109th. Jessica Oheim
drehte sich um, und während Sophie ihre Taschen neben ihrem Schreibtisch abstellte, antwortete er: „Ach, ich dachte, ich fange heute schon ein bisschen früher an.“
Sophie hakte nicht weiter nach, obwohl sie merkte, dass das nur die halbe Wahrheit war. Doch sie konnte sich keinen anderen Grund vorstellen, weswegen Sam, der ein totaler Morgenmuffel war und so gut wie jeden Tag zu spät kam, so früh da war.
Sie stellte sich neben ihn und gemeinsam betrachteten sie die Pinnwand. „Und hast du schon neue Erkenntnisse?“, fragte sie ihn.
Sam schüttelte den Kopf. „Nein. Leider nicht. Sagt uns die Forensik eigentlich Bescheid oder müssen wir runtergehen und nachfragen?“
Sophie lachte. „Nach der Nummer gestern werden sie wahrscheinlich anrufen.“
Leicht betreten senkte Sam den Kopf. „Und die Techniker?“
„Die haben mich auf dem Weg hierher schon angerufen. Sie haben wohl eine Nachtschicht eingelegt“, antwortete Sophie.
„Und haben sie etwas gefunden?“, fragte Sam hoffnungsvoll.
„Nein, nichts Ungewöhnliches. Ein paar Chats, ein paar SMS, keine ungewöhnlichen Anrufe oder Nachrichten.“ Sophie drehte sich zu ihrem Schreibtisch um, auf dem ihr Telefon klingelte, und ging ran.
Sam sah derweil zum Aufzug, aus dem Lena und Anna gerade heraustraten. Die beiden sahen noch ziemlich müde aus, aber nach der gestrigen Nacht war das auch kein Wunder.
„Guten Morgen, Anna-Lena“, meinte Sam schmunzelnd. Manchmal, wenn er die Kolleginnen ansprach, sagte er einfach Anna-Lena, um ihre Namen zu verbinden.
„Träume ich noch?“, fragte Anna.
„Sam ist vor uns da? Das kann nur ein Traum sein“, entgegnete Lena, doch die beiden Frauen hatten ein Grinsen auf dem Gesicht.
„Ja, ja, macht euch nur lustig über mich“, meinte Sam und drehte sich zu Sophie um, die immer noch mit ernster Miene telefonierte.
„Haben wir schon Neuigkeiten?“, fragte Anna und gesellte sich mit Lena zu Sam.
Dieser nickte. „Die Techniker haben eine Nachtschicht eingelegt und den Computer sowie das Handy durchleuchtet. Sie konnten allerdings keine ungewöhnlichen SMS oder Anrufe finden.“
Anna tippte diese Neuigkeiten in ihren Computer ein und Lena fügte hinzu: „Ach ja, die Spurensicherung hat in Nancys Zimmer überall Fingerabdrücke gefunden, die definitiv von unserem Opfer stammen. Sie war also ein ziemlich ordentliches Mädchen, denn der Täter war wohl nicht in diesem Zimmer.“
Anna nickte, tippte auch diese Informationen ab und druckte sie aus.
„Das ist aber auch immer eine Plackerei mit dem Ausdrucken“, kommentierte Sam. „Wir brauchen endlich mal richtige Tafeln, auf die man schreiben kann. Dieses Problem haben wir schon seit fast zwei Jahren und bisher hat niemand daran etwas geändert.“
„Vielleicht ändert Sophie ja etwas daran, immerhin ist sie jetzt stellvertretende Revierleiterin“, meinte Lena und heftete den Ausdruck an die Pinnwand. Aber bevor die drei ihre Diskussion weiterführen konnten, kam Sophie mit schnellen Schritten zu ihnen und sagte: „Zieht eure Jacken an. Es wurde ein weiteres Opfer gefunden.“
„Die gleiche Aufgabenverteilung wie letztes Mal“, bestimmte Sophie, als sie am Tatort eintrafen.
Sofort trennte sich das Team und Sophie duckte sich unter dem gelben Absperrband durch, das die Schaulustigen zurückhalten sollte.
„Jim, was haben wir hier?“, fragte sie den Gerichtsmediziner und kniete sich zu ihm.
„Der Tote ist ein Junge, etwa 14 Jahre alt. Kein Ausweis oder sonstige Papiere.“
„Ist die Todesursache das, wonach es aussieht?“, fragte Sophie.
