Die Göttin nebenan. Nicolas Scheerbarth
viele Menschen wie Johanna so völlig locker und ohne den geringsten Kommentar darüber hinweg gegangen. Ebenso ungewöhnlich und durchaus angenehm empfand ich die natürliche Art, in der beide mit mir umgingen, einem Mann, der wohl sicher im Alter ihrer Väter war. So nahm Johanna ohne Zögern an, als ich auch ihr das Du anbot.
Ich erzählte kurz das Nötigste über mich und erwähnte auch die gute Nachbarschaft, die hier früher gepflegt worden war. Johanna nahm diese Informationen interessiert und freundlich auf, sagte oder fragte dazu jedoch recht wenig. Anders Nina; sie nahm sehr lebhaft Anteil an dem, was ich erzählte, und stellte vor allem zu meiner gescheiterten Ehe einige interessierte Rückfragen, dabei so direkt und offen, als seien wir gute, alte Bekannte.
Im Gegenzug erfuhr ich einiges über die Verhältnisse meiner neuen Nachbarinnen. Die Mutter namens Larissa und die jüngere Schwester Nathalie, eine Halbschwester von Johanna, waren tatsächlich die beiden Frauen gewesen, die ich am Vorabend beobachtet hatte. Dies fand ich heraus, indem ich wie beiläufig nach Besuchern am vergangenen Abend fragte. Jetzt waren die beiden zum Einkaufen gefahren, und Johanna erwartete sie erst am späteren Nachmittag zurück.
Johannas Vater schien bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen zu sein, doch sie streifte das Thema so kurz und betont beiläufig, dass ich nicht weiter nachfragen wollte. Auch von anderen Männern, die vielleicht zu diesem Haushalt gehörten, war nicht die Rede. Johanna erwähnte zwar kurz einmal einen Freund der Mutter, doch das schien eher eine Art Mentor zu sein. Ihre Verbindung bezeichneten Johanna und Nina als "verrückte Freundschaft", ließen sich jedoch nicht auf irgendwelche Festlegungen ein und meinten, ich würde es mit der Zeit schon noch verstehen. Beide waren gerade mit dem Abitur fertig geworden und momentan unschlüssig, ob sie studieren oder "einfach nach London ziehen und erstmal die Sau rauslassen" sollten, wie Nina es zusammenfasste. Die Familie lebte jedenfalls von einer Erbschaft der Mutter, und zwar offenbar so gut, dass der Kauf oder die Miete eines Apartments in London für die beiden keine nennenswerte Belastung darstellte.
Eine weitere Überraschung stand mir bevor, als ich nach dem Beruf der Mutter fragte.
"Larissa ist eine Hexe," antwortete Johanna mir, in einem Ton, als spreche sie von einer Anwältin oder Ärztin. Ich erwiderte nichts und machte mir klar, dass ich es mit zwei jungen Damen zu tun hatte, die es offenbar faustdick hinter den Ohren hatten. Einen Mann in meinem Alter anzumachen, zu irritieren, in Verlegenheit zu bringen oder zu foppen, war für die beiden vermutlich eine ihrer leichtesten Übungen, und ich wollte mir nicht die Blöße geben, darauf allzu offensichtlich einzugehen.
Ohnehin musste ich während des Gesprächs meine ganze Willenskraft aufbieten, um nicht entweder mit einem Speichelfaden am Mund dazusitzen oder mir gleich die Hose zu öffnen und einen runterzuholen.
Nina hatte sich an Johanna gelehnt, streichelte und zupfte immer wieder an ihr herum, küsste sie auf den Hals, die nackten Schultern oder knabberte an ihrem Ohr. Zwischendurch rückte sie nicht nur öfter ihre Ketten zurecht, sondern streichelte sich auch selbst den Oberkörper, die flachen, kaum merklich vorstehenden Brüste und auch ganz beiläufig die gut entwickelten, ständig leicht erregt hervorgewölbten Schamlippen.
Johanna dagegen blieb äußerlich ruhig. Ich hatte den Eindruck, sie beobachtete vor allem meine Reaktionen, doch das konnte auch täuschen. Irgendwann legte sie jedoch die linke Hand zwischen Ninas Beine und begann, sie dort leicht zu streicheln, bis Nina schließlich nicht mehr anders konnte und leise wohlig zu stöhnen begann.
"Soll ich nicht lieber jetzt gehen?" überwand ich mich zu fragen.
Die beiden schauten sich kurz, lächelten und meinten dann wie aus einem Munde: "Nein, nein, bleib ruhig da! Du störst uns nicht."
Ich blieb. Allerdings wurde die Hand wieder weggezogen, und das Gespräch verlief weiter im Allgemeinen. Ich steuerte ein paar Anekdoten von meinen geschäftlichen Besuchen in London bei, und mit der Zeit gelang es mir sogar, das Ungewöhnliche und äußerst Erregende der Situation ein Stück weit zu verdrängen.
