Safe Harbor. H.J. Welch

Safe Harbor - H.J. Welch


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der dominantere.

      »Ja, ja. Ich habe dich natürlich auch vermisst«, sagte Robin und klopfte ihm auf den Rücken. »Und jetzt lass mich los.«

      Jay lachte laut und fing an, ihn zu kitzeln. Robin hatte es ernst gemeint. Er hatte Jay vermisst wie einen Teil seiner selbst.

      Trotz der unterschiedlichen Haarfarbe fiel bei genauer Betrachtung sofort auf, dass sie Brüder sein mussten. Sie hatten das gleiche Gesicht, die gleiche Mimik und Gestik und waren beide Linkshänder. Aber damit endeten die Ähnlichkeiten zwischen ihnen weitgehend.

      Robin war gerne mit Jay zusammen, weil er sich mit ihm irgendwie komplett fühlte. Als könnte er nur dann ruhig und gelassen sein, wenn sein Bruder ihn ausbalancierte.

      Es war für beide ein Schock gewesen, als Robin sich abnabelte und nach Seattle ging.

      Damals war Robin so froh gewesen, am College seiner Wahl angenommen worden zu sein, dass er wie selbstverständlich davon ausgegangen war, Jay würde ihn begleiten. Schließlich konnte man überall studieren, wenn man Lehrer werden wollte.

      Doch Jay hatte darauf bestanden, dass es Robin guttun würde, unabhängig zu werden und sein eigenes Leben aufzubauen. Robin war anfangs verletzt gewesen und hatte sich verlassen gefühlt, obwohl er selbst für ihre Trennung verantwortlich war. Dann stellte sich jedoch heraus, dass Jay recht gehabt hatte. Natürlich. Robin brauchte den Freiraum, um sich zu entfalten, ohne sich auf Jay zu verlassen oder von Mac eingeengt zu werden.

      Robin mochte in der großen, weiten Welt aufgeblüht sein, aber der extrovertierte Jay war immer noch der Gegenpol zu seiner eigenen Zurückhaltung. Während ihrer Schulzeit hatte Jay in der Theatergruppe geglänzt und dafür gesorgt, dass es für einige Jahre cool war, Theater zu spielen, weil jeder mit dem begabten und witzigen Jay Coal auf der Bühne stehen wollte. Robin hatte jede ihrer Aufführungen in der ersten Reihe mitverfolgt, strahlend vor Stolz auf seinen Bruder. Aber Gott bewahre, wenn sich das Scheinwerferlicht auf ihn selbst richtete.

      Robin genoss es, am Rand des Geschehens zu stehen und es von dort in Ruhe zu beobachten. Unter Menschen zu sein, war anstrengend für ihn. Er war nicht wie Jay, der sich in Menschengruppen wohlfühlte und sich unbeschwert unterhalten konnte. Solche Situationen waren ermüdend für Robin und er ergriff nach einiger Zeit die Flucht, um sich irgendwo zu verstecken und wieder zu erholen. Bevorzugt mit einem lauten Videospiel, in dem er außerirdische Invasoren erschießen konnte.

      Deshalb wollte Robin jetzt dringend wissen, was sie heute Abend unternehmen würden. Jay hatte es ihm noch nicht gesagt und als er an die Tür klopfte, war Robin sofort losgelaufen, damit sie noch kurz allein miteinander reden konnten. Als ihm einfiel, dass er seine Mom und Dair allein gelassen hatte, war es schon zu spät gewesen. Aber die beiden schienen sich gut zu verstehen und hatten außerdem Smudge, der im Notfall als Puffer dienen konnte.

      Obwohl es nichts zu bedeuten hatte – schließlich war Dair nicht wirklich sein Freund –, freute sich Robin, dass seine Mom ihn mochte.

      »Keine Angst«, versicherte ihm Jay, schloss hinter sich die Tür und wuschelte ihm durch die Haare. »Heute steht nur das Familienessen auf dem Programm. Ich dachte mir, dass du vielleicht absagst, wenn du weißt, dass wir heute alle zusammen sind, um deinen neuen Mann kennenzulernen. Deshalb könnte ich dich vielleicht in dem Glauben gelassen haben, für heute stünde ein offizieller Termin an.«

      »Arschloch«, grummelte Robin. Vermutlich wurde es gar nicht so schlimm, aber für Dair war es eine echte Zumutung – und der arme Kerl bekam dafür noch nicht einmal eine Freundin mitgeliefert.

      »Da wir gerade davon reden…« Jay zog eine Augenbraue hoch und sah ihn streng an. »Freund wie in fester Freund?«

      Robin musste sich Mühe geben, nicht das Gesicht zu verziehen. »Ja, Freund wie in fester Freund«, sagte er und hoffte, es würde sich nicht so abwehrend anhören, wie er sich fühlte.