Jim nickte. „Ja, Blutverlust durch die zahlreichen Schnittwunden.“
„Die gleiche Vorgehensweise wie das letzte Mal?“ Der Arzt griff neben sich und gab Sophie ein Tütchen, in dem sich zwei Münzen befanden. „Ich nehme an, die lagen auf den Augen des Opfers?“
„Genau. Und dieser Junge ist seit gestern Abend tot. Der Todeszeitpunkt liegt zwischen 19 und 23 Uhr. Weiter eingrenzen kann ich es erst, wenn ich ihn obduziert habe.“
„Danke, Jim.“ Sophie stand auf und ging zu Lena, die sich gerade mit Stan unterhielt. „Ich unterbreche euch beide ja nicht gerne, aber was hat die Spurensicherung am Tatort gefunden?“
Lena verabschiedete sich von ihrem Freund und erwiderte dann ihrer Vorgesetzten: „Nichts. Absolut nichts.“
„Also genau wie beim letzten Mord“, bekräftigte Sophie ihre Vermutung.
„Das gleiche Vorgehen?“, fragte Lena entsetzt.
Die andere Frau nickte. „Gefoltert, übersät mit Schnittwunden und Münzen auf den Augen.“
Sam stieß zu ihnen und berichtete: „Zeugen gibt es keine, aber ich habe die Frau befragt, die ihn gefunden hat. Sie sagte, als sie die Straße mit ihrem Hund entlanglief, hat er einfach nur dagelegen. Da es noch dunkel gewesen ist, hat sie ihn zuerst für einen Penner gehalten, doch als sie an ihm vorbeiging, bemerkte sie den Geruch und sah das Blut. Sie hat uns sofort alarmiert.“
Auch Anna kam nun herbei und hatte einiges zu erzählen. „Es sieht so aus, als hätten wir dieses Mal Glück mit den Überwachungskameras. Auf der anderen Straßenseite ist ein Geldautomat, der mit einer Kamera ausgestattet ist. Sie ist direkt auf diese Parkbank gerichtet.“
„In Ordnung. Das sind gute Neuigkeiten. Geh doch bitte zu den Polizisten am Absperrband und sag ihnen, dass sie die Leute und vor allem die Presse zurückhalten müssen. Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist Sendezeit in den Lokalnachrichten.“
„Der gleiche Täter?“, fragte Anna.
„Ja. Jetzt haben wir es offensichtlich mit einem Serienkiller zu tun.“
„Konntet ihr den Toten schon identifizieren?“, fragte Sophie, nachdem sie zum Revier zurückgekehrt waren.
Lena, die gerade ein Bild aus dem Drucker nahm, nickte und antwortete: „Ja. Da wir davon ausgehen konnten, dass auch er vermisst wird, war es ein Kinderspiel. Der Junge heißt Ryan Togo. Er wird seit gestern vermisst. Der Täter wird anscheinend schneller.“
„Hast du eine Verbindung zu Nancy Tanner gefunden?“, wollte Sophie wissen.
„Leider nein.“
„Doch!“, rief Anna dazwischen und kam zu ihnen, einen Zettel mit ihrer rechten Hand hochhaltend.
„Na, dann lass mal hören“, kommentierte Sophie und sah ihre Kollegin gespannt an.
„Nancy Tanners Vater ist Cop. Genau wie Ryan Togos Mutter.“ Anna heftete den Zettel an die Pinnwand, auf dem in großen Lettern die Informationen über Ryan Togos Familie standen. „Sein Vater, Garry Togo, ist Maler und Lackierer und seine Mutter, Catherine Togo, ist ein Cop.“
„Dann überprüf bitte, ob Richard Tanner und Catherine Togo vielleicht mal eine Zeit lang auf dem gleichen Revier gearbeitet haben oder in einer Einheit oder einem Team waren. Vielleicht hat der Killer einen Hass gegen die Cops eines bestimmten Teams.“ Wie nah sie der Wahrheit mit dieser Theorie gekommen war, konnte Sophie zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.
„Ich habe eine Idee“, meinte Sam plötzlich. „Wenn es sich tatsächlich um einen Serienkiller handelt, dann sollte er ein Motiv haben. Ich werde mal Lea Anderson anrufen. Vielleicht kann sie uns beim Täterprofil weiterhelfen.“
Lea Anderson war eine Psychologin, die dem 109. Revier schon bei mehreren Mordfällen hatte weiterhelfen können.
„Das ist eine gute Idee. Triff dich am besten mit ihr und nimm ein paar der Tatortfotos