Der Grüne Planet. Erik Simon
begann.
»Als Historiker verstand und verstehe ich zu wenig von naturwissenschaftlichen Zusammenhängen, um eine eingehende Bewertung dieser Kontroverse vornehmen zu können. Aus meiner laienhaften Sicht griffen jedoch die Argumente beider Lager zu kurz, ebenso wie die aus der heutigen Perspektive bestenfalls naiv erscheinenden damaligen Maßnahmen zur Beeinflussung der klimatischen Bedingungen. Man meinte sogar, ein globales Temperaturziel verhandeln zu können. Letztlich waren zentrale Punkte, die nun offensichtlich mehr als hundert Jahre später zum Kollaps, ja sogar zu einem Exodus führen, sträflich vernachlässigt worden. Unabhängig davon, ob die klimatischen Bedingungen nun von der Menschheit – im Positiven wie im Negativen – beeinflusst werden konnten und wurden, schien niemand das tatsächliche Problem zu erkennen: Die Ressourcen des Planeten Erde sind endlich!«
Maximilian bemerkte, dass er dabei war, sich in Rage zu reden. Er atmete einmal lange und vernehmlich durch, bevor er wieder ruhiger fortfuhr.
»Im Jahr 1800 teilten sich etwa eine Milliarde Menschen den Erdball. 200 Jahre später waren es sechs Milliarden, 2050 bereits knapp zehn Milliarden. Zur Jahrhundertwende, 2100, zählte die Erdbevölkerung 18 Milliarden Menschen. Mehr Menschen benötigen mehr Rohstoffe, wobei sich die Menge nicht nur durch deren Anzahl vergrößerte. Die voranschreitende Technisierung und die damit einhergehenden kürzeren Produktlebenszyklen erhöhten zudem den Verbrauch pro Person. Damit einher gingen eine Ausweitung schädlicher Emissionen, des Abfalls – in den Weltmeeren schwamm mehr Plastikmasse als Lebewesen – und ein exorbitant steigender Energiebedarf, welcher durch Sonnen-, Wind- und Wasserkraft nicht einmal ansatzweise bereitgestellt werden konnte. Atom- und Kohlekraftwerke sprossen in Asien und später auch in Afrika wie Pilze aus dem Boden – wie giftige, faulige Pilze … Regierungskritische Initiativen wurden sukzessive verboten und erste Spannungen zwischen der Erde und dem Mond spürbar.«
»Es muss die Zeit gewesen sein, in der Sie zu uns ausgewandert sind«, stellte Edward fest.
»Exakt!« Maximilian nickte gedankenverloren, was sein Gegenüber natürlich nicht bemerken konnte.
»Aber das ist eine andere Geschichte. Kurzum, mir blieben die bewaffneten Konflikte in den darauffolgenden Jahren glücklicherweise erspart. Krieg und Terror nicht nur um Macht und Bodenschätze, sondern auch um Trinkwasser und Ackerflächen. Die weltweit immer häufiger auftretenden Unfälle in maroden oder fehlerhaft konstruierten Reaktoranlagen verkamen dabei zur Randnotiz. Dazu noch Migrationsbewegungen, gegenüber denen die sogenannte ›Große Völkerwanderung‹ des Altertums ein Abendspaziergang gewesen sein muss. Zu dieser Thematik existiert eine interessante Studie, die ich Ihnen für Ihr Haptik-Pad mitgebracht habe.«
Maximilian griff in sein Jackett, zuerst in die linke, danach in die rechte Innentasche. Schließlich nahm er seine Aktenmappe und durchsuchte diese – ebenfalls ohne Resultat.
»Ich werde vergesslich«, stellte er resigniert fest. »Amado, könnten Sie bitte in der Lobby nachschauen, ob ich meine Datenscheibe dort liegengelassen habe? Vielleicht ist sie auch bei der Fundstelle abgegeben worden.«
»Selbstverständlich, Sir.«
Nachdem Amado mit gemessenen Schlurfschritten den Raum verlassen hatte, rückte Maximilian seinen Sessel näher an den Salontisch heran.
»Wir haben nicht viel Zeit«, stellte er leise fest und ignorierte den irritierten Gesichtsausdruck des Präsidenten.
»Ich hatte bereits erwähnt, dass mein Rat bitter sein wird. Einem am Ende des 20. Jahrhunderts aktiven