Turmstraße 4. Hans Weinhengst
klein und für einen weiteren kein Platz war. Den nahmen größtenteils die zwei riesigen Bettgestelle ein, deren eines den Eltern, das andere ihm und seinem Bruder gehörte. Anna schlief auf einer faltbaren Liege, die untertags in einer Ecke stand. In einem anderen Winkel befand sich ein weiteres Klappbett, das früher Erna und Heinrich als Ruheplatz gedient hatte. An einer Wand, die stumm, aber deutlich nach frischem Anstrich schrie, hingen ein blinder Spiegel und einige Bilder, von denen eines die Eltern in jungen Jahren zeigte, während auf den anderen verschiedene Heilige zu sehen waren. Als Karl ein kleiner Bub gewesen war, hatte die Mutter jeden Abend gemeinsam mit den Kindern vor diesen Bildern zu Gott und den Heiligen gebetet. Aber im ausweglosen Elend war vor langem schon die fruchtlose Frömmigkeit der Familie erfroren.
»Diese Hunde!« Jäh unterbrach Antons laute, angriffslustige Stimme Karls düstere Gedanken. »Habt ihr das heut in der Zeitung gelesen, dass in Amerika Getreide vernichtet wird? Mit Weizen werden dort Schweine gefüttert und Lokomotiven geheizt, weil sonst wegen der Überproduktion die Preise fallen würden! Und bei uns sind letzte Woche Brot und Mehl teurer geworden!«
»In Amerika hungern ja auch Millionen! Das hab ich vor ein paar Tagen gelesen«, brachte sich Anna aus der Küche ein, deren Türe wie üblich offen stand.
»Zerstückeln sollte man diese Gauner, die in Zeiten wie diesen mit vollgefressenen Bäuchen aus Profitgier Lebensmittel vernichten!«, rief die Mutter aufgeregt.
»Was für ein herrliches Dasein«, murrte der Vater. »Die Fruchtbarkeit der Erde ist für manche Leut ein Unsegen, und mitten im größten Überfluss fehlt vielen Menschen das Allernotwendigste! Ehrlich, das Leben ist nimmer lebenswert. Ich beneid den alten Müller. Der hat’s hinter sich, der ist draußen aus der Irrenanstalt, die man Welt nennt.«
Karl schüttelte geistesabwesend den Kopf. Nein, sterben wollte er trotz allem ganz sicher nicht! Er hatte ja seine Martha, und es warteten im Leben noch viele glückliche Stunden auf ihn. Für immer konnten die Umstände nicht so schlimm bleiben. Er interessierte sich genauso wenig für Politik wie der Großteil der Arbeiter, die in indolenter Resignation ihr freudloses Dasein ertrugen. Aber er hatte dennoch vom Kampf der Arbeiterklasse gegen die Ausbeutung durch das Kapital gehört, über die sozialistische Bewegung, die eine Veränderung der Welt anstrebte, und er hegte die vage Hoffnung, dass irgendetwas passieren könnte, was dem herrschenden Elend ein Ende setzte.
Er malte sich die Zukunft nun wieder schöner aus. Er dachte an das eheliche Zusammenleben mit seiner Angebeteten und an die Freuden als Vater von geliebten Kindern, die einst um ihn herumtollen würden. Unter ihren Liebkosungen würde sich seine Müdigkeit verflüchtigen, wenn er von einem anstrengenden Arbeitstag heimkäme. Er sah sich in einer hellen, einfachen, aber gemütlich eingerichteten Wohnung in einem der modernen Bauten, wie sie die Gemeinde Wien laufend errichtete. Im Kreise seiner Familie würde er jeden Sonntag Ausflüge machen und die Schönheit der Natur genießen, im Sommer wandern, im Winter Skifahren oder auf dem weichen Schnee rodeln gehen. Tiefes Mitleid mit seinen Eltern und Geschwistern, deren trostloses, sorgenvolles Alltagsgrau nicht durch solch heilsame Hoffnungen erhellt wurde, überkam ihn. Und er verspürte den lebhaften Drang, ihnen etwas Aufmunterndes, etwas Tröstliches zu sagen, aber so sehr er auch nach passenden Worten suchte – er fand keine und blieb still.
3
Die Tage verstrichen einer wie der andere bei Familie Weber: freudlos und eintönig. Draußen zog der Frühling vorbei, mit blauem Himmel und dann und wann mit Leben spendendem Regen, der aber, wenn er in langen, nassen Schnüren vom Himmel fiel, alles noch trister und farbloser erscheinen ließ. Herr Weber war immer wieder auf Arbeitsämtern anzutreffen, wo er ehrenamtlich in der Gewerkschaftssektion mithalf und Beitragsmarken klebte. Hin und wieder spazierte er durch die Straßen, plauderte mit ebenfalls arbeitslosen Freunden und ehemaligen Kollegen, oder er fuhr mit der Tramway zum Stadtrand, von wo er zu Fuß in den Wald ging, um seiner neuen Leidenschaft zu frönen: dem Schwammerlsuchen. Dabei lief er trotz seines Alters so rastlos zwischen den Bäumen bergauf und bergab, dass sich nur selten jemand fand, ihn zu begleiten.
