha, kannst arbeiten?«

      »Danke, Mamsch! Ich bin gesund, ich geh heut ins Büro.«

      Sie tranken ihren Kaffee ohne etwas dazu. Weder die Mutter noch die Tochter brachten eine Scheibe Brot hinunter. Ihre Kehlen waren zugeschnürt von Trauer und einer düsteren Ahnung. Schweigend gingen sie los. Ein Stück des Weges legten sie gemeinsam zurück, danach lenkte Mutter Groner ihre Schritte in Richtung Bezirkshauptkommissariat, während Martha mit der Tramway zur Arbeit fuhr.

      Es war ein schöner Morgen im März. Weil noch Zeit blieb, bevor sie ins Büro musste, verbrachte das Mädchen eine halbe Stunde mit einem Bummel durch die nahe Umgebung. Die sanften Strahlen der noch milden Sonne streichelten angenehm ihre Wangen, zeigten ihr die Welt in einem freundlichen Licht und verliehen den Menschen um sie herum einen Ausdruck von Fröhlichkeit und Güte. Die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse verblasste mehr und mehr, und in ihrem Herzen keimte neue Hoffnung.

      Der Frühling kommt!, dachte Martha verträumt. Und am Ende kommt er auch für mich!

      Später, an ihrem Schreibtisch im Büro, konnte sie sich des unangenehmen Eindrucks nicht erwehren, dass die Kollegen sie eigenartig, ja, mitleidig ansahen. Offenbar wechselten sie vielsagende Blicke, und anders als sonst herrschte sogar in Abwesenheit des Büroleiters drückendes Schweigen im Zimmer.

      Hatten sie etwas bemerkt? Martha betrachtete ihr Gesicht heimlich im Taschenspiegel und musste sich eingestehen, dass Spuren der Schläge des Vaters sehr wohl sichtbar waren. Im Übrigen wirkte sie ziemlich blass und kränklich. Aber konnte man daraus die Wahrheit erahnen? Warum fragte man sie nicht, was geschehen war, wie üblich, wenn jemand unpässlich, traurig oder irgendwie verletzt schien?

      Dieses Schweigen irritierte sie zunehmend. Und sie brach es selbst mehrere Male mit gespielter Fröhlichkeit, aber ihre Blicke trafen auf derart seltsame Mienen, und die Antworten der Angesprochenen waren so knapp und einsilbig, dass Martha schließlich verstummte. Tief gekränkt beschloss sie, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeit zu richten. Was war nur los? Was wussten sie? Welche Schande, wenn man hier über ihre familiären Angelegenheiten im Bilde wäre!

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      Karl stand wartend in einer unabsehbaren Reihe Arbeitsloser, die sich vom Auszahlungsschalter über einen sich endlos erstreckenden Korridor, durch das Haustor und noch dutzende Meter auf dem Trottoir vor dem Arbeitsamt wie eine gewaltige Schlange dahinzog. Polizisten sorgten für Ordnung.

      Dennoch musste er nicht lange anstehen. Die Reihe bewegte sich behäbig, aber stetig vorwärts, und Karl zwängte sich bald durch den Eingang in das Innere des Gebäudes. Nach wenigen Minuten nahm er seine Unterstützung – siebzehn Schilling – in Empfang und konnte gehen. Als er vor zwei Jahren zum ersten Mal hier gewesen war, hatte die Organisation noch sehr zu wünschen übrig gelassen, und der wöchentliche Auszahlungstag war für einen Arbeitslosen ein Martyrium des Wartens gewesen.

      Aber heute erschien Karl sogar die Viertelstunde, die er hier zubringen musste, beinahe endlos. Eine seltsame, unerklärliche Unruhe bohrte in ihm. Als er das Haus durch ein anderes Tor verlassen hatte, lenkte er seine Schritte nicht wie üblich zur nächsten Tramwayhaltestelle, sondern in Richtung des achten Wiener Gemeindebezirks, zu Marthas Arbeitsplatz. Er hatte vor, dort auf sie zu warten und sie nach Hause zu begleiten.

      Bis zum Arbeitsschluss zu Mittag war noch reichlich Zeit, dennoch lief Karl mehr als er ging, bis er schließlich vor dem riesigen Firmengebäude stand. Dort wurde ihm klar, dass seine Freundin erst nach Ablauf einer vollen Stunde herauskommen würde, wenn sie heute überhaupt da war. So schlenderte er erst ein wenig vor dem Haus auf und ab. Als ihm das zu eintönig wurde, beschloss er, einen nahen Park aufzusuchen. Die Sonne schien frühlingshaft und wunderbar warm, also nahm er auf einer Bank Platz. An einem Kiosk hatte er eine Zeitung gekauft, die er nun zu lesen begann.

      Es war widerlich! Die Arbeitslosigkeit stieg und stieg, aber die Regierung war entschlossen, das Gesetz zur Arbeitslosenunterstützung zu verschärfen. Gleichzeitig kündigte sie an, die Umsatzsteuer auf Massenartikel zu erhöhen … Acht Menschen hatten mit


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