Schließlich wollten die beiden Mädchen mit dem Auspacken weitermachen, und es wurde beschlossen, dass ich gegen Abend noch einmal vorbeischaute, wenn die Mutter und die Schwester wieder da seien.
III
Die Sonne stand bereits tief über den Bäumen der Gärten, als ich zum zweiten Mal an diesem Tag am Tor des Nachbarhauses klingelte. Diesmal öffnete mir die Mutter, Larissa.
Sie war fast so groß wie ich. Ihre schlanke Figur hatte ich ja am Vorabend schon ausgiebig bewundern können. Aus der Nähe wirkte sie noch faszinierender. Da sie eine Tochter von fast zwanzig Jahren hatte, konnte sie nicht sehr viel jünger sein als ich, doch ihre Bewegungen, ihre Ausstrahlung, die Glätte ihrer Haut und all die anderen kleinen Anzeichen, die einem normalerweise das Alter eines Menschen verrieten, wirkten eher wie bei einer Frau Anfang bis Mitte Dreißig. Einzig der Blick aus ihren grauen Augen in dem schmalen, fast aristokratischen Gesicht zeugte von einer viel längeren Lebenszeit. Sie trug ein weites, ponchoartiges Kleid aus einem leichten, im geringsten Lufthauch aufwehenden Stoff, das die Arme und auch einen recht großzügig bemessenen Ausschnitt frei ließ. Es war silbergrau und mit dunkelroten Ornamenten bedruckt, die mich an griechische Buchstaben erinnerten.
"Wie schön, dass Sie noch einmal kommen konnten!" begrüßte sie mich mit offener, natürlicher Freundlichkeit. "Johanna hat mir schon einiges erzählt, und ich war nun wirklich etwas neugierig."
"Oh danke, ganz meinerseits! Neue Nachbarn bekommt man ja nicht alle Tage ..."
"Sicher. Aber kommen Sie ... ach, ich habe gehört ... Robert, nicht wahr? ... dass die Mädels mit dir schon per du sind. Darf ich dich auch duzen?"
"Sicher, warum nicht. Ich bin es ja gewohnt, hier in diesem Haus. Ich bin hier noch nie gesiezt worden, außer natürlich von Besuchern meiner Nachbarn manchmal ..."
In diesem Moment geschah etwas Eigenartiges. Ich hatte den Satz noch nicht ganz beendet, als sie mir die Hand auf den Arm legte. Ich trug ein Polohemd, spürte folglich ihre schlanke, kräftig wirkende Hand direkt auf meiner Haut - und es war keine gewöhnliche Berührung. Von ihrer Hand schien ein Kribbeln, ein kaum merkliches Streicheln auszugehen, das mir wie ein Stromstoß durch den ganzen Körper fuhr.
Noch verwunderlicher aber waren die Worte, die sie in einem warmen, halbleisen Ton dabei an mich richtete:
"Lass nur, Robert. Du musst nichts sagen über diese Leute. Ich weiß Bescheid."
Sie wusste ... ich war so verblüfft, dass ich nichts erwiderte. Dann bat sie mich, ihr zu folgen, und ging voraus, durch den Grünen Salon auf die Terrasse.
***
Ja, es stimmte. Ich hatte allen Grund, keine Worte mehr über meine ehemaligen Nachbarn und Freunde zu verlieren. Er, Dominik, war der Grund, weshalb meine Frau mich verlassen hatte - von heute auf morgen und ohne Vorwarnung.
Dass die Ehe meiner Nachbarn nicht mehr in Ordnung war, hatte ich schon länger gewusst. Auch dass meine eigene Ehe durch meine ständig wachsende Arbeitsbelastung gelitten hatte, war mir klar gewesen. Dennoch traf mich die abrupte Trennung unvorbereitet, zumal ich von allen Beteiligten zuletzt von der Sache erfuhr. Als Fehler stellte sich im Nachhinein auch das - einmalige - Experiment eines Partnertauschs heraus, den wir im vergangenen Sommer unternommen hatten. Während meine Nacht mit der Nachbarin, Regina, uns beiden eher als verrückter Spaß vorgekommen war, war zwischen meiner Frau und Dominik dabei wohl der Keim einer sehr heftigen und ernsten Beziehung gelegt worden.
Irgendwann kam Regina hinter die Affäre, doch statt mich einzuweihen und vielleicht den gemeinsamen Versuch zu unternehmen, die Situation wie erwachsene Menschen zu lösen, begann sie, mit einigen mehr als fragwürdigen Methoden um ihren Mann zu kämpfen. Die Sache kam schließlich ans Licht, als meine Frau nur mit knapper Not einer Vergiftung entging. Regina wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, und das geschockte Liebespaar zog in eine andere Stadt. Ich hatte zwar meiner Frau noch am Krankenbett einen Neuanfang angeboten, doch sie lehnte ab. Auf Dominik verzichten wollte sie keinesfalls, und auf meine Andeutung, dass wir uns ja notfalls auch zu dritt arrangieren könnten, reagierte sie so, als hätte ich ihr eine zweite Dosis Gift angeboten.