Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
traten hinaus in den kleinen Hof. Tief atmete Felicitas die lauwarme Nachtluft ein und genoss den Wind, der ihr übers Gesicht strich. Mingan schaltete eine kleine Lampe an, die an der Wand angebracht war und das erste Drittel des Hofes in ihr kaltes, weißes Licht tauchte. Doch die hohen Mauern auf der anderen Seite blieben im Schatten. „Wartet bitte kurz hier.“ Mingan verschwand noch einmal im Inneren des Schlosses.
„Hätte er gesagt, dass wir heute mit Schwertern kämpfen, hätte ich mir etwas anderes angezogen“, bemerkte July auf einmal bekümmert.
„Also wenn das mein einziges Problem wäre, wäre ich der glücklichste Mensch auf Erden“, verkündete Jessy.
„Ich achte halt etwas mehr auf mein Äußeres als du!“, konterte July und musterte Jessy herablassend. Ihre einfache, dunkelblaue Jeans, das grüne T-Shirt und ihre wilde rote Mähne, die sie in einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, bedachte July mit einem fassungslosen Kopfschütteln.
„Immerhin ...“, setzte Jessy an, als Mingan wieder in den Hof hinaustrat. In seinen Armen trug er mehrere lange, glatt geschliffene Stecken.
„Äste?“, fragte Alex fassungslos. „Aber ich dachte, wir lernen Schwertkampf!“
„Es wäre zu gefährlich, sofort mit richtigen Waffen zu trainieren. Außerdem sind das keine Äste, sondern Stecken“, antwortete Mingan ruhig und legte die behelfsmäßigen Waffen vor sich auf den Boden. „Sie sind unterschiedlich lang und schwer, so wie richtige Schwerter auch“, erklärte er dann. „Ihr habt jetzt erst mal ein wenig Zeit, die einzelnen Stecken durchzuprobieren und euch dann den rauszusuchen, der euch am besten in der Hand liegt.“
Er trat mehrere Schritte zurück, als wolle er die Schüler auffordern, sich eine der provisorischen Übungswaffen auszusuchen.
Jessy und Alex waren die Ersten, die sich den langen Stecken näherten, dann erst folgte der Rest der Klasse. Felicitas stürzte sich ins Gedränge und angelte sich einen etwa armlangen, dünnen Ast. Bedacht darauf, keinen ihrer Mitschüler damit zu verletzen, kämpfte sie sich zurück, bis sie weit genug von den anderen entfernt war. Dann fuhr sie probehalber mit dem Ast durch die Luft. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass es sich dabei um ein richtiges Schwert handelte.
„Ob ich wohl töten muss?“ Der Gedanke war ganz plötzlich da, als der Stecken die Luft durchschnitt, wieder und wieder. In Filmen hatte sie schon oft Menschen mit Schwertern kämpfen – und töten – gesehen. Dort hatte alles immer so einfach ausgesehen ...
Plötzlich hielt Felicitas inne. Sie spürte, dass sie beobachtet wurde. Als sie den Kopf drehte, bemerkte sie Mingan. Er lehnte an der Mauer, sein schwarzer Umhang verhüllte fast gänzlich seinen Körper. Aber seine hellen, blauen Augen fixierten Felicitas und auf einmal überkam sie ein seltsames Gefühl. Der dunkle Hof um sie herum, ihre Mitschüler, die mit ihren Ästen in der Luft herumwedelten, Mingan, der dort an der Mauer lehnte, reglos wie eine Statue, und sie selbst, inmitten dieser fremden Welt. Wieder wurde ihr bewusst, wie unwirklich das alles hier doch war. Ein Traum. Es musste ein Traum sein. Und doch wusste sie, dass es mehr war als nur das. Es war ein anderes Leben, aber bestimmt nicht ihres.
Sie wich Mingans stechendem Blick aus, betrachtete die wenigen beleuchteten Fenster in der ansonsten dunklen Fassade des Schlosses.
„Sie beobachten mich!“, dachte sie. „Es sind Augen ...“
Dann schüttelte sie entschlossen den Kopf. Was war nur los mit ihr?
„Stellt euch bitte hier vorne auf, sodass ich euch alle sehen kann!“ Mingans Stimme zerschnitt die nächtliche Stille wie ein Messer. „Aber achtet darauf, dass ihr genug Abstand von euren Mitschülern haltet, wir wollen schließlich keine Verletzten!“
Felicitas suchte nach Ailina und Jessy und entdeckte die beiden schließlich einige Meter entfernt in der Nähe von Mingan. Ailina lächelte, als sie sich zu ihnen gesellte und Jessy brachte nur ein „Ist das nicht alles total cool!“ zustande, bevor Mingan sie mit einem Blick zum Schweigen brachte.
