109th. Jessica Oheim
ja!“, riefen Lena und Anna wie aus einem Mund.
***
„Aber nur, wenn du zahlst“, lachte ich. Überrascht drehten sich die anderen zu mir um. Ich war gerade aus meinem Büro gekommen und hatte die letzten Sätze aufgeschnappt.
„Ich dachte, du wolltest die Nacht durcharbeiten?“, fragte Sophie mit hochgezogener Augenbraue.
Ich seufzte. „Nötig wäre es, aber wenn ich heute nur noch eine Akte sehe, dann laufe ich Amok. Und ich wollte Jim nicht noch mehr Arbeit zumuten.“
„Das geht schon in Ordnung, Kleine“, erwiderte meine Schwester lachend.
„Begleitest du uns?“, fragte ich und sah sie an.
Doch Sophie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich muss Papierkram nachholen.“ Das war zwar nicht gelogen, aber diese Arbeit hätte auch noch bis zum nächsten Tag warten können. Meine Schwester brauchte offensichtlich ein wenig Zeit für sich, um nachzudenken.
„Na gut, dann bis morgen“, verabschiedeten wir uns von ihr und stiegen in den Aufzug.
Während wir nach unten fuhren, fragte ich: „In welche Bar gehen wir denn?“
„In die beste Cop-Bar diesseits von Manhattan“, lachte Sam und sah mich mit seinen wunderschönen blauen Augen an. Ich verlor mich regelrecht darin und konnte meinen Blick erst wieder von ihm abwenden, als der Fahrstuhl im Erdgeschoss hielt und wir aussteigen mussten. Fast schon beschämt starrte ich zu Boden und sprach während der ganzen Fahrt zur Bar kein einziges Wort mehr.
***
„Hey Jim. Ich bin es, Sophie. Ich wollte mich nur mal nach deinem allabendlichen Bericht erkundigen.“ Es war zwischen Jim und Sophie zu einer Art Ritual geworden, jeden Abend, wenn sie einen Fall aufzuklären hatten, zu telefonieren und die neusten Entwicklungen auszutauschen.
„Ja, natürlich. Aber vorher etwas anderes: Könnt ihr Cops nicht mal anrufen, bevor ihr in die Gerichtsmedizin kommt? Sam und Anna haben mich vorhin fast zu Tode erschreckt!“, meinte der Arzt.
„Das tut mir leid. Ich werde sie gleich morgen früh darauf hinweisen“, erwiderte Sophie mit einem Lächeln auf den Lippen, das Jim zum Glück nicht sehen konnte.
Die anderen Detectives nahmen ihn für nicht ganz voll, aber Sophies Respekt hatte er sich verdient, indem er bei einem Fall, der eigentlich sonnenklar schien, trotzdem die Autopsie durchgeführt und neue Erkenntnisse ans Tageslicht gebracht hatte. Seitdem vertraute die Teamleiterin ihm blind und verließ sich auf jeden Bericht, den der junge Gerichtsmediziner verfasste.
„Also, dann lass mal hören“, meinte Sophie und nahm einen Stift zur Hand, um die Ergebnisse aufzuschreiben.
„Wie dir Sam und Anna sicherlich schon berichtet haben, war das Opfer an Händen und Füßen an einen Stuhl oder etwas Ähnliches gefesselt. Außerdem hat der Täter sie geknebelt und das nicht gerade zärtlich.“
„Kann man jemanden denn überhaupt zärtlich knebeln?“ Sophie konnte sich diesen Kommentar gerade noch verkneifen, denn sie wusste, wie wütend Jim werden konnte, wenn sie sich über seine Redewendungen lustig machte. Stattdessen notierte sie sich, was Jim ihr gesagt hatte.
Dieser sprach weiter: „Außerdem habe ich, wie du sicher auch schon weißt, Fasern in einer der Wunden des Opfers gefunden, die ...“
„... vermutlich von dem Seil stammen, mit dem das Opfer gefesselt war. Hast du auch etwas, das ich noch nicht weiß?“, unterbrach Sophie ihn ungeduldig.
„Ähm ... ja, also Nancy war kerngesund und ihre Organe waren vollkommen in Ordnung. Ich habe allerdings in ihrem Magen etwas Interessantes gefunden. Na ja, interessant ist eigentlich eher das, was ich nicht in ihrem Magen gefunden habe.“
„Jetzt spann mich nicht so auf die Folter, Jim“, meinte Sophie und verdrehte die Augen. Jim war dafür bekannt, dass er gerne um den heißen Brei herumredete.
„Ich habe keinerlei Flüssigkeiten oder Essen gefunden. Sie hat wohl vor ihrem Tod etwa seit zwei bis drei Tagen nichts mehr gegessen.“
„Also, seit dem Zeitpunkt, als sie entführt worden ist“, erwiderte Sophie und notierte sich auch diese Tatsache. „Konntest du etwas über das Messer herausfinden, mit dem ihr die vielen Schnittverletzungen zugefügt worden sind?“, fragte sie weiter.
„Dazu komme ich jetzt“, meinte Jim. „Das Messer, so viel konnte ich anhand der Schnittwunden herausfinden, ist auf beiden Seiten geschärft wie ein Dolch. Außerdem ist es äußerst spitz und ziemlich stabil. Ich würde sagen, es handelt sich um eine Art Taschen- oder Springmesser. Möglicherweise eine Sonderanfertigung, aber weiter kann ich das leider nicht eingrenzen. Wenn ihr mir das Messer allerdings bringt, kann ich euch sagen, ob es die Mordwaffe ist.“
„Und wie sieht es mit DNA-Spuren oder Fingerabdrücken des Täters aus?“ Sophie ahnte zwar, dass der Mörder zu vorsichtig gewesen war, um solche Spuren zu hinterlassen, aber sie wollte nichts übersehen.
„Leider habe ich keine gefunden. Der Täter hat vermutlich Handschuhe getragen.“
Auch das notierte Sophie auf dem Zettel und verabschiedete sich dann. „Danke für deinen Bericht, Jim. Wenn du morgen etwas Neues herausfinden solltest, du hast ja meine Telefonnummer.“
„Natürlich. Und, Sophie, tu mir einen Gefallen, bleib nicht wieder die ganze Nacht im Büro. Auch du brauchst Schlaf“, erwiderte der Arzt.
„Ich bin schon so gut wie auf dem Heimweg“, lachte die Polizistin, doch das Lachen erreichte ihre Augen nicht. „Also, bis morgen“, verabschiedete sie sich und legte auf.
Sie tippte die Informationen, die sie von Jim erhalten hatte, in ihren Computer ein und druckte das Dokument aus. Anschließend hängte sie es an die Pinnwand. An ihren Schreibtisch gelehnt betrachtete Sophie die Tafel. Viele Informationen hatten sie noch nicht zusammengetragen, aber das würde schon noch werden.
Sie merkte, wie sie müde wurde, und nahm ihre Jacke von dem Stuhl. Jim hatte recht. Sie musste sich mal ausschlafen, um am nächsten Tag mit neuer Energie weiterarbeiten zu können. Sophie schaltete die Schreibtischlampe aus und ging zum Fahrstuhl. Sie drückte auf den Knopf und wartete darauf, dass sich die Türen öffneten. Als der Fahrstuhl in ihrem Geschoss ankam, stieg sie ein.
Noch einmal drehte sich Sophie um und blickte in das dunkle Büro. Wie so oft verließ sie es als Letzte. Das war schon immer so gewesen und würde sich vermutlich so schnell auch nicht ändern. Alle anderen konnten es gar nicht erwarten, dass sie endlich Feierabend hatten, um auszuspannen oder zu ihren Familien zu kommen. Doch Sophie konnte sich nicht erholen. Sie konnte schlafen, wenn sie müde war, aber entspannen konnte sie sich nur bei der Arbeit. Und bis auf ihre Schwester Jenny hatte sie auch keine Familie mehr. In ihrem Zuhause wartete niemand auf sie.
Da schlossen sich die Fahrstuhltüren und der Aufzug setzte sich in Bewegung.
*
Kapitel 3
Ich schloss die Haustür auf und betrat meine Wohnung. Meine Tasche ließ ich achtlos zu Boden fallen und schubste die Tür mit meinem Fuß zu. Nachdem ich den Mantel an die Garderobe gehängt hatte, begab ich mich ins Wohnzimmer.
Es war ein wirklich schöner Abend gewesen. Wir waren in diese Cop-Kneipe gefahren und hatten uns dort an die Bar gesetzt. Anfangs hatte ich mich ziemlich unwohl gefühlt, weil um mich herum offensichtlich nur Polizisten saßen, doch diese Unsicherheit verschwand ziemlich schnell. Wir bestellten uns alle ein Bier und schon nach kurzer Zeit herrschte eine ziemlich gelöste Stimmung. Wir waren nicht betrunken, immerhin mussten wir alle noch nach Hause fahren, aber trotzdem wurden unsere Gespräche immer munterer.
Es war fast schon so, als würde ich seit Jahren zu dieser Gruppe dazugehören. Vielleicht lag es daran, dass meine Schwester dieses Team leitete, aber ich wurde mit offenen Armen aufgenommen und niemand