Tage mit Felice. Fabio Andina

Tage mit Felice - Fabio Andina


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beobachte Emilio. Der sich auf einmal zufrieden aufrichtet. Mit etwas in den Fingern. Hab einen, sagt er. Er wickelt dieses Etwas in das Salatblatt, formt eine walnussgroße Kugel, steckt sie in den Mund und schluckt sie unzerkaut herunter.

      Ich hole Felice ein. Was hat er denn da gegessen?

      ’nen Nérc.

      He?

      ’nen Nérc. ’nen Schneck.

      Eine Schnecke?

      Aé. Gegen sein Magengeschwür.

      Auf dem Weg ins Haus reißt er im Vorbeigehen ein Unkraut aus. Ich mache die Tür hinter mir zu, aber er macht sie wieder auf und auch die Fenster. Um die Sonne hereinzulassen, sagt er. Er legt die Feigen in eine Pappschachtel und sagt dann, komm mit. Wir gehen ein paar Steinstufen hinunter und stehen in seinem Keller. Der Boden aus gestampfter Erde, die gewölbte Steindecke voller Spinnweben und schwarzer Spinnen dick wie Hosenknöpfe und mit langen, haarigen Beinen. Oben ein kleines, offenes, nach Osten gehendes Fenster, das von einem Drahtgitter geschützt wird. Von der Decke hängen, so, dass die Mäuse nicht hinaufklettern können, einige Holzregale, die sich biegen unter dem Gewicht von Zwiebeln, Äpfeln, Kartoffeln, Möhren, Eiern, Knoblauch, Käse, Marroni, Walnüssen, Haselnüssen und Kisten und Kistchen mit allem, was das Herz begehrt. An einem Nagel an der Wand hängt eine Plastiktüte mit gespülten Joghurtgläsern. Alles ordentlich wie im Supermarkt. Er stellt die Schachtel mit den Feigen auf ein Regalbrett und sucht zwei rote Äpfel aus, wir gehen hinaus in die Sonne, setzen uns auf die Steinbänke und beißen hinein.

      Als er seinen aufgegessen hat, geht er hinüber und wirft das Gehäuse auf den Haufen aus Obst- und Gemüseabfällen und Asche. Nachdem ich meinen gegessen habe, werfe ich das Gehäuse ebenfalls auf den Kompost.

      In der Küche macht er sich an der Sarina zu schaffen. Mit einer Eisenschaufel entfernt er die Asche durch die untere Ofenklappe und füllt sie in einen Blecheimer. Um sie anschließend auf den Kompost zu kippen. Ich gehe in den Schuppen Holz holen und zünde das Feuer an. Felice sieht mir aus dem Augenwinkel zu und lässt mich machen, ohne etwas zu sagen, dann setze ich mich draußen zu ihm auf die Granitbank.

      Er hat den krummen Stamm des Birnbaums im Blick. Ich sehe mich um. Eine Weile schaue ich einer Wolke zu, die über das Tal südwärts reist, dann betrachte ich die Berge. Der Adula mit seinem Gletscher im Kampf gegen die Klimaerwärmung, gezwungen, jeden Tag ein Stück Geschichte, unserer Geschichte, bachab gehen zu lassen. Seine Erinnerungen immer kümmerlicher wie bei einem alzheimerkranken Alten.

      Hinten in der Gasse sehe ich den Kopf der Postbotin Alfonsa auftauchen. Sie kommt mit ihrer gelben Umhängetasche an Vittorinas Briefkasten vorbei, bleibt aber nicht stehen, sondern hält geradewegs auf uns zu. Hier, Felice, ich hab was für dich. Ich schätze, du wirst zur Kasse gebeten, sagt sie. Nimm, das ist die Stromrechnung. Aber der hier, wo kommt der denn her, Felice? Aus China?, fragt sie spitzgesichtig und wedelt mit einem Brief mit handgeschriebener Adresse.

      China?, wiederholt Felice und späht von dem Brief der Stromgesellschaft auf den in der Hand der Postbotin.

      Na, mit so einer Briefmarke, wo man überhaupt nicht kapiert, was da drauf steht, sagt sie und reicht ihm den Brief.

      Felice mustert ihn von vorn und hinten, dann zeichnet sich ein ungläubiger Ausdruck auf seinem Gesicht ab.

      Ich frage sie, ob sie auch etwas für mich hat.

      Nein, antwortet sie. Aber da hängt eine Tüte an der Tür. Sie wünscht uns einen schönen Tag und trägt hinter uns bei der Lehrerin Sabina ihre Post weiter aus. Bobi bellt.

      Ich gehe mal nachsehen, sage ich zu Felice. Er scheint mich gar nicht zu hören, sitzt wie versteinert da, als hätte er einen Bescheid über eine Zwangsvollstreckung erhalten, und starrt auf den Umschlag mit der handgeschriebenen Adresse und der unlesbaren Briefmarke.

