Turmstraße 4. Hans Weinhengst
Kinder«, fing der Vater gebrochen an, »es kommen schwere Zeiten auf uns zu! Fast fünfundvierzig Jahre hab ich mit meinen Händen hart geschuftet, und jetzt kann ich untätig herumziehen und verhungern. Undankbare Welt! Ich hab seit dem Tod meiner Mutter nie mehr geweint. Das war vor vierzig Jahren, aber heute hab ich die Tränen nicht zurückhalten können, als ich von meiner Kündigung erfahren hab. Wenn euch junge Leut schon keiner braucht – ich Alter, halb Ausgemergelter, bin vollkommen überflüssig in dieser Welt.«
»Kränk dich nicht so, Vater!«, versuchte Karl zu trösten. »Gleich werden wir nicht verhungern. Du kriegst ja Unterstützung von der Arbeitslosenversicherung und als langjähriges Mitglied auch von der Gewerkschaft. Die Zeiten müssen schließlich einmal besser werden! Und ich werd mich ab jetzt doppelt um Arbeit bemühen.«
»Ausgerechnet du!«, rief Anna spöttisch. »Du bist in deiner Verliebtheit nicht zu gebrauchen, und du sitzt viel zu viel über deinen Büchern. Und wenn du wirklich Arbeit findest, denkst sicher nicht an uns, sondern wirst deinen Augenstern heiraten wollen.«
Karl errötete. Anna hatte seine längst gehegten geheimen Absichten herausposaunt. Und doch protestierte er: »Na sicher werd ich euch nicht vergessen. Auch wenn ich heirate, werd ich immer schauen, dass ich wenigstens einen Teil meiner Schuld bei euch abbezahl.«
»Geh, Karl, plausch nicht!«, wieherte Anna auf. »Als hättest du mit dir und deiner Familie nicht genug zu tun, wenn du heiratest.«
»Lasst bitte wenigstens heut das ewige Streiten! Mein Kopf platzt jeden Moment, und ich bin nicht gewillt, mir eure Blödheiten noch länger anzuhören.« Mutter Webers Tonfall war trotz des müden Klangs ihrer Stimme gebieterisch.
Das Abendessen – Gemüsesuppe mit Erdäpfeln und Butter – war beendet und die Familie zerstreute sich. Die Männer gingen ins Zimmer, die Frauen brachten die Küche in Ordnung und spülten das schmutzige Geschirr. Gesprochen wurde kaum mehr. Der Vater las Zeitung, Anton blickte durch das offene Fenster auf die dunkle Straße, von der das übermütige Geschrei der immer noch spielenden Arbeiterkinder heraufschallte, und Karl war mit Vorbereitungen auf die bevorstehende Wanderung beschäftigt.
Als die Familie schließlich zu Bett ging, sagte der Vater zu Karl: »Mach du nur deinen Ausflug morgen! Ich weck dich!«
Und seine Stimme klang ungewöhnlich mild und freundlich.
Ein herrlicher Maitag brach an. Strahlend präsentierte sich die Feuerscheibe der Sonne über dem östlichen Horizont und spendete der ganzen Region Licht und angenehme Wärme. Auf Gräsern, Blumen und Blättern glänzten Tautropfen wie kleine Opale. Die Luft war erfüllt von vielfältigem Piepsen, Zirpen und Summen.
Tief berührt von dem herrlichen Schauspiel des Sonnenaufgangs, von der Schönheit der Natur im Glanz des jungen Tages und vom Glück, das zwei Menschen empfinden, die den Genuss der Liebe teilen und ihres Lebens froh sind, marschierten Martha und Karl einen Steig bergan in den grünen Wald. Außer ihnen waren zahlreiche andere Wanderer einzeln oder in Gruppen auf Straßen, Wegen und Trampelpfaden ausgeschwärmt, sich an Wiesen und Feldern, Hügeln und Tälern ergötzend. Immer wieder wurde das Trillern, Piepsen, Zirpen, Summen und Krähen von Gelächter und lärmenden Stimmen übertönt. Karl und Martha nahmen das als Störung wahr, weil sie darin eine Entheiligung dieses feierlichen Morgens sahen. Sie suchten einen weniger begangenen Weg, um Abstand zwischen sich und die anderen Ausflügler zu bringen.
»Ich bin heuer zum ersten Mal aus der Stadt draußen«, sagte Karl nach langem Schweigen.
»Ich auch«, gab Martha zurück. »Wir müssen unbedingt meine Mamsch einmal mitnehmen. Sie liebt die Natur! Trotzdem hat sie schon seit Jahren keinen Wald und keine Wiese mehr gesehen. Vielleicht hat mein Vater wirklich nichts dafür können, aber in den letzten Jahren hat er keinen Sinn mehr gehabt für das Schöne im Leben.«
Der Weg wurde allmählich steiler, und die Sonne sandte ihre Strahlen immer gleißender vom wolkenlosen Himmel. So kamen die beiden Wanderer bald ins Schwitzen, vor allem Karl, der den großen Rucksack schleppte. Aber schon hieß sie ein naher Wald mit seinen Schatten spendenden Baumkronen willkommen.
Am Waldrand blieben Karl und Martha stehen, drehten sich um und genossen mit freudestrahlenden Augen die Aussicht auf die ausgedehnte Landschaft. Ihre Blicke sprangen von Hügel zu Hügel und glitten dann langsam von den nahe gelegenen Gehöften und kleinen Siedlungen in die Ferne, wo einzelne Gebäude und selbst ganze Dörfer zwergenhaft erschienen, bis hin zu den ausgefransten Rändern der Großstadt. Sie berauschten sich am Anblick des unermesslichen Grüns, das die gesamte Gegend mit vielfältigsten Nuancen überzog, durchschnitten von den weißen Linien der Straßen und Wege und zwischendurch belebt von eingestreuten Häusern und kleinen Ortschaften. So blieben sie, eng aneinander geschmiegt, lange stehen.
»Sollten wir da nicht ein bissl rasten?«, fragte Martha schließlich.
»In Ordnung. Aber im Schatten! Und essen wär jetzt auch nicht schlecht«, meinte Karl, den die frische Morgenluft und das Gehen hungrig gemacht hatte.
Aber die Ruhepause dauerte nicht lange. Die noch nicht gestillte Wanderlust trieb sie weiter. Ein solcher Spaziergang durch den Wald verzaubert frisch Verliebte auf eine ganz besondere, kaum erklärbare Weise, vor allem, wenn sie zum ersten Mal – und dann noch bei herrlichem Wetter – gemeinsam unterwegs sind.
Das Paar lauschte den Gesängen der Vögel und dem Rauschen der Blätter, imitierte den Ruf des Kuckucks und spielte Fangen. Karl, leichtfüßig trotz des schweren Rucksacks, lief suchend umher, während Martha sich im dichten Buschwerk verbarg. Bald bewarfen sie einander mit Tannenzapfen, bald balgten sie sich in scheinbarem Ringkampf inmitten des abgefallenen Laubs auf dem Waldboden. Derart übermütig und ausgelassen erreichten sie die Hügelkuppe.
Bei all diesem Spaß war neben harmloser Fröhlichkeit und unschuldigem Vergnügen durchaus noch etwas anderes im Spiel. Erwachende Triebe eroberten im Unterbewusstsein der beiden jungen Leute immer mehr Raum, und die Anziehung des anderen Geschlechts würzte ihr Geplänkel mit einem erregenden Kitzel.
Auf der Anhöhe folgten sie einem Pfad entlang des Grats. Der von Fichten und Föhren durchsetzte Laubwald wich hier dürftigerem Baumbestand, in dem Nadelhölzer – vor allem Kiefern – überwogen. Nach einiger Zeit führte sie der Weg erneut abwärts. Mit einem Satz sprang Karl, der eben noch vor seiner Liebsten gegangen war, auf die Seite und verschwand im Dickicht hinter Sträuchern und jungen Kiefern.
Bald darauf tauchte er wieder auf und rief: »Martha, komm! Hier ist es gemütlich, grad richtig zum Ausruhen. Ein freier Platz mitten im dichtesten Gebüsch – schattig und trotzdem wunderschön!«
Er nahm ihre Hand und zog sie durch eine schmale Öffnung im Gesträuch hinter sich her. Beiden steckte schon die Müdigkeit in den Gliedern, vor allem Martha, die so langes Marschieren auf holprigen Wegen nicht gewohnt war. Nachdem Karl eine Decke auf der Erde ausgebreitet hatte, ließen sie sich mit einem freudigen Seufzer darauf nieder.
Sie aßen Brot mit billiger Wurst, Marthas selbst gebackenen Kuchen und Äpfel. Danach tranken sie aus einer Blechbüchse etwas kalten Tee. Sie teilten alles, von jedem noch so kleinen Rest kosteten beide und jeder bemühte sich, dem anderen das bessere Stück zu überlassen und es ihm in den Mund zu schieben. Und dieses einfache Essen war köstlicher als jedes noch so aufwändige Mahl.
»Und jetzt lies mir was vor. Hast wieder was Neues geschrieben?«, verlangte Martha, nachdem sie sich gestärkt hatten. »Ich hab gesehen, du hast ein Heft eingesteckt.«
Karl gab ihr einen flüchtigen Kuss und entnahm dem Rucksack sein Notizbuch. Und schon trug er mit seiner angenehmen, ausdrucksvollen Stimme Gedichte vor, die von Liebessehnsucht, schicksalhafter Verbundenheit und von einem hungernden Mädchen handelten, das eine wohlhabende Dame vergeblich um ein Stück Brot bittet und dieser unmenschlich geizigen Frau dennoch das Leben rettet. Er las eine »Hymne an das Schweigen« und die tiefsinnige Geschichte über einen Knaben, der sein Lieblingsspielzeug verliert und darüber so traurig ist, dass er auch durch neue, schönere Dinge nicht getröstet werden kann. Noch nach Jahren weckt