      »Du hast nie einen Freund erwähnt.«

      »Na ja, ich konnte mir schließlich denken, wie du darauf reagierst, oder?« Robin wedelte mit der Hand vor seinem Bruder auf und ab. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust. »Ich gehe sehr wohl gelegentlich aus. Es ist nur so, dass die anderen Männer alle fürchterlich waren und ich sie schnell wieder abserviert habe. Oder sie mich. Aber darum geht es nicht.«

      »Und worum geht es dann?« Jay amüsierte sich sichtlich über Robins Gefasel. Jay faselte nie.

      »Es geht darum, dass…«, fing Robin an und suchte verzweifelt nach einem glaubhaften Argument. »Es geht darum, dass Dair der erste Mann ist, der es lange genug ausgehalten hat, um erwähnenswert zu sein. Und ich wollte diese Woche an dem Klassentreffen teilnehmen. Also… Bingo!« Er wedelte wieder mit den Händen. »Und jetzt weißt du, dass ich einen Freund habe. Ist doch keine große Sache.«

      »Keine große Sache?«, wiederholte Jay. Sie wussten beide, dass das Unsinn war, aber Robin wollte Jay nicht die Möglichkeit geben, sich länger damit zu befassen.

      »Ja. Er hat Mom und Kestrel schon kennengelernt.«

      Vielleicht war sein Dad mittlerweile auch ins Haus gekommen. Robin wusste es nicht. Ihr älterer Bruder Swift und ihre jüngere Schwester Ava waren noch bei der Arbeit und würden hoffentlich bald nach Hause kommen. Robin wollte nicht allzu lange auf sie warten müssen, bevor es das Abendessen gab. Sonst hätten die anderen nur umso mehr Zeit, um Dair auszuhorchen –, und das gefährdete nicht nur ihre Scharade, sondern belastete auch Robins Nerven.

      Jay kniff die Augen zusammen. »Wie ist er?«

      Robin verdrehte die Augen und breitete die Arme aus. »Wie ein Freund eben ist«, rief er erschöpft.

      »Dann komm jetzt.« Jay tanzte praktisch durch den Flur davon. Robin lief ihm schnell nach. Er wusste zwar, dass Jay nicht gemein sein und ihn oder Dair in die Bredouille bringen würde, aber nervös war er trotzdem.

      Der letzte Mensch, der ihm etwas bedeutete und den er seiner Familie vorgestellt hatte, war Peyton, seine beste Freundin. Die war allerdings frech genug, um sich gegen mehrere Coals auf einmal durchzusetzen. Der einzige feste Freund, den er jemals gehabt hatte, war Mac, und das lag schon lange zurück. Seine Familie hatte ihn damals respektvoll behandelt, aber nicht mit ihrer Meinung über ihn zurückgehalten, nachdem es zwischen Robin und Mac aus war. Es war ihm immer noch peinlich, dass er Mac so lange ertragen hatte.

      Robin schüttelte die Erinnerung ab. Es wäre schön, wenn seine Familie Dair mochte, denn Robin wollte auch nach dieser Woche noch mit ihm befreundet bleiben. Doch letztendlich waren sie kein Paar und wie immer es auch ausgehen mochte, es würde alles in Ordnung kommen.

      Oder?

      Als Robin in die Küche kam, war Jay gerade dabei, Dair zur Begrüßung zu umarmen. Vielleicht hätte er Dair davor warnen sollen, dass seine Familie Körperkontakt sehr aufgeschlossen gegenüberstand. Andererseits schien es Dair nichts auszumachen, alle fünf Minuten von seinem Stuhl aufstehen zu müssen und sich umarmen zu lassen. Robin wurde von Stolz gepackt und musste sich erst wieder in Erinnerung rufen, dass alles nur ein Spiel war. Er musste vorsichtig sein und durfte nicht zulassen, dass seine Familie Dair allzu sehr ins Herz schloss. Schließlich würden sie in einigen Wochen wieder offiziell Schluss machen.

      »Wow.« Jay trat einen Schritt zurück und klapste Dair an den starken, muskelbepackten Arm. »Swift wird sich freuen. Endlich hat er jemanden, mit dem er über Hanteln und Proteindrinks reden kann.«

      Dair wurde etwas verlegen und Robin hätte seinem Bruder am liebsten eine gescheuert, obwohl Jays Bemerkung scherzhaft gemeint war. Dair gab sich solche Mühe, nicht wie ein ungebildeter Muskelprotz zu wirken.

      »Dair kann über viele Dinge reden«, platzte er heraus. »Er liebt Karatefilme, kocht immer thailändisch für uns und hat Panzer repariert, als er noch bei den Marines war. Und außer Smudge hat er noch eine Bulldogge und drei Katzen aufgenommen. Oh… und letzte Woche hätte er mich beinahe bei Far Cry geschlagen und ihr wisst alle, wie sensationell das ist.«

      Er lachte und stemmte die Hände in die Hüften. Allgemeines Schweigen.

      Verdammt.


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