Der Grüne Planet. Erik Simon

Der Grüne Planet - Erik Simon


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auf die Konstruktion eines riesigen Transportmoduls hin. Mit diesem sollen keine Sprengköpfe, sondern Passagiere befördert werden: Wir erwarten keinen Angriff. Wir erwarten Flüchtlinge

      Der letzte Satz verhallte in absoluter Stille. Es dauerte mehrere Sekunden, bis sich das Gremium über dessen inhaltliche Tragweite klar wurde. Dann redeten alle wie auf ein Kommando wild durcheinander, und selbst Elly gelang es nicht, die Ruhe wiederherzustellen. Sie setzte eine zehnminütige Sitzungspause an, damit sich die erhitzten Gemüter abkühlen konnten. Nicht einmal Maximilian hatte mit einer derartigen Nachricht gerechnet. Beim Beobachten der sich nun bildenden Diskussionsgruppen schweiften seine Gedanken in die 2070er-Jahre ab.

      Die nie besonders guten Beziehungen zwischen der Stationsleitung und den Erdregierungen, insbesondere dem Vereinigten Westblock, hatten damals einen Tiefpunkt erreicht. Analog zu den Ereignissen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf dem amerikanischen Kontinent zur Boston Tea Party führten, war die Bevormundung der Mondbevölkerung stetig gewachsen. Im Dezember 2074 wählte sie schließlich den Lenkungsrat als eigenständige Bürgervertretung, der nur wenige Wochen später durch Jennifer Anne Clarkson – der ersten Mondpräsidentin – die Unabhängigkeit von Lunaria erklärte. Maximilian erinnerte sich, dass daraufhin sowohl der Shuttle-Verkehr als auch die Kommunikation seitens der Erde eingestellt worden waren. Auf dem Erdtrabanten reagierte man mit Galgenhumor: In den ersten Tagen der Isolation lief im The Dark Side, dem einzigen Pub in Lunaria, der Popmusik-Klassiker Clouds Across the Moon in Dauerschleife.

      Am 16. Dezember 2076 fand der Humor mit dem Start einer Raumkapsel allerdings ein jähes Ende. Die an Bord befindliche dreißigköpfige Spezialeinheit hatte den Auftrag, die Große Halle zu besetzen und die Mondregierung in Gewahrsam zu nehmen. Kurz vor deren Eintreffen auf Lunaria gelang es jedoch, die Kapsel mit einer an ein überdimensionales Schmetterlingsnetz erinnernden Abfangvorrichtung für Raumschrott festzusetzen. Schließlich konnten die eingeschlossenen Soldaten ohne den Einsatz von Gewalt zur Aufgabe bewegt werden. Der gescheiterte Invasionsversuch brachte die Vertreter der Erdregierungen zum Toben – danach schwiegen sie.

      Zwei Jahre später, am 1. September 2078, beendete ein bis zur letzten Sekunde geheim gehaltener Raketenstart vom Raumfahrzentrum Guyana aus die trügerische Stille. Der auf den Mond zusteuernde Flugkörper transportierte dieses Mal keine Spezialeinheit. Er war mit Tisiphone bestückt, einer Nuklearwaffe, deren Sprengkraft über 500 Megatonnen TNT entsprach. Lediglich ein Defekt in der Zündvorrichtung verhinderte, dass Lunaria im atomaren Höllenfeuer verglühte. Dieses Ereignis brannte sich buchstäblich in das kollektive Bewusstsein der Mondbevölkerung ein.

      Lunaria sagte sich daraufhin in einer letzten Übertragung nicht nur von seinen planetaren Wurzeln, sondern auch unwiderruflich von der gesamten Menschheit los. Zeitgleich wurde mit dem Aufbau eines Überwachungs- und Abwehrschirms begonnen, zu welchem ab 2080 auch die Orbitalstation Janus gehörte.

       Samstag, 22. September 2136, 20:33 Uhr (MSZ): Lunaria – Kleines Besprechungszimmer des Präsidenten

      Unser Präsident sieht um Jahre gealtert aus, dachte Maximilian und verkniff sich beim Gedanken an sein eigenes Alter ein Lächeln. Zusammen mit Edward King und Amado Lopez saß er im Kleinen Besprechungszimmer, dessen Einrichtung einer Hausbibliothek nachempfunden war. Um den im klassischen Erddesign gehaltenen Salontisch herum waren vier wuchtige Ledersessel platziert, die wiederum von mit Büchern vollgestellten Wandregalen gesäumt wurden. Während der Hellphasen fiel Sonnenlicht direkt von oben in den Raum hinab. Das Licht durchdrang die im Stil der typischen Mond-Architektur gehaltene, aus halbtransparentem Milchglas bestehende Deckenkonstruktion. In der jetzt herrschenden Dunkelphase wurden die Milchglasbausteine künstlich erhellt, wobei der Unterschied kaum festzustellen war. Auch die hierfür notwendige Energie speiste sich aus mehreren Solarparks sowie einem von Mondingenieuren entwickelten Fusionsreaktor.

      »Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, Max«, eröffnete Edward das Gespräch, während sein Assistent jedem eine Tasse Kaffee aus der bereitstehenden Kanne einschenkte. »Wir haben neue Daten von Janus erhalten: Es ist jederzeit mit dem ersten Start eines Transportmoduls zu rechnen. Die abermals gesteigerte Betriebsamkeit um das Raumfahrtzentrum herum legt nahe, dass in den kommenden Wochen drei oder vier weitere Module zu uns auf den Weg gebracht werden sollen. Unsere Ingenieure schätzen, dass jedes Modul etwa 2000 bis 2500 Menschen fassen kann.«

      Er hielt kurz inne, tastete vorsichtig nach seiner Tasse und nahm einen großen Schluck, bevor er weitersprach.

      »Die Mitglieder des Lenkungsrats sind gespalten: Der eine Teil fordert die Aufnahme der Erdflüchtlinge, was unter humanitären Gesichtspunkten völlig einleuchtend ist. Der andere Teil plädiert hingegen für deren Zurückweisung, eine wiederum rationale Haltung.«

      Er seufzte.

      »Allerdings kann mir weder die eine Seite erklären, wie wir von heute auf morgen mehrere tausend Menschen in unseren beiden Städten aufnehmen und versorgen können, noch besitzt die Gegenseite eine Vorstellung davon, wie es mit den anderenfalls Zurückgewiesenen weitergehen soll. Die Transportmodule sind nicht für einen Rückflug konstruiert; das Überleben an Bord ist für eine längere Zeit unmöglich. Und mit längere Zeit meine ich maximal zwei oder drei Tage. Die Erde stellt uns vor vollendete Tatsachen: ein moralisches Dilemma!«

      Er ließ sich langsam in den Sessel sinken, legte den Kopf in den Nacken und richtete seine leeren Augen zur Decke.

      »Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, wie ich mit der Situation umgehen soll. Max, hätten Sie einen Rat für mich?«

      Maximilian atmete tief durch und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Besucher bemerkten anfänglich nicht, dass es sich bei den Bücherregalen um Hologramme handelte. Erst der erfolglose Griff nach einem der Werke offenbarte die Wahrheit. Lediglich das rückwärtige Regal und dessen Bestände waren echt. Es muss damals ein Vermögen gekostet haben, die Bücher mitsamt dem Mobiliar auf den Mond zu befördern. Maximilian erinnerte sich daran, dass er bei seiner Auswanderung nur eine kleine Reisetasche mitführen durfte. Auch sein hiesiger physischer Besitz war, wie der jedes Mondbewohners, überschaubar. Im Lichte der Ressourcenschonung stellte dies eine unabdingbare Notwendigkeit dar. Er fixierte einen schmucklosen Band in der obersten Regalreihe. Es handelte sich um die Gesammelten Werke von Machiavelli. Sie hatten sein Verständnis von Politik und Gesellschaft sowie seine Denkweise bereits in jungen Jahren tief geprägt.

      »Mein Rat wird Ihnen nicht gefallen, Edward«, begann der Gefragte mit leiser Stimme. »Es wird ein bitterer Rat sein.«

      Er hielt kurz inne.

      »Haben ich Ihnen eigentlich von der alten Erde erzählt? Ich meine in der Zeit, als ich noch auf ihr lebte?«

      Edward schmunzelte, und selbst bei dem ansonsten zu kaum einer sichtbaren Gefühlsregung neigenden Amado hoben sich die Mundwinkel. Die beiden kennen mich, dachte Maximilian. Sie wissen, dass ich meinen Ratschlägen gerne eine Erzählung voranstellte.

      »Nein, bis jetzt noch nicht«, antwortete Edward. »Amado und ich würden uns sehr darüber freuen.«

      Bereitwillig kam Maximilian der Aufforderung nach.

      »Die Zustände auf der Erde sind schon zu meiner Zeit alles andere als lebenswert gewesen. Sowohl politisch als auch ökonomisch, aber vor allem ökologisch geriet das Leben auf dem gesamten Planeten in eine massive Schieflage. Die Regierungen, soweit diese überhaupt noch demokratischen Regeln folgten, schränkten zunehmend die Rechte ihrer Bürgerinnen und Bürger ein. Außenpolitisch nahm die Abgrenzung der Staaten zu. Der Freihandel hatte sein Ende gefunden und die noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts bekundete Absicht, sich weltumspannend für Umweltschutz sowie den Erhalt der biologischen Artenvielfalt einzusetzen – das Schlagwort ›Klimawandel‹ war in den zeitgenössischen Quellen allgegenwärtig –, musste als Makulatur angesehen werden. Ich hatte viel zu diesem Thema geforscht. Das gesellschaftliche Interesse war damals überwältigend: Politische Strömungen, Organisationen und sogar neue Wissenschaftszweige beschäftigten sich über Jahre hinweg mit diesem Phänomen. Doch anstatt im Bewusstsein für einen lebenswerten Planeten zu einen, spalteten und polarisierten sie: Klimaaktivisten und Klimaleugner beschimpften sich gegenseitig.


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