Turmstraße 4. Hans Weinhengst

Turmstraße 4 - Hans Weinhengst


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dass er den Verlust einer solchen Lappalie je hatte betrauern können.

      Dann schwiegen beide. Ein einsamer Kuckucksruf war aus der Tiefe des Waldes zu hören. Von Zeit zu Zeit summte ein umherirrendes Insekt vorbei, und manchmal drangen Stimmen ferner Wanderer an ihr Ohr. Karl legte das Notizbuch beiseite und umfasste mit der Rechten Marthas Taille. Martha, die beim Zuhören in traurig-schönen Bildern versunken war, schlang einen Arm um seinen Hals und legte den Kopf auf seine Brust. Schweigend saßen sie lange so da.

      »Karl«, flüsterte Martha plötzlich, »ich bin so glücklich, dass ich dich hab!«

      »Meine liebe, teure Martha!« Karl drückte sie fester an sich. »Du bist mein Ein und Alles!«

      Und sie begannen, sich ihre gemeinsame Zukunft in hellen Farben und mit Worten voller Hoffnung auszumalen: Wie sie vorhatten, sich gegenseitig das Leben zu versüßen, wie sie sich ein bescheidenes, aber schönstmögliches und gemütliches Nest bauen würden und wie sie versuchen wollten, immer den Gleichklang zu bewahren und nie ein böses Wort füreinander zu haben. Niemand wäre Herr und niemand wäre Knecht, ihre Beziehung ein frei gewähltes Zusammenleben gleichberechtigter Partner.

      »Und wenn wir Kinder haben«, sagte Martha, »dann – gell, Karl – dann schlagen wir sie nicht, sicher nicht! Und wir schimpfen sie nicht so grob, wie es viele bei der Erziehung machen.«

      »Freilich, Martha. Ich hab das schon immer ausgesprochen feig gefunden, wenn Erwachsene sich an den wehrlosen Kleinen vergreifen. Außerdem sind die eh so leicht zu lenken, wenn sie Zuwendung und Liebe spüren.«

      »Ein Kind erziehen, muss was Schönes sein, weil man selber wieder irgendwie zum Kind wird! Und es verbindet die Eltern noch einmal, und es gibt dem Leben einen echten Inhalt und ein Ziel. Dabei bedeutet für viele Menschen ein Kind nur Arbeit und Belastung. Aber für uns wird’s ein Grund sein, dass wir uns miteinander freuen! Sogar den Sorgen und Entbehrungen, die wir vielleicht deswegen haben, werden wir schöne Seiten abgewinnen, und es wird uns noch mehr zusammenschweißen.«

      Martha bedachte in diesem Augenblick freilich nicht die schrecklichen Lebensbedingungen, mit denen die gegenwärtige – ach so schöne – gesellschaftliche »Ordnung« viele Eltern und Kinder konfrontierte und die im Volk weit verbreitete Geringschätzung von Bildung und Wissen, die zu den schlechten Beziehungen innerhalb der Familien beitrug. Kinder waren allzu oft unerwünscht wegen der erbärmlichen Umstände, in denen zu leben die Eltern gezwungen waren. Aber weder Martha noch Karl dachten in dieser Stunde an die raue Wirklichkeit. Sie hatten die Arbeitslosigkeit und das Elend verdrängt, und wenn sie doch einmal daran dachten, dann wirkte das alles so fern und unwirklich und schien kein echtes Hindernis darzustellen für ihre Liebe und ihr Streben nach Glück.

      An diesem Tag, in diesen wenigen Stunden, ließen die beiden ihren trostlosen, von Mangel und Not geprägten Alltag vollständig hinter sich und genossen den Augenblick der Seligkeit und den Traum von ihrer strahlenden Zukunft.

      Die Zeit verging und der Abend kam. Die tief stehende Sonne sandte nur noch vereinzelte Strahlen zwischen den Stämmen der Bäume und Sträucher hindurch zu den Liebenden. Diese waren einander nach und nach näher gekommen, versanken mitunter in wortlose Träumereien und vergaßen die große Welt immer mehr, die irgendwo, fernab von ihnen, lärmte und sich weiterdrehte mit ihren kleinen und großen Schmerzen, Ungerechtigkeiten und Banalitäten. Schon wurde es dunkel um Martha und Karl, die sich immer noch eng umschlungen in ihrer Zuflucht verbargen.

      Ihre Münder flüsterten schmeichelnde und kosende Worte, tauschten Liebesschwüre aus und bekräftigten diese mit heißen Küssen. Dazwischen herrschte oft über längere Zeit Stille, während der sie gegenseitig dem Pochen ihrer Herzen lauschten. Unterdrückte, kaum beherrschbare Leidenschaft ließ ihren Atem schwer werden und die Nähe des jeweils anderen verwirrte ihre Sinne. Begierig sog Karl die Wohlgerüche des weiblichen Körpers ein. Sehnsucht, ein neuartiges Verlangen und eine unerklärliche Angst ließen Martha erschauern.