      In der Tüte sind zwei Zucchini wie die, die ich auf Felices Küchenschrank gesehen habe. Vittorina wird sie mir gebracht haben. Ich gehe ins Haus und setze einen Topf mit Wasser auf. Dann suche ich im Küchenschrank nach etwas, das ich Vittorina für weiteres Gemüse geben kann, auch wenn Felice mir von seinem geben würde. Ich entscheide mich für ein Glas mit getrockneten Pilzen, die ich oben bei Cassina im Kiefernwald am Nara gesammelt habe. Damit gehe ich zu Vittorina zum Tauschen. Sie dankt mir, mèrsi, und lässt mich ernten, was ich möchte. Ich nehme zwei oder drei Mangoldstangen, eine Gemüsezwiebel, Spinat und einen kleinen Blumenkohl. Dabei sehe ich zu Felice hinüber, der immer noch so dasitzt wie vorhin.

      Ich gehe wieder zu mir nach Hause. Das Wasser brodelt schon. Im Nu habe ich das Gemüse geschnitten, lasse es für die Dauer eines Telefongesprächs kochen, tue dann den Deckel drauf, mache den Herd aus und kehre zu Felice zurück.

      Er lässt sich auf der Granitbank von der lauen Sonne wärmen, reglos und starr wie eine Aspisviper, die Augen geschlossen, den einen Brief in die Hemdtasche gesteckt, den anderen in der Hand. Mir bleibt keine Zeit, mich zu setzen, denn er steht auf, steckt auch den zweiten Umschlag ein und sagt, auf.

      Im Auto verharrt er zunächst gedankenverloren, die linke Hand am Lenkrad, den gezückten Zündschlüssel in der rechten. Dann steckt er ihn ins Schloss, um den Suzuki anzulassen, der jedoch kein Lebenszeichen von sich gibt. Da kommt er wieder zu sich, sieht mich an und sagt, schiebst du? Ich steige aus, er rollt heraus, ich helfe ihm beim Manövrieren, kurz anschieben und los gehts.

      Wir fahren über den halb verlassenen Platz. Vor dem Gemeindehaus steht der Haflinger von Sosto mit dem kleinen Anhänger, die leeren und schon gespülten Milchkannen auf der Ladefläche. Die Tür zum Milchdepot steht offen. Ich sehe ihn drinnen, wie er gerade den Fliesenboden abspritzt, den riesigen Kühltank hinter sich. Gummistiefel, Parisienne im Mund, die Augen auf den Gully gerichtet.

      Am Dorfausgang, auf Höhe der ersten Kehre talwärts, gießt die Stumme, dreiundneunzig Jahre alt, ein Alpenveilchen vor der Wegkapelle des heiligen Christophorus, Schutzheiliger der Wanderer. Ein langer Riss, das Bild abgeblättert und ein brennendes Grablicht. Felice bremst ab und hupt, doch sie sieht uns nach, ohne den Gruß zu erwidern. Wirft uns vielmehr einen finsteren Blick zu, mit ihrem vom grauen Star getrübten Auge.

      Ciao, Stumme, sagt Felice, obwohl sie ihn nicht hören kann. Auch alles nur so ein Humbug, wenn du mich fragst.

      Was ist Humbug?

      Zu meiner Zeit waren sie alle so ein bisschen die Frömmler, reden wir nicht drumrum. Rannten immer in die Kirche, sobald der Pfarrer am Glockenseil zog. Hupen, Kurve.

      Ja, früher, sage ich. Heute sind es nur noch die paar wenigen, die hingehen.

      Nach längerem Schweigen, als das Thema mit diesem kurzen Wortwechsel schon beendet scheint, räuspert er sich und sagt, aé, irgendeinen dummen Dorsch zum Ausnehmen finden sie immer noch. Aber jeder macht halt das, woran er glaubt. Und außerdem, fügt er hinzu und schaltet vor der nächsten Kurve in den Zweiten herunter, hupt. Und außerdem, wenn du mich fragst, glaube ich nur an gegenseitige Achtung. Die Leute achten und akzeptieren wie sie sind und basta.

      Er sieht aus dem Augenwinkel, wie ich nicke. Wenn man mit Felice zusammen ist, kommt das Gespräch oft auf Scheinheilige, Schurken und Hochstapler, auf die Ungerechtigkeiten der Welt und den Tod.

      Aber Felice. Wenn wir sterben, was wird dann aus uns?

      Wenn wir krepieren, werden wir alle zu Kompost, alle miteinander, denn alle haben wir rotes Blut, Diener und Herren, Schöne und Hässliche, Dummköpfe, Doktoren, Bauern, Priester, alle in ein Loch, zwei Meter unter die Erde und amen, und das ist die reinste schönste Wahrheit, die es immer gegeben hat und an der sich nie was ändern wird, antwortet er in einem Atemzug und ohne eine Miene zu verziehen.

      Stimmt Felice. Stimmt.

      Er sieht mich kurz an, wie um sich zu vergewissern, dass ich wirklich seiner Meinung bin. Die einzigen Wahrheiten, fährt er fort und schaut wieder auf die Straße, sind Geburt und Tod, so seh ich es. Dazwischen ist der ganze Rest. Wie ein Fluss, der an uns vorbeifließt. Und wir verbringen unser Leben damit, ihm beim Fließen zuzusehen, bis unsere Batterie den Geist aufgibt.

      Ich stelle ihn mir vor, den Felice.


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