Der Grüne Planet. Erik Simon

Der Grüne Planet - Erik Simon


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des 20. Jahrhunderts handelte …

      Das Piepen der Kontrollinstrumente im Raum erinnerte ihn an die Elektrokardiogramme der Krankenstation. In ihm formte sich die Vorstellung einer dahinsiechenden Erde, deren imaginärer Pulsschlag zunehmend langsamer und schwächer wurde. Würde der Patient überleben? Er dachte an bewaffnete Konflikte, an Hunger und Vertreibung. Er dachte an die zunehmende Luft- und Wasserverschmutzung, die Reaktorunfälle und die Auswirkungen der globalen Klimaveränderung. Und er dachte an das ungebremste Bevölkerungswachstum. Wie kein anderes Problem machte es die wohl unvereinbare Distanz zwischen Mond- und Erdendenken deutlich: Hier waren Geburtenkontrollen selbst für religiöse Mitglieder der Gesellschaft kein Tabu.

      Als Präsident musste er der Verantwortung gerecht werden und diese MikroGesellschaft von knapp 200.000 Individuen schützen. Zum ersten Mal empfand er seine Blindheit als Segen: Er würde das von Laserstrahlen durchtrennte Transportschiff und die durchs All schwebenden Leichen nicht sehen müssen. Ebenso wie Justitia sollte ihm die Konsequenz seiner Entscheidung verborgen bleiben.

      Er hatte eine kurze Erklärung vorbereitet. Zum Beginn der kommenden Hellphase würde er sie verlesen, vom Präsidentenamt zurücktreten und sich der Justiz stellen. Sein eigenes Schicksal war unbedeutend. Zusammen mit Maximilian teilte er die Hoffnung, dass sein Handeln langfristig dem Überleben der Menschheit diente. Zwar war der Zeitpunkt, die Erde als dauerhafte Lebensgrundlage zu erhalten, wahrscheinlich seit mehr als hundert Jahren überschritten. Vielleicht würde in ein paar Jahrtausenden – falls sich das planetare Ökosystem nach dem Verschwinden des Menschen regenerieren sollte – der Mond die Keimzelle für neues irdisches Leben sein. Der Homo sapiens lunaris könnte dann auf den Trümmern der alten Zivilisation das Fundament einer tatsächlich humanen Gesellschaftsordnung legen.

      »Zielerfassung erfolgt, Sir. Feuerbereitschaft ist hergestellt«, meldete der diensthabende Offizier und riss Edward aus seinen Gedanken.

      Der Laser musste händisch aktiviert werden. Vorsichtig tastete Edward nach dem Auslöser. Als er ihn berührte, zog er seine Hand ungewollt zurück, so als hätte er sich an einem heißen Kochfeld verbrannt. Er hielt kurz inne und bemerkte, dass er am ganzen Körper zitterte.

      DER KLANG SICH LICHTENDEN NEBELS

      von Christian Endres

      Er ist wie immer alleine unterwegs, und wie immer ist es ein Kampf – ein uralter Kampf in einer neuen Welt.

      Es fängt schon damit an, sich in den nebeligen Morgenstunden überhaupt zum Aufbrechen zu überwinden und wirklich den ersten Schritt zu tun, und den nächsten, und den übernächsten, und immer so weiter. Seine Zuflucht zu verlassen, sich von seinem gut verborgenen Quartier und der Quelle sauberen Wassers dahinter zu entfernen und beide unbewacht zurückzulassen.

      Doch manche Dinge muss man einfach tun.

      Manche Dinge sind wichtig.

      Jetzt wichtiger denn je.

      So wichtig, dass er zumindest für eine Weile sehenden Auges relative Sicherheit gegen sichere Gefahr einzutauschen bereit ist.

      Als er sich durch das brusthohe Meer aus dichtem, feuchtem Gras schiebt, das ihm die Luft zum Atmen raubt und eisig über sein Gesicht streicht, denkt er darüber nach, dass man in diesen Zeiten sein Leben genauso leicht verlieren kann wie seine Menschlichkeit, und besser gut auf beides achtet.

      Nachdem er sich über eine Stunde im Antlitz der träge emporsteigenden Sonne durch das Grasmeer geackert hat, das zwischendurch sein gesamtes Sichtfeld einnimmt, tritt er neben einem verrosteten Traktor durch eine letzte Welle hoher Halme, auf deren anderer Seite er kurz verschnauft.

      Dann setzt er seine schweißtreibende Wanderung fort.

      Die Landschaft wandelt sich, jedoch nicht die Anstrengung, die sie ihm abverlangt. Erst geht es über stufig abfallendes Gelände, dessen Boden nur aus unebenem Schiefer und tückischem Geröll besteht, die ihn trotz seiner festen, vielfach reparierten Stiefel um seine Knöchel fürchten lassen, weshalb er die schartige rote Feuerwehraxt wie einen Wanderstock benutzt.

