Safe Harbor. H.J. Welch
zu sein. Nach einigen Minuten gelang es ihm, das Gespräch zu beenden und ihnen zu sagen, wenn sie etwas nicht verstehen würden, könnten sie mit Google eine Lösung finden. Dann schaltete er das Handy aus. Nachrichten von seiner Familie wollte er auch nicht lesen, also konnte er das verdammte Ding auch stumm schalten und in die Tasche stecken.
Je weiter sie nach Osten fuhren, umso malerischer wurde die Landschaft. Die Fahrt nach Pine Cove dauerte drei bis vier Stunden und sie hatten es nicht eilig. Sie waren erst aufgebrochen, nachdem der morgendliche Berufsverkehr sich wieder gelegt hatte, würden aber trotzdem im Laufe des frühen Nachmittags ankommen.
Robin war zu feige gewesen, um seiner Familie persönlich zu sagen, er würde seinen Freund mitbringen. Er befürchtete, dass Jay den Braten sofort riechen würde. Also hatte er nur in der Chatgroup seiner Familie eine Nachricht hinterlassen, das Handy abgeschaltet und weggepackt. Er wusste nicht, wie sie reagieren würden. Robin hatte seit Mac keinen Mann mehr mit nach Hause gebracht und es war kein Geheimnis, wie erleichtert sie alle gewesen waren, als Robin endlich den Mut aufbrachte, Mac den Laufpass zu geben.
Es war nicht leicht gewesen. Robin hatte es während dieses letzten Sommers vor dem Studium sogar mehrmals tun müssen, weil Mac ein Nein einfach nicht akzeptieren wollte. Damals hatte Robin sich noch geschmeichelt gefühlt, dass ein so attraktiver und sportlicher Kerl wie Mac ihn begehrte. Deshalb hatte er sich immer wieder überreden lassen, es noch einmal zu versuchen. Erst als Robin dann die Stadt verließ, hatte Mac endlich eingesehen, dass es wirklich vorbei war.
War das alles jemals Wirklichkeit gewesen? Sie waren schließlich schon damals nicht die einzigen schwulen Schüler gewesen und ihre Schule hatte eine sehr aktive LGBT-Gruppe. Robin freute sich darauf, einige seiner damaligen Freunde nach so langer Zeit wiederzusehen, besonders den exzentrischen Emery Klein. Er hatte jedoch nie erwartet, jemals einen festen Freund zu haben. Vor allem deshalb nicht, weil er einen so fabelhaften, charmanten Zwillingsbruder hatte.
Robin hatte sich oft gefragt, ob er nicht nur deshalb anderthalb Jahre mit Mac ausgehalten hatte, weil er sich geschmeichelt fühlte, Macs Interesse geweckt zu haben.
Er wurde aus seinen Erinnerungen gerissen, als ihm ein kleines Fellknäuel vom Rücksitz auf den Schoß sprang. Dair hatte Smudges Körbchen hinten in den Truck gestellt, aber Smudge wollte offensichtlich viel lieber sein Herrchen und dessen Freund peinigen.
»Hallo aber auch!«, rief Robin und hob den Welpen hoch. »Du verursachst noch einen Unfall, du kleiner Spinner!«
Dair lachte nur und brachte damit Robins Herz zum Klingen. Dair lachte so freimütig und war immer großzügig mit seinem Lächeln, seiner Zeit und seiner Geduld. Warum sonst sollte er mit Robin auf dem Weg zu dessen Klassentreffen sein?
Robin war kein Narr. Er wusste, dass es nicht leicht sein würde, die Leute davon zu überzeugen, dass ein so umwerfender Mann wie Dair sein Freund war. Aber verdammt… Es gehörte zu ihrem Spaß dazu. Für eine Woche konnte Robin seine Fantasie ausleben und sich vorstellen, dass Dair wirklich an ihm interessiert war. Dann würden sie sich in einigen Wochen freundschaftlich wieder trennen und niemand erfuhr, was wirklich hinter der Geschichte gesteckt hatte. Und sie konnten weiter Freunde bleiben. Hoffentlich sogar bessere Freunde als vorher.
Während Dair fuhr, unterhielten sie sich über ihr Leben. Es gab Dinge, die sie übereinander wissen mussten, um die Geschichte glaubhaft zu machen. Sie beschlossen zu sagen, dass sie seit ungefähr einem Monat zusammen wären. Dann hätte ihre Beziehung zwei Monate nach Dairs Einzug begonnen, was sich ihrer Meinung nach glaubhaft anhörte.
Robin erfuhr zu seinem Bedauern, dass Dairs Eltern vor etwas mehr als zehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Dair ging damals noch zur Schule. In dieser Zeit und in den Jahren danach war seine ehemalige Freundin, Malory, sein Fels in der Brandung gewesen. Sie war immer für ihn da gewesen, wenn er von einem Auslandseinsatz zurückkam. Doch nachdem er aus dem Militär ausgeschieden war und sein neues Leben als Automechaniker begann, hatten sie sich auseinandergelebt und schließlich mehr oder weniger freundschaftlich getrennt.
Trotz dieser etwas traurigen Geschichte machte Dair einen fröhlichen Eindruck, sodass Robin sich nicht lange damit aufhielt. Er half Dair, sich die Namen seiner Geschwister und die Reihenfolge ihrer Geburt zu merken. Er erzählte ihm einige Details über die Stadt, wie er Peyton am College kennengelernt hatte und von seinem Job, den er schon seit seinem Umzug nach Seattle machte.
Dair erzählte über die Arbeit als Automechaniker und benutzte dabei unzählige Wörter, die Robin überhaupt nichts sagten, weil er von Autos null Ahnung hatte. Dafür wusste Dair nichts über Javascript oder Refactoring. Sie bewunderten sich gegenseitig für ihre Arbeit und hatten eine gute Zeit dabei.
Dann stellte Dair eine Frage, die Robin aus seiner Beschaulichkeit riss.
»Also… Wer von uns hat den ersten Schritt gemacht?«
Sie hatten sich Burger und Pommes in einer Art Blockhaus-Diner besorgt. Robin ließ sich beinahe das Brötchen auf den Schoß fallen, weil es ihm durch die Hände flutschte wie eine scharfe Granate. Irgendwie schaffte er es, das Brötchen wieder in den Griff zu kriegen, bevor es komplett auseinanderfallen konnte.
»Äh, was?«, fragte er mit vollem Mund.
Smudge lag schlafend auf dem Boden und hechelte leise vor sich hin. In dem Diner waren Hunde nicht erlaubt, deshalb saßen sie draußen an einem der Picknicktische und hatten Smudges Leine um ein Bein der Bank gewickelt.
Dairs Augen funkelten. »Wie ist es passiert? Dass wir zusammen sind?«
Robin spürte die Hitze, die ihm in die Wangen stieg. Er schluckte einen Mundvoll Burger und versuchte verzweifelt, die aufsteigende Röte zu verhindern. »Äh, keine Ahnung… Ich weiß nicht?«
Er hatte damit nur begrenzt Erfahrung. Mac hatte ihn eingeladen, um gemeinsam Saturday Night Live zu schauen und stibitztes Bier zu trinken. Dann hatte er ihn auf dem Sofa seiner Eltern einfach geküsst. Mac hatte die Sache unter Kontrolle gehabt und Minuten später waren sie in seinem Zimmer gelandet, waren nackt gewesen und hatten sich gegenseitig einen runtergeholt. Wie geile Teenager eben so sind.
Seine Grindr-Kontakte und kurzen Affären waren immer durch eine bestimmte Erwartungshaltung geprägt, die weit von der magischen Atmosphäre entfernt war, nach der sich Robin immer gesehnt hatte. Was wollte er wirklich? Ihre Beziehung war nur vorgespielt. Was war das Romantischste, was er sich vorstellen konnte?
Und wollte er sich das eigentlich so genau vorstellen? Es war nicht so, als wäre er nicht schon diverse Szenarien im Kopf durchgegangen – Szenarien, in denen ihm Dair seine wahren Gefühle gestand; Szenarien, in denen er sich vorbeugte und fragte, ob er Robin küssen dürfte…
Er rutschte unruhig auf der Bank hin und her und hoffte, es würde Dair nicht auffallen. »Äh, ja. Ich dachte, du wärst nicht schwul. Wie wäre es also, wenn du mich eingeladen hättest?«
»Essen und Kino?« Dair schob sich grinsend eine Pommes in den Mund. »Vielleicht dachte ich, es würde ein ganz harmloser Abend unter Freunden. Dann hast du mich darauf hingewiesen, dass es ein Date ist. Das wäre doch süß, oder?«
Verdammt. Versuchte Dair etwa absichtlich, ihn so aus der Bahn zu werfen?
»Ja, das wäre süß«, gab Robin hilflos zu. Sein Herz flatterte.
»Und dann, nachdem ich erkannt hatte, dass es wirklich ein Date war, ist mir aufgefallen, dass es mir gefällt. Danach haben wir uns Zeit gelassen und ich konnte die Sache mit dem Bi-Sein in Ruhe erkunden. Wir haben zusammen Netflix geschaut, sind spazieren gegangen und so?«
Robin nickte. Er hatte einen Kloß in der Kehle. »Klar.«
»Oh. Der erste Kuss.« Dair nickte und sah aus, als würde er ernsthaft darüber nachdenken. »Wie wäre es, wenn ich dir am ersten Abend einen Kuss auf die Wange gegeben hätte? Und am nächsten Abend einen richtigen Kuss? Nachdem ich Mut gefasst hatte.«
Er wackelte mit den Augenbrauen. Das Thema schien ihm nicht unangenehm zu sein. Robin wurde etwas schwindelig. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du für irgendwas erst Mut fassen musst«, murmelte er schließlich.