      »Karl!«, flehte sie flüsternd. »Wir sollten jetzt gehen!«

      »Nein Martha! Noch nicht! Zwei liebende Herzen, weit weg von all den anderen Menschen – ist das nicht wunderschön?«

      »Karl! Mir ist ein bissl bang! Ich weiß nicht …«

      »Wovor fürchtest dich, Schatz?« Und nach einem tiefen Seufzer setzte er nach: »Martha, ich kann nicht weggehen, bevor wir uns nicht vollständig gehören!«

      »Nein, Liebling! Nicht vor der Hochzeit! Und schon gar nicht da, es könnt ja wer kommen!«, widersprach Martha schwach.

      Karl blieb beharrlich. »Martha, meine Angebetete«, drang er in sie, »jetzt zeig mir, dass du mich gern hast! Du brauchst keine Angst haben, hierher verirrt sich niemand. Außerdem würden wir den schon lang vorher hören.«

      Mit diesen Worten zog er sie an sich und küsste sie auf ihren Mund mit einer Leidenschaft, deren Glut ihr Blut derart erhitzte, dass sich durch die heftige Erregung in ihren bebenden Atem seufzende Laute mischten. Karl, berauscht vom brennenden Wunsch sie zu besitzen, war sich plötzlich seiner Worte so sicher wie nie zuvor und brach mit der unüberwindlichen Kraft der Überzeugung ihren Widerstand, sodass sie sich schließlich hingab.

      Den Heimweg legte das junge Paar überwiegend in Stille zurück, beider Brust erfüllt von diesem großen Ereignis, ihre Mienen getragen von feierlichem Ernst.

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      Der Abend dieses wunderbaren Sonntags hielt für Karl schließlich noch Schmerzliches bereit. Müde hatte er sich bald von seiner noch erschöpfteren Geliebten und deren Mutter verabschiedet. Gerade als er vom ersten Stock in den zweiten stieg, waren Schreie des Entsetzens, aufgeregte Stimmen und hektisches Wirrwarr zu vernehmen. Türen fielen krachend ins Schloss, hysterisches Kreischen erschallte.

      Karl beschleunigte seine Schritte die Stufen aufwärts. Frauen, Männer und Kinder hatten ein Ziel: das oberste Geschoß. Auf der schmalen Treppe herrschte reges Gedränge.

      Karl erblickte seinen Vater und rief ihn an: »Warum rennen die alle so – und wohin?«

      »Ein Unglück ist geschehen!«, antwortete der und lief weiter.

      Karl folgte ihm, einem Impuls der Neugier gehorchend. Im vierten Stock angekommen, konnte er zunächst weder selbst etwas erkennen noch auf anderem Wege das Geringste in Erfahrung bringen. Eine dichte Menschenmenge drängte sich im hinteren Teil des Ganges zusammen. Schreien, Stoßen, Nachfragen. Es roch nach Leuchtgas. Immer noch strömten die Menschen aus den unteren Etagen herauf. Bald war Karl völlig eingekesselt. Jetzt schämte er sich, blind seiner Sensationslust gefolgt zu sein.

      Da erschien der Kugelkopf der Hausmeisterin. Mit ihrer Autorität bahnte sie sich einen Weg durch das Menschengewimmel. Und schließlich erfuhr auch Karl den Grund der allgemeinen Aufregung.

      In Wohnung Nummer 53 lebte bei Familie Capka ein alter Arbeiter, Peter Müller, als Untermieter. Am Samstag war er gleichzeitig mit Karls Vater aus der Fabrik entlassen worden. Der alleinstehende Alte hasste und fürchtete das Elend der Arbeitslosigkeit so sehr, dass er sich das Leben genommen hatte. Er hatte auf einen Moment gewartet, in dem die Familie außer Haus und er alleine in der Wohnung war. Die Capkas fanden ihn später tot neben seinem Sessel. Die Wohnung war voll des giftigen Gases, alle Ritzen an der Tür und den Fenstern waren sorgfältig verstopft worden.

      Niedergeschlagen ging Karl in seine Wohnung. Auch seine Angehörigen, die alle in den vierten Stock gelaufen waren, kamen bald erhitzt und tief betroffen zurück.

      Das Gesicht des Vaters zeigte schmerzliche Trauer und seine Stimme zitterte merklich, als er sagte: »Der arme Kerl! So viele Jahre waren wir Arbeitskollegen. So ein End hat er sich nicht verdient. Ein ganzes Leben schuftet man und verbraucht seine ganze Kraft, und dann sind es nur der Strick oder das Gas, die einen vor Elend und Hunger bewahren. Es ist eine furchtbare Welt!«

      Die schönen Bilder des Tages verblassten in Karls Erinnerung, und wieder erschien ihm alles trostlos und deprimierend. Der gnadenlose graue Alltag lag ihm schwer auf der Brust. Ein Rundblick durch die enge Wohnung mit den schäbigen Möbeln,


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