Die meiste Zeit saß er aber zu Hause, wo er ein aus der Bezirks-Arbeiterbibliothek geliehenes Buch nach dem anderen verschlang. Und jeden Morgen studierte er sorgfältig die Zeitung, neben den Nachrichten auch die Stellenangebote, deren es leider nur wenige gab – die Annoncen von Arbeitssuchenden waren deutlich in der Mehrzahl.
Er war nie ein Freund vieler Worte gewesen, aber seit seiner Entlassung zeigte er sich überaus schweigsam. Er sprach selten und dann nur über den schlimmsten Schicksalsschlag seines Lebens: die Arbeitslosigkeit. Nachts redete er oft im Traum und gestikulierte wild mit den Armen, zum Leidwesen seiner Frau, die neben ihm im gemeinsamen Bett lag. Sein Kummer verfolgte ihn mit höhnenden Albträumen bis in den Schlaf. Einmal stand er bei seinen geliebten Maschinen, die ihm allerdings entglitten, sobald er sie zu berühren versuchte. Schließlich flohen sie vor ihm in wildem Galopp. Ein andermal war er im Laufschritt zu seinem Arbeitsplatz unterwegs, der aber unauffindbar blieb. Er rannte durch alle Straßen, sah die gewaltigen Schlote der Fabrik in der Ferne, konnte sie jedoch nicht erreichen, welche Richtung auch immer er einschlug. Wenn er dann morgens schweißgebadet aus solcher Pein erwachte – der alte Wecker in seinem Kopf, der ihn Tag für Tag pünktlich um halb sechs aus dem Bett gerufen hatte, funktionierte noch einwandfrei –, stand er sofort auf, wusch sich und schlüpfte in sein Gewand, als würde er sich zum Weggehen fertig machen. Doch dann setzte er sich für gewöhnlich ans Fenster und beobachtete die Frauen und Männer, die auf ihrem Weg zur Arbeit unten an ihm vorbeiliefen.
Hin und wieder fragte jemand: »Geh, Vaterl, warum bleibst nicht im Bett? Wozu stehst so zeitig auf?«
»Ich kann nimmer liegen«, gab er dann meist zurück. »Ich hab das vierzig Jahre so gemacht und kann jetzt nicht anders.«
Seine Frau versuchte bald im Guten, bald im Bösen, ihn von dieser Gewohnheit abzubringen. Anton verwünschte ihn jedes Mal halblaut, wenn er von unnötigen Geräuschen geweckt wurde, und Anna murmelte etwas von Rücksichtslosigkeit und Kaprizen eines alten Dickschädels, wenn er viel zu früh am Morgen an ihrer Klappliege anstieß. Einzig Karl blieb ruhig. Sein Herz zog sich in bitterem Schmerz zusammen, wenn er sah, wie sehr der Vater litt.
Arbeitslosigkeit wirkt sich auch auf Körper und Geist eines jungen Menschen fatal aus, bei einem älteren jedoch beschleunigt sie den Prozess des Niedergangs. Der alte Weber verfiel zusehends. Es war erschütternd zu beobachten, wie dieser kräftige Arbeitsmann mit dem entschlossenen Gesichtsausdruck oft gedankenverloren dasaß und mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte, nicht wissend, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Dabei starrte er mit gequälter Miene vor sich hin, während sich in seinen dunklen Augen eine verzweifelte Frage spiegelte. Nach Wochen erfolgloser Stellensuche war er schließlich überzeugt, nie wieder Arbeit zu finden und zu ungewollter Untätigkeit verdammt zu sein. Wenn er so den Untergang der ganzen Familie bis hin zum Verlust der Wohnung in Riesenschritten auf sich zukommen sah, sanken die dichten Brauen über seinen großen Augen zusammen, seine erschlaffenden Gesichtszüge fielen in Falten und sein ganzes Auftreten wirkte müde und kraftlos. Viele seiner Leidensgenossen suchten erbärmlichen Trost im Suff, aber das wollte der alte Weber nicht. Sein Vater war seinerzeit wegen Alkoholismus und daraus erwachsender Exzesse der Schrecken der Familie gewesen, und der Sohn hatte sich schon früh geschworen, das Gift namens Alkohol zu meiden. Es kommt häufig vor, dass Kinder von Säufern – so sie nicht an ihren Lebensumständen und den erlittenen Schlägen zerbrechen – Rauschmitteln konsequent aus dem Wege gehen.
Anton war trotz seiner grobschlächtigen und ungeschliffenen Art in Wahrheit weder dumm noch skrupellos. Oft fühlte er Unbehagen ob seiner moralischen Unzulänglichkeit und beneidete Menschen wie seinen Bruder Karl oder seinen Schwager Heinrich. Stets aufs Neue bedrückte ihn die Inhaltsleere seiner Existenz, und mehrmals schon hatte er sich entschlossen, ganz von vorne zu beginnen, dem die Lebensenergie aussaugenden Alkohol abzuschwören, nicht mehr mit Kartenspiel sinnlos die Zeit totzuschlagen und Geld zu sparen, um es für nützliche Dinge wie Bücher oder Ausflüge zu verwenden.
In diesen einsichtigen Phasen war er oft über mehrere Tage hinweg freundlicher und weniger reizbar als sonst, sprach kaum, las viel und machte sich Gedanken über die Welt. Dann mied er seine