Tage mit Felice. Fabio Andina
Ein Bergdorf im Tessin. Das frisch gestrichene Gemeindehaus, die Bar, wo der Alkohol fließt, der Schulbus aus Acquarossa, der Bauer Sosto, der letzte, der Kühe hat. Das Dorf von Felice. Vor dem ersten Hahnenschrei bricht er auf, der alte Kauz, der meistens barfuß läuft, um in einer Gumpe weit oben hinter dem Kiefernwald zu baden. Auch bei Regen, auch bei Schnee. Danach hackt er Holz, pflückt im Garten Kakis, und wenn er im Wald Pilze findet, kommt er mit Käse zurück. Wir dürfen uns Felice als glücklichen Menschen vorstellen.
Tage mit Felice ist ein minimalistisch erzählter Roman über die Kunst des einfachen Lebens und zugleich das Porträt eines Dorfs im Bleniotal. Dort oben, den Härten der Jahreszeiten ausgesetzt, wo niemand ein leichtes Auskommen hat, sind die Menschen rau und wortkarg und lieber mit den Tieren zusammen. Und doch ist da eine starke Gemeinschaft, die Leben und Tod und den Einbruch des technischen Zeitalters ganz selbstverständlich teilt. Eine ergreifende wie entschleunigende Lektüre.
Fabio Andina
Tage mit Felice
Roman
Aus dem Italienischen
von Karin Diemerling
Edition Blau im Rotpunktverlag
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REIHE |
Literatur aus der Schweiz in Übersetzung |
Dieses Buch erscheint mit Unterstützung der ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit dank der Beteiligung aller 26 Kantone. Die Übersetzung wurde von Pro Helvetia subventioniert.
Der Verlag bedankt sich dafür.
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Die Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel La pozza del Felice bei Rubbettino Editore erschienen.
© 2018 Rubbettino Editore, Soveria Mannelli
© 2020 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)
Lektorat: Daniela Koch
Umschlagbild: Guido Magnaguagno
eISBN 978-3-85869-879-7
1. Auflage 2020
Der vorliegende Roman ist zwar von wahren Begebenheiten inspiriert, aber dennoch ein rein fiktionales Werk. Jegliche Übereinstimmungen mit realen Tatsachen, Orten oder Personen sind daher rein zufällig.
Inhalt
Eins
Er ist es, der klopft und mich weckt. Es ist noch nicht einmal halb sechs. Ich steige die Treppe hinunter, mache die Tür auf und sehe ihn dort im Dunkeln unter einem Schirm, das Hemd offen, kurze Hose, barfuß. Kalte Luft strömt herein, es regnet. Ich ziehe mich an und gehe hinaus. An einem Nagel in der Hauswand hängt das Thermometer, das Vittorina mir geschenkt hat. Fünf Grad. Ist gar nicht mal so kalt, sage ich mir. Muss wohl daran liegen, dass ich es nicht gewohnt bin, so früh aufzustehen.
Gestern hatte ich Felice vor meinem Haus getroffen, es war ein sonniger Nachmittag, um die Berggipfel zogen sich die ersten grauen Wolken zusammen, die den Himmel noch vor Sonnenuntergang verdunkeln sollten. Ich lasierte gerade die Tür des Holzschuppens, er ging vorbei, genauso angezogen, barfuß und mit einer Plastiktüte voller Kakis. Wir wechselten einige Worte, dann fragte ich ihn, ob ich ihn ein paar Tage lang begleiten dürfe. Um ein bisschen so zu leben wie er.
Wir gehen die drei Steinstufen hinunter und tauchen schnellen Schrittes in den Nebel ein, in die Nässe und die kopfsteingepflasterte Gasse, die sich zwischen den niedrigen Häusern hindurchschlängelt. Häuser jahrhundertealt und eindrucksvoll wie die Steine ihrer Mauern. Die Dachbalken krumm gebogen unter dem Gewicht der Steinziegel und die kleinen Fenster noch dunkel. Eine von der Gemeinde aufgestellte Straßenlaterne leuchtet uns schwach den Weg.
Seit eh und je munkelt man im Dorf, dass Felice sich jeden Morgen noch vor dem ersten Hahnenschrei aufmacht, um splitterfasernackt, weiß der Teufel wo, in einer eiskalten Gumpe in einem Wildbach zu baden. Manche sagen, er habe das schon immer gemacht. Andere, er habe nach seiner Russlandreise in den sechziger Jahren damit angefangen. Wieder andere behaupten, er mache es erst, seit er in Rente ist. Für manche liegt diese Gumpe im Gurundin, nahe dem Selvaccia-Kiefernwald. Für andere im Bach Altaniga, zwischen dem Hof von Celso und den Tognola-Höfen. Wieder anderen zufolge sogar oben bei der Alpe del Gualdo, auf eintausendsechshundert Metern Höhe.
Nachdem wir das Dorf hinter uns gelassen haben, biegen wir in die Kantonsstraße ein, die von Leontica hinauf Richtung Nara führt. Das Klatschen von Felices bloßen Füßen auf dem nassen Asphalt und das Wiehern von Vittorinas Maultier in seinem Pferch ein Stück weiter vorn.
Dort angekommen, erwartet uns das Muli bereits, und Felice streichelt es. Ich ebenfalls, ausgiebig. Sein grobes, nasses Fell, schon das Winterfell, und das Trommeln des Regens auf dem Blechdach.
Wir gehen weiter, er in seinem sommerlichen Aufzug versucht, den Schirm auch über mich zu halten. Wir passieren das Haus von Floro und seinem Kater Rasta. Eine elende Hütte, jetzt im Dunkeln fast unsichtbar, die er vor rund zwanzig Jahren mehr schlecht als recht hergerichtet hat. Eternitdach, kein Strom, eigentlich nicht bewohnbar, der Wasseranschluss ein Gummischlauch von einem Bach ins Haus. Als Toilette der nahe Eschenwald. Die Fenster dunkel, Floro schläft noch, wir gehen weiter.
Floro hat mal zu mir gesagt, dass das mit Felices Gumpe totaler Quatsch sei. Ja, es stimme, dass er ständig durch die Gegend laufe wie ein alter herumstreunender Wolf. Vor Jahren, solange er es schaffte, sei er sogar die Berge rauf- und runtergerannt, das sei der einzige Sport, für den man nichts weiter brauche, hätte er gemeint. Er ging aus dem Haus und fing an zu rennen. Oft weiß er aber nicht mal selbst, wohin er läuft, erzählte Floro weiter. Wie damals, als er um neun Uhr abends oben in Cancorì in der Nähe des Genzianella mit einem Beutel in der Hand gesehen wurde. Er würde Wildspargel suchen, hatte er behauptet.
Wir verlassen die Kantonsstraße bei der Kehre der Alten Lärche, eines hundertjährigen, allein stehenden Baums, und nehmen die Abkürzung über einen Schotterweg zur Pian di Sella hinauf. Eine viereckige Hochebene von einem Kilometer Seitenlänge, die sich vom oberen Dorfrand bis zum unteren Rand des steil abfallenden Selvaccia-Kiefernwalds erstreckt.