Safe Harbor. H.J. Welch
Mann bezeichnet hatte. Es war ihm auch egal. Er genoss es einfach.
»Bobbin?«, fragte er, als sie hinter ihr die Treppe zur Veranda hinaufgingen.
»Gnade!«, bettelte Robin stöhnend, aber das Grinsen in seinem Gesicht zeigte, dass er es nicht allzu ernst meinte.
Sie ließen ihr Gepäck im Kofferraum, um es später mit ins Motel zu nehmen. Dair ließ sich von Robin und Smudge ins Haus führen.
Als Erstes fielen ihm die vielen Fotos auf. Sie hingen an den Wänden und standen auf den Möbeln. Selbst zu einem Windspiel, das auf der Veranda hing, gehörten einige Babyfotos. Dair wusste, dass die Familie fünf Kinder hatte, aber da die Fotos alle Altersgruppen abdeckten, konnte er sie nicht zuordnen und wusste nicht, wie sie heute aussehen mochten.
Bis auf Robin. Er war der einzige Rotschopf. Seine roten Haare stachen auf jedem Bild hervor. Da er oft mit einem gleichaltrigen, schwarzhaarigen Jungen fotografiert worden war, nahm Dair an, dass es sich dabei um seinen Zwillingsbruder Jay handelte. Aber der Rest blieb ihm ein Geheimnis.
Auf dem Holzfußboden lagen abgenutzte Teppiche und es gab fast so viele Keramikgefäße wie Fotos. Der Duft nach gebratenem Hähnchen lag in der Luft und ließ Dair das Wasser im Munde zusammenlaufen, obwohl sie vorhin Hamburger mit Pommes gegessen hatten.
»Deine Geschwister sind leider alle noch auf der Arbeit, aber dein Dad bastelt in seiner Werkstatt rum. Und Kes… Kes!«
Sie rief abgelenkt durchs Haus, während sie in die große, offene Küche eilte, ohne darauf zu achten, ob Dair und Robin ihr folgten. Ein großer Topf, der auf dem Herd stand, war am Überkochen.
»Jiminy Cricket!« Sie zog den Topf von der Flamme und hielt ihn hoch, bis sich das Wasser darin wieder beruhigt hatte.
Dair fand sich in einer geräumigen Küche wieder und sein Instinkt sagte ihm, dass es sich hier um das Herz des Hauses handelte. L-förmige Einbauten rahmten die Wände und eine große Kücheninsel trennte den Arbeitsbereich vom Esszimmer. Ein großer Holztisch mit dicken, gedrechselten Beinen stand in der Mitte. Auf dem Tisch befand sich eine Schale mit bunten Kieseln. Sie waren so unregelmäßig in Farbe und Form, dass Dair auf den ersten Blick erkannte, dass sie nicht gekauft, sondern an einer ganzen Reihe unbekannter Strände aufgesammelt worden waren. Vermutlich steckte hinter jedem Stein eine besondere Erinnerung.
Als er mit achtzehn Jahren zu den Marines gegangen und mit seiner Grundausbildung begonnen hatte, war der Schmerz über den Verlust seiner Eltern noch frisch gewesen. Er hatte es nicht über sich gebracht, das Haus auszuräumen und zu verkaufen, sondern nur einige Kisten gepackt und eingelagert und seiner Tante und seinem Onkel überlassen, das Haus aufzulösen.
Erst im Laufe der Jahre war ihm aufgefallen, wie selbstsüchtig er sich verhalten hatte. Und nicht nur das. Er hatte auch viele Erinnerungsstücke verloren, die entweder in seiner großen Familie verteilt oder der Wohlfahrt gespendet worden waren. Würde er sich jetzt, als Erwachsener, mit seiner Vergangenheit stärker verbunden fühlen, wenn er mehr greifbare Erinnerungen zurückbehalten hätte? Dair würde es nie erfahren.
»Steckst du schon wieder das Haus in Brand, Mom?«
»Ich habe noch nie… Das war nur ein einziges Mal«, protestierte Mrs. Coal und stellte den Topf auf den Herd zurück.
Eine Teenagerin mit Koboldfrisur kam grinsend in die Küche gelaufen, ein Handy in der Hand. Sie sprang hoch und schlug sich mit der Hand vor die Brust, als sie Robin und Dair am Küchentisch sitzen sah.
»Meine Güte! Wir werden ausgeraubt!«
»Ha, ha.« Robin rollte mit den Augen, als er aufstand und seine Schwester zur Begrüßung umarmte. »Schön, dich zu sehen, Kes.«
»Ich heiße Kestrel«, korrigierte sie ihn spitz und steckte ihr Handy in die Hosentasche. Dann wurde sie abgelenkt. »Ein Hündchen!«
Wie ihre Mom sank sie auf die Knie und lieferte sich freiwillig Smudge aus, der mittlerweile nicht mehr an der Leine war und sofort über sie herfiel. Sie ging sogar so weit, sich auf den Rücken fallen zu lassen, damit Smudge auf ihre Brust klettern konnte.
