Safe Harbor. H.J. Welch
Dair leckte sich über die Lippen. Er war so damit beschäftigt gewesen, Robin aufzumuntern, dass er ganz vergessen hatte, über seine eigenen Gefühle nachzudenken. Robin hatte ihn umwerfend genannt. Und das war plötzlich eine viel größere Sache als in ihrer Wohnung, als sie beide betrunken gewesen waren.
Die einzigen Eltern, denen er jemals vorgestellt worden war, waren Malorys Eltern gewesen. Natürlich hatte er während seiner Schulzeit die Eltern von Klassenkameraden kennengelernt. Aber die hatte er schon lange wieder vergessen. Es konnte also nicht sehr bemerkenswert gewesen sein – ganz im Gegensatz zu Malorys Familie.
Ihr Dad war der Finanzdirektor einer großen Anwaltskanzlei in Seattle, ihre Mutter Innenarchitektin und ihre ältere Schwester Anwaltsgehilfin. Sie hatten ihn zwar akzeptiert, aber er hatte sich bei Familientreffen immer wie ein Außenseiter gefühlt.
Wie würde Robins Familie ihn empfangen? Er und Robin waren zwar kein richtiges Paar, aber das wussten die Coals nicht. Was war, wenn sie den grobschlächtigen Mechaniker nicht für würdig befanden, der Freund ihres gebildeten Sohnes zu sein?
Und spielte das überhaupt eine Rolle? Wenn diese Woche vorbei war, würde auch ihre angebliche Beziehung enden. Er war nur hier, um diesen Mac von Robin fernzuhalten. Und doch wünschte er sich jetzt die Anerkennung von Robins Familie. Es war ihm wichtig, dass Robin stolz auf ihn sein konnte und er Robin die Selbstsicherheit vermittelte, die ihm selbst plötzlich zu fehlen schien.
Die Haustür schwang auf und Dair setzte das strahlendste Lächeln auf, das ihm gelingen wollte. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr«, flüsterte er Robin mit zusammengebissenen Zähnen zu. Eine kleine, braungelockte Frau in mittleren Jahren kam auf die Veranda gelaufen und winkte aufgeregt, als bestünde die Gefahr, dass Dair und Robin sie übersehen könnten. »Deine Mom?«, fragte Dair.
Robin gab ein quiekendes Geräusch von sich.
Also gut. Das Spiel ging los. Sie waren auf einer Mission und Dair musste sich auf seinen Auftrag konzentrieren. Er kam Robin zuvor, stieg aus und lief um das Auto herum, um ihm und Smudge die Tür zu öffnen, wie er es von seinem Papa vor dessen Tod gelernt hatte. Natürlich war Mr. Epping davon ausgegangen, sein Sohn müsste es für eine Frau lernen. Das hieß aber noch lange nicht, dass Dair vergessen hatte, wie man sein Date höflich behandelte.
»Oh, danke«, sagte Robin leise und sprang aus dem Wagen. Smudge folgte ihm und fing sofort an, heftig an der Leine zu zerren. Er war in einem neuen Revier und wild entschlossen, jeden Quadratzentimeter zu beschnüffeln.
Das Haus der Coals war aus hellem Holz gebaut und hatte drei Stockwerke. Holzpfosten trugen das Dach der Veranda und eine Überdachung, unter der Autos abgestellt waren. Große Fenster ließen viel Tageslicht ins Haus. Dair war während ihrer Fahrt durch die Randbezirke der Stadt aufgefallen, dass nur wenige Häuser nebeneinander aufgereiht die Straßen säumten. Die meisten waren frei stehend. So auch das Haus der Coals, das von Pinien umgeben war und dreißig Meter von der Straße entfernt am Ende der Einfahrt lag. Dair holte tief Luft und atmete den Duft der Bäume ein.
Es gefiel ihm jetzt schon.
»Es ist schön hier.«
Robin schlug schweigend die Autotür zu. Er lächelte seine Mom nervös an, zögerte aber, auf sie zuzugehen.
Das war nicht der Robin, den Dair kennengelernt hatte. Wo war der Mann geblieben, mit dem er stundenlang die physikalischen Grundlagen des Warp-Antriebs der Enterprise diskutiert hatte? Der Mann, der ihn bei Call of Duty abgezogen hatte? Der Mann, der sich vor einigen Monaten offensichtlich seinem Chef widersetzt hatte, weil der eine falsche Entscheidung treffen wollte? Wo war der süße, lustige Kerl geblieben, der zu den Liedern von Carrie Underwood durch die Wohnung tanzte, wenn er sich unbeobachtet glaubte?
Okay. Genau deshalb war Dair hier. Um der perfekte Freund zu sein und Robin auf jede nur erdenkliche Weise zu beschützen. Und wenn dazu diese überraschende Nervosität gehörte, die Robin jetzt angesichts seiner Familie gepackt zu haben schien, dann war das auch in Ordnung. Dair fasste ihn an der Hand, drückte zweimal kurz zu und nickte dann in Richtung Haus.
»Ja, richtig«, stammelte Robin.
Smudge wollte unbedingt Mrs. Coal kennenlernen und zog an der Leine, bis ihm die beiden endlich zur Veranda folgten.
»Oh, Robin!«, rief seine Mom. Ihre Augen glänzten feucht hinter den Brillengläsern, als sie die Treppe heruntergelaufen kam und ihren Sohn umarmte. Dair erwartete, dass Robin seine Hand loslassen würde, doch Robin hielt sie nur noch fester umklammert. »Du siehst wunderbar aus. Ich könnte wetten, dass du gewachsen bist. Wie war eure Fahrt? Habt ihr genug gegessen? Das Abendessen ist bald fertig. Ich hoffe, ihr habt Appetit mitgebracht. Die anderen kommen auch noch und… Ach, bin so froh, dass ich dich wiederhabe!«
Dair spürte ein Stechen in der Brust. Malorys Mutter war auch nett gewesen, aber lange nicht so warm und herzlich wie Robins Mom. Es war unübersehbar, wie sehr Mrs. Coal ihren Sohn liebte. Dairs Erinnerungen an seine eigene Mom waren im Laufe der letzten zehn Jahre verblasst, obwohl er sie immer wieder wachrief. Er war nie lange genug von seinen Eltern getrennt gewesen, um so sehr vermisst zu werden. Wäre seine Mom auch so emotional geworden, wenn sie ihn mehrere Monate nicht gesehen hätte?
»Meine Güte. Du musst Alasdair sein.« Mrs. Coal ließ Robin nicht ganz los, als sie sich zu ihm umdrehte. »Ich freue mich so, dich kennenzulernen, mein Liebling.«
Dairs Brust zog sich zusammen. Er wünschte fast, er würde wirklich seine künftigen Schwiegereltern kennenlernen. Mrs. Coal machte einen sehr netten und offenherzigen Eindruck. Das Gefühl hielt zwar nicht lange an, aber es war sehr stark und beinahe überwältigend. Dair rief sich seine Aufgabe in Erinnerung und reichte ihr lächelnd die Hand.
»Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Ma'am.«
Sie schlug seine Hand zur Seite, stellte sich auf die Zehenspitzen und warf ihm die Arme um den Hals. Dair wurde davon so überrascht, dass er ganz vergaß, ihre Umarmung zu erwidern, bevor sie ihn wieder losließ.
»Entschuldigung«, sagte sie unter ihren braunen Wuschelhaaren, die sich vor Aufregung auf das doppelte Volumen aufgeplustert hatten.
Sie zog ein Haarband vom Handgelenk und versuchte, ihre Locken in einem Pferdeschwanz zu bändigen. Am Kragen ihrer Strickjacke steckte eine Brosche in Form einer dicken Hummel. Einige weitere Löcher im Gewebe ließen darauf schließen, dass hier schon andere Broschen und Nadeln gesteckt haben mussten. Die Knie ihrer ausgebleichten Jeans hatten braune Schlammspuren, die sich offenbar nicht mehr auswaschen ließen.
»Es ist alles so überwältigend.« Mrs. Coal wedelte mit der Hand vor ihren feuchten Augen. »Robin hat noch nie einen Mann mit nach Hause gebracht und du scheinst ein richtiger Gentleman zu sein. Und wer ist dieser kleine Schatz?«
Der arme Smudge sprang ihnen auf der Suche nach Streicheleinheiten um die Füße. Als Mrs. Coal sich vor ihm auf den trockenen Boden kniete, sprang er sofort an ihr hoch und leckte ihr übers Gesicht. Sein Schwanz wedelte so wild, dass er Dair ans Bein schlug.
»Brav, brav!« Dair legte die Hand über Robins, um Smudge an der Leine zurückzuziehen. »Tut mir leid, Ma'am.«
»Warum sollte es dir leidtun?«, rief sie lachend und drückte sich mit dem Gesicht an den kleinen Hund. »Er ist ein Schatz. Ist das deiner?«
»Das ist er«, erwiderte Dair zärtlich.
»Dair hat ihn gerettet«, erklärte Robin. Dair wurde warm ums Herz, als er den Stolz in Robins Stimme hörte. »Er hat alle seine Hunde und Katzen gerettet. Die anderen hat er sogar aus Afghanistan mitgebracht.«
Mrs. Coal zog ein Taschentuch aus dem Jackenärmel und wischte sich übers Gesicht. Dann stand sie auf. »Du bist ein Engel. Als Robin noch ein kleiner Junge war, hatten wir einen Collie. Nachdem er gestorben ist…« Sie schüttelte sich und lächelte, aber ihre Augen glänzten immer noch feucht hinter der Brille. »Wie auch immer. Es freut mich, dich kennenzulernen, mein Liebling. Bobbin hat uns nicht verraten, dass du ein so hübscher Mann bist.« Sie zwinkerte ihm zu. »Wollt ihr nicht reinkommen?«