„Es gibt verschiedene Arten von Schwertern, genau, wie es verschiedene Arten von Menschen gibt “, begann er zu erklären. „Sie unterscheiden sich im Gewicht, in der Länge oder in der Breite der Klinge ...“ Noch eine ganze Weile erklärte Mingan.
Schließlich nahm er sich ebenfalls einen Ast. „Genug der Theorie“, verkündete er endlich. „Ihr sollt schließlich auch lernen, aktiv mit einem Schwert umzugehen.“ Er schwieg kurz, bevor er fortfuhr.
„Achtet zuerst auf die richtige Stellung. Macht einen Ausfallschritt nach vorne und geht am besten ein wenig in die Knie, so könnt ihr die Hiebe eures Gegners leichter abfedern und seid beweglicher.“
Felicitas versuchte sich darauf zu konzentrieren, die Stellung ihres Lehrers nachzuahmen. Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere und wedelte dazu ein wenig mit ihrem Stecken durch die Luft.
„Nicht schlecht ...“ Mingan ließ seinen Blick durch die Reihen schweifen. „Ihr scheint es alle richtig zu machen.“ Er erklärte seinen Schülern, wie sie ein Schwert zu halten hatten, und zeigte ihnen erste Angriffstechniken.
„Es gibt bestimmte Grundtechniken, die ihr beherrschen müsst.“ Obwohl Mingan nicht laut sprach, erfüllte seine Stimme den ganzen Hof. „Aber natürlich achtet in einem richtigen Kampf keiner darauf, ob ihr die Schrittfolgen einhaltet oder ob ihr die Figur zu Ende führt. Nein, was ihr wirklich lernen müsst, ist, mit eurem Schwert zu verschmelzen. Es als einen Teil von euch zu betrachten und instinktiv zu handeln.“ Er blieb vor Felicitas stehen. „Denn in Duellen ... geht alles ganz schnell.“
Plötzlich fuhr er herum und benutzte seinen Stecken als Waffe. Ehe Felicitas sich versah, raste die behelfsmäßige Klinge auf sie zu und es gelang ihr nur geradeso, zur Seite zu springen.
„Was?!“, keuchte sie überrascht, als Mingan sie auch schon von der anderen Seite angriff.
Instinktiv handeln ...
Felicitas sprang zur Seite.
Angreifen ...
Felicitas wirbelte herum, die Finger so fest um den Stecken verkrampft, dass es schmerzte. Ihr Arm zitterte bereits vor Anstrengung und sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut loszuschluchzen. Mit einem dumpfen Knacken trafen die Stecken aufeinander. Dann ging alles blitzschnell. Felicitas wusste nicht genau, was sie tat. Wie in Trance bewegte sie sich, wich Mingans Attacken aus, immer wieder.
Ihr Arm war inzwischen taub geworden und ihre Knie zitterten und konnten ihr Gewicht kaum noch tragen. Sie sprang nach hinten, um noch einem Angriff ihres Lehrers auszuweichen, als sie plötzlich über ihre eigenen Füße stolperte und sich rücklings im Gras wiederfand.
Mingan kniete sich neben sie und legte ihr seinen Stecken an den Hals, als wäre er ein richtiges Schwert. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und Mingans schmaler Mund verzog sich zu einem Lächeln. Dann richtete er sich auf und hielt Felicitas die Hand hin, um ihr ebenfalls aufzuhelfen. Mit einer erstaunlichen Kraft zog der alte Mann sie auf die Beine.
Felicitas keuchte und stützte sich auf den Knien ab.
Ihre Klassenkameraden klatschten anerkennend.
„Für euch mag es ein Spiel sein“, sagte Mingan auf einmal ernst, „aber das ist es nicht. Ihr seid nicht mehr in eurer Welt. Ihr seid jetzt Wandler. Und ein Schwert ist kein Spielzeug. Es ist eine Waffe. Dessen müsst ihr euch bewusst werden.“ Dann nickte er seinen Schülern zu. „Ich glaube, es reicht für heute. Legt die Stecken wieder zu einem Haufen zusammen und seid bitte pünktlich um zwei Uhr wieder in eurem Klassenzimmer.“
Dann war es still im Hof.
„Ist alles okay?“, fragte Ailina Felicitas leise.
Felicitas nickte langsam. Ihre Arme fühlten sich an wie aus Blei und ihre Knie zitterten.
„Du warst nicht schlecht.“ Mingans Hand legte sich auf ihre Schulter. Unwillkürlich zuckte Felicitas