»Oh, du bist so ein lieber Kerl, nicht wahr? Ja, das bist du. Und so niedlich.« Sie machte eine kurze Pause und schaute zu Robin und Dair auf. »Und wer ist dieser Berg von einem Mann, den du da mitgebracht hast?«
»Kes!«, schnappte ihre Mom sie an.
Robin stieß sie mit dem Fuß an ihrem spindeldürren Arm an. »Sei brav«, knurrte er. Dair hätte nicht gedacht, dass Robin knurren konnte. »Das ist Dair.«
Dair wartete einen Moment ab, dann winkte er ihr zu. Wenn Robin nicht der Erste sein wollte, der ihre Notlüge erzählte, dann musste Dair es eben für ihn übernehmen. »Ich bin Robins Freund. Freut mich, dich kennenzulernen.«
Kestrel schnaubte und rieb sich mit der Nase an Smudges Schnauze. »Ich muss dir hoffentlich nicht erst sagen, dass du ihn gut behandeln sollst, weil ich dich sonst in den See werfe, aber… Sei gut zu ihm oder ich werfe dich in den See. Verstanden?«
Kestrel wog vermutlich ein Drittel von Dair und ihre dünnen Beine steckten in ihren Shorts wie die Beine einer Giraffe. Eine steife Brise würde wahrscheinlich ausreichen, um sie umzublasen. Doch der Blick, mit dem sie Dair bedachte, hätte die Hölle gefrieren lassen. Sie war genau die kleine Schwester, die Dair sich gewünscht hätte, wäre ihm dieses Glück jemals vergönnt gewesen.
»Verstanden«, erwiderte er grinsend.
»Oh, um Gottes willen, Kes. Hör mit der Angeberei auf.« Mrs. Coal kontrollierte den Herd, von dem sich der köstliche Geruch nach gebratenem Hähnchen im Raum verbreitete.
»Kestrel«, korrigierte Robins Schwester wieder, ohne ihren neuen besten Freund aus den Augen zu lassen, der ihr jetzt übers Ohr leckte.
»Entschuldige«, sagte ihre Mom geduldig. »Kestrel. Bitte richte deinem Vater aus, er soll mit der Arbeit aufhören und sich waschen. Das Essen ist bald fertig und die anderen kommen auch demnächst.«
Kestrel seufzte theatralisch und setzte Smudge widerstrebend auf dem Boden ab. Bevor sie sich auf den Weg zu ihrem und Robins Vater machte – wo immer der auch sein mochte –, drehte sie sich noch einmal zu Robin um und legte ihm die Arme um den Hals.
»Ich bin froh, dass du nicht ganz vergessen hast, wo wir wohnen.« Sie küsste ihn auf die Wange und schlüpfte aus dem Zimmer.
Dair schaute Robin an, der sich in diesem Moment ebenfalls zu ihm umdrehte und ihm in die Augen sah. Dair drückte seinem Freund die Hand. Es war schon merkwürdig, wie schnell diese kleine Geste zur Gewohnheit geworden war.
Er sah Robin mit einem Blick an, von dem er hoffte, dass er seine Gefühle zeigen würde. Ihre Sorgen waren unbegründet geblieben. Jedenfalls bis jetzt.
Robins Familie freute sich, ihn und Dair hier begrüßen zu können. Sie hatten sogar dafür gesorgt, dass Dair sich sofort wie zu Hause fühlte. Es gab zwar noch einige Familienmitglieder, die Dair noch nicht kennengelernt hatte, aber er hatte ein gutes Gefühl bei der Sache.
Robin lächelte ihm zaghaft zu und seufzte erleichtert. Dair hatte immer noch den Verdacht, dass Robin etwas zurückhielt, aber besser als Robins Heimkehr bisher verlaufen war, hätte er es sich nicht wünschen können.
Jetzt mussten sie nur noch den Rest der Woche überstehen, dann war alles gut.
Kapitel 6
Robin
»Ich dachte, wir hätten heute Abend schon eine Veranstaltung?«, begrüßte Robin seinen Zwillingsbruder, der durch die Haustür kam.
Jay grinste. Er war Robins direkte Art gewöhnt. Robin versuchte, sich vor anderen Menschen zusammenzureißen, aber warum sollte er sich bei Jay diese Mühe machen? Sie kannten sich schließlich in- und auswendig.
»Ich habe dich auch vermisst, Bruderherz.« Jay zog ihn in die Arme und drückte ihn so fest an sich, dass er ihn einige Zentimeter vom Boden hochhob. Sie waren beide schlank gebaut, aber