Tage mit Felice. Fabio Andina

Tage mit Felice - Fabio Andina


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Bedienung hinter mir durchzulassen, die meinen Espresso und eine Tasse heißes Wasser mit einem Löffel darin auf den Tisch stellt. Felice nimmt den Teebeutel aus der Papierhülle und taucht ihn an der Schnur in die Tasse. Tunkt ihn beim Lesen immer wieder ein. Das Wasser färbt sich zusehends dunkler. Dann zieht er den Beutel heraus, drückt ihn mit den Fingern aus und wickelt die Schnur drum herum, ehe er ihn auf die Untertasse legt, rührt anschließend mit dem Teelöffel um, obwohl er keinen Zucker hineingetan hat. Er rührt und liest. Ohne Eile. Bei der Seite mit den Todesanzeigen zuckt er zusammen. Den hier hab ich gekannt, sagt er und tippt mit seinem kräftigen, knorrigen Zeigefinger auf die Todesanzeige eines Mannes Jahrgang neunzehnhundertneunundzwanzig. Besser er als ich, fügt er hinzu und blättert die Seite um. Wenigstens muss er sich nicht mehr plagen.

      Ein Artikel beschäftigt sich mit der Arbeitslosigkeit im Kanton Tessin. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, murmle ich, woraufhin Felice seine Zeitung zuschlägt. Die Politik ist eine einzige große Sauerei, machen wir uns nichts vor, und die Welt ist in der Hand von lauter Halunken, sagt er in einem Atemzug und sieht mir dabei in die Augen.

      Stimmt. Und die ganze Welt ist ein Dorf, sagt die junge Bedienung.

      Felice stürzt seinen Pfefferminztee hinunter, steht auf, bezahlt und geht. Machs gut, sagt er und ist mit seinen bloßen Füßen schon zur Tür hinaus.

      Okay, ciao Felice, ruft die junge Bedienung ihm nach.

      Ich falte meine Zeitung zusammen und hole ihn ein. Wir steigen ins Auto. Er schaltet in den Leerlauf, wir rollen und beschleunigen, er legt den Gang ein, und der Suzuki fährt los. Richtung Süden.

      Wir lassen Olivone hinter uns. Am Fenster ziehen die typischen alpinen Postkartenansichten des Hochtessins an einem Spätherbsttag vorbei. Auf der Höhe von Lottigna biegen wir nach rechts unten ab und fahren zwischen den Weiden und Feldern der Ebene von Castro hindurch. Ställe, Traktoren, Hunde, Kühe, Kälber, Esel und Pferde. Wir parken am Ufer des Brenno. An diesem Abschnitt strömt er durch ein Bett mit dicken Felsbrocken, die dicht an dicht herausragen. Bis zu einem Meter tiefe Becken, weiße, tosende Gischt und ein Dutzend Sprünge, um ihn zu überqueren. Felice setzt sich auf einen Stein und steckt die Füße ins eiskalte Wasser. Ich tue es ihm nach, sobald ich Schuhe und Strümpfe ausgezogen habe. Das Wasser strömt von rechts nach links an uns vorbei, beständig und zuverlässig wie das Vergehen der Zeit.

      Ich schaue nach oben. Der enge Himmel, die hohen Berge. Die Tessiner Alpen. Ich orientiere mich. Rechts, im Norden, der Pizzo Sosto mit seinem felsigen, spitz aufragenden Gipfel, auch das Matterhorn des Bleniotals genannt. Links führt das Tal zu den voralpinen Regionen des Tessins hinab, die sich schließlich zur italienischen Poebene hin öffnen. Hinter mir, im Osten, ragen der Adula und der Simano auf. Vor mir die Gipfel des Pizzo Erra und der Bassa di Nara und auf halber Höhe Leontica mit seinen Steinhäusern, ein paar Chalets. In der Mitte des Dorfs springt die romanische Kirche San Giovanni Battista aus dem zwölften Jahrhundert ins Auge. Wenn ich mich anstrenge, kann ich sowohl mein Haus als auch das von Felice erkennen.

      Rechts vom Dorf, einsam auf den Wiesen jenseits des Negrentino, der in tiefen Schluchten talwärts stürzt, sieht man die kleine, San Carlo geweihte romanische Kirche aus dem elften Jahrhundert. Aber alle sagen Negrentino-Kirche. Gleich darüber die Talstation des Sessellifts zum Nara-Skigebiet mit ihren Parkplätzen. Die neuen gelben Fiberglassessel glänzen an ihrem Drahtseil in der Sonne. Die alten waren aus verzinktem Eisen mit drei rot lackierten Brettern, dazu gab es eine Armeedecke, um die Knie vor der Kälte zu schützen. Unterwegs wurde die Decke meist zum Eisbrett, und der Sicherheitsbügel fror mindestens bei jedem zweiten Mal fest, bei der Ankunft oben in Cancorì mussten sie den Lift anhalten, um einen zu befreien. Als die alten Sessel ersetzt wurden, hat man sie für fünfzig Franken das Stück verkauft, sodass manch einer als Zierde im Garten eines Ferienhauses im Tal endete, mit Geranientöpfen darin. Oder als Sitzbank für Touristen an einem Wanderweg oder Gott weiß wo sonst. Floro hat auch einen in seinem Haus.

      Ich lasse den Blick weiter hinaufwandern und schärfe ihn noch etwas mehr. Nach sechshundert Höhenmetern erreicht der Sessellift Cancorì mit dem Gasthaus Genzianella. Weiter oben, über einem hier und da vom Gold der Lärchen durchsetzten Kiefernwald, der Pass Bassa di Nara auf zweitausendzweihunderteinunddreißig Metern. Ich blicke zwei Handbreit weiter nach links und versuche, Felices Gumpe auszumachen. Also, da sind die zweitausendvierhundertsechzehn Meter des Pizzo Erra, knapp darunter die Alpe del Gualdo, dann der Selvaccia-Kiefernwald, die lange, tiefe Schlucht des Gurundin. Schwer zu sagen, die Sicht verschwimmt mir. Ich schaue woandershin. Hoch und frei am klaren Himmel kreist ein Raubvogel. Große Flügelspannweite. Ein Königsadler oder vielleicht ein Bartgeier, der Wilderer Brenno könnte es sagen. Wer weiß, was er von dort oben alles sieht. Vielleicht erkennt er Felice und mich, zwei winzige Punkte am Ufer des Flusses Brenno.

      Nämlich, dass die Politik eine einzige große Sauerei ist und die Welt in den Händen der üblichen zwei, drei Halunken, das wissen auch die Fische in diesem Fluss, wenn du mich fragst, sagt Felice in meine Gedanken hinein.

      Ich will gerade etwas erwidern, da durchfluten Glockenschläge das Tal. Die von Lottigna hinter uns machen den Anfang, und nach dem ersten Schlag sind auch die vom anderen Flussufer aus Prugiasco und Castro zu hören, gleich darauf die von Dongio links unten und als Letzte die oben in Corzoneso und Leontica. Es ist zehn Uhr. Sechzig Schläge. Sie verklingen über dem Tal, und das Rauschen des Flusses wird wieder stärker.

      Aber wenn wir das herumerzählen, fügt er nach Ende des Geläuts fast schreiend hinzu, dann nennen sie uns Kommunisten, ist doch wahr. Ich antworte, dass er wohl recht hat und dass ich vor drei Monaten wegen eines vorschnellen Personalabbaus entlassen worden bin. Er guckt mich an wie um zu sagen, siehst du?

      Auf einmal steht ein Angler mitten im Fluss. Fliegenrute, grüne Stiefel bis zur Leiste, Tarnweste, Polarisationsbrille, grüner, breitkrempiger Hut, grüner Rucksack. Mit geschmeidiger Bewegung aus dem rechten Handgelenk lässt er die Trockenfliege auf jede tiefe Stelle niedergehen, an der sich eine Forelle verbergen könnte. Eine Stelle rechts, kurzer Peitschenhieb, Abwurf. Eine Stelle links, Peitschenhieb, Abwurf. Eine Stelle ein Stück flussaufwärts, neuer Peitschenhieb, neuer Abwurf. Zwischen einem Wurf und dem nächsten eine nervöse Bewegung mit der linken Hand, die für einen Augenblick die gelbe Angelschnur loslässt und mit dem Zeigefinger blitzschnell die Brille auf der Nase hochschiebt. Vielleicht rutscht sie ihm vom Schwitzen immer herunter.

      Beißen sie?, ruft Felice. Mit verärgerter Miene rückt der Angler zum zigsten Mal seine Brille zurecht und dreht den Kopf in unsere Richtung, wobei ein Pst aus seinem Mund zu kommen scheint, doch durch das Tosen des Flusses hören wir es nicht.

      Die Glocken der Dörfer schlagen elf. Wir lassen seit über einer Stunde die Füße in den Brenno hängen, um dem herumwatenden Angler zuzusehen, der nichts gefangen hat, und ein bisschen zu schwatzen, meistens aber stumm wie die Fische.

      Ich gehe barfuß, die Bergschuhe in der Hand. Meine Füße sind taub vor Kälte. Wieder muss ich den Suzuki anschieben, der beim ersten Versuch nicht anspringt, dann fahren wir los. Ich habe noch nie mit einem Neunzigjährigen am Steuer im Auto gesessen. Er fährt vorsichtig und hupt vor jeder Kurve.

      Wohin jetzt?

      Er sieht mich kurz an. Was essen, sagt er.

      Wo gehst du denn essen? Im Passo? Im Valle del Sole?

      Ach, das kommt sich gleich. Wenn man Hunger hat, kommt sich das gleich. Außerdem sind die von den Restaurants auch alles Schlitzohren, wenn mans recht bedenkt. Alles berufsmäßige Halsabschneider, reden wir nicht drumrum.

      Wir erreichen Prugiasco und parken am Hang vor der Trattoria del Passo. Ein schöner brennender Kamin mit zwei Holzbänken an den Seiten empfängt uns. Auf einem Stuhl stehend fegt Signora Gigliola, eine Kusine unseres Tito aus Leontica, die Spinnweben aus einer Ecke der Holzbalkendecke und sagt, dass sie gleich zu uns kommt. Mit einem Satz ist sie da. Neuigkeiten, Felice?

      Gute oder schlechte?

      Gibts was dazwischen?

      Leider nein, liebe Gigliola. Neuigkeiten sind entweder gut oder schlecht.

      Dann erzähl mir eine gute.

      Eine gute? Die machen immer den Eindruck,


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