      Der Weg nach unten ist irgendwann von immer mehr Kiefern gesäumt, und am Ende führt er in einen wahren Urwald, der mit tausend Fingern nach seiner Wollmütze grapscht, an seinem Rucksack zerrt und ihn im Gesicht kratzt. Jeder Schritt ist ein weiterer kleiner Kampf für sich, gegen den Drang umzukehren genauso wie gegen die überwältigende Natur, die trotz der unverändert trockenen Sommer und zerstörerischen Unwetter zu alter Stärke zurückgefunden hat und die sich nicht noch einmal bezwingen lassen möchte.

      Zielstrebig bahnt er sich einen Pfad durch den pfadlosen Wald. Er umgeht steile Hänge, klettert über umgestürzte Bäume und gigantische Wurzeln und passt in Senken erneut gut auf seine Füße auf. Mehr als einmal hackt er sich mit der Axt den Weg durch störrisch verschränkte Äste und verwachsene Zweige frei. Die unauffälligen Markierungen, die er beim letzten Mal in Rinde und Holz schlug, sind schon wieder hinter Sträuchern und Schösslingen verschwunden, und er muss sich einen neuen Weg suchen.

      Der Wald verschluckt die Wärme, das Licht und die Geräusche des jungen Tages und erschafft eine eigene Sphäre aus Kühle, Schatten, Geraschel, Vogelgezwitscher, Geflüster, Summen und Geknarze. Die Präsenz und die Dominanz des Waldes sind förmlich greifbar und bohren sich bei jedem Schritt und jedem Hieb wie der Blick einer fremdartigen Entität in seinen Hinterkopf. Angst hat er dennoch keine – nicht einmal ein mulmiges Gefühl, wenn sich der von ihm geschaffene Tunnel durch den Forst direkt hinter ihm sofort wieder zu schließen scheint. Aber der Vormittag ist nicht die Zeit der gefährlichen Räuber, und zur Not versteht er es, die Axt als Waffe einzusetzen und sich so teuer zu verkaufen, dass er irgendwann nicht mehr attraktiv genug ist als Beute, wie die Erfahrung gezeigt hat.

      Über Erfahrung sprechen zu können, bedeutet nicht zuletzt, in dieser rauen Welt Sommer um Sommer und Winter um Winter überlebt zu haben. Älter zu werden in einer jungen Welt, die schon immer alt gewesen ist. Tatsächlich muss er sich eingestehen, vor ein paar Jahren noch nicht so ins Schwitzen und Keuchen gekommen zu sein auf seinem Weg, der nie derselbe ist, aber immer in dieselbe Richtung führt und immer dasselbe Ziel hat.

      Als die Sonne hoch über dem Wald steht, tritt er aus dessen einschüchterndem Schatten und blickt auf die breite Schlucht, die hier wie eine offene Wunde in der Erde klafft. Nicht nur im Boden, sondern im Planeten selbst, jedenfalls fühlt es sich so an. Früher hätte man eine mächtige, lange Brücke über sie gebaut. Als er das erste Mal auf die Schlucht gestoßen ist, folgte er ihr in beide Richtungen einen halben Tag lang, ohne hier oder dort auch nur das Ende in weiter Ferne erahnen, ja, auch nur eine Biegung oder eine engere Stelle ausmachen zu können. Weiter wollte er nicht gehen. Von den überwucherten Ruinen der Städte und dem, was darin wartet, hält er sich ebenso fern wie von den Kommunen oder dem Bunker-Gebiet; und der gestiegene Meeresspiegel spült noch immer radioaktiven Müll und Trümmer der zwecklosen Archen an die verschobene, verwandelte Küstenlinie.

      Manchmal stellt er sich vor, dass die Schlucht, der Riss, diese Verwundung der Erdoberfläche an einem Längengrad einmal rund um den Globus entlangläuft, genau an der Stelle, wo eine gewaltige kataklystische Kraft die Welt auseinandergerissen hat.

      Er geht parallel zur Schlucht, bis er seine letzte Markierung findet. Er lächelt grimmig bei der Erkenntnis, wie weit ihn der widerspenstige Wald diesmal vom Kurs abgebracht hat. Nachdenklich mustert er den hüfthohen Pfahl, der ihm eine günstige Stelle anzeigt, die er schon mehrfach erfolgreich zum Abstieg genutzt hatte.

      Ruhig schaut er über die Schlucht. Am Himmel, der schon lange keine Kondensstreifen mehr gesehen hat, kreischt ein Bussard. Selbst als er einen vorsichtigen Schluck kühlen Wassers aus seiner Thermosflasche nimmt, sie gewissenhaft zuschraubt und mit geübten Handgriffen wieder an ihrem Platz im Ökosystem seines Rucksacks verstaut, wendet er den Blick nie von der unebenen Kante des tiefen Risses ab.

      Schritt für Schritt, gemahnt er sich.

      Er schiebt die Axt durch die nachträglich aufgenähten Schlaufen am Rucksack, schultert seinen Ranzen und macht sich an den Abstieg.

      Die steinernen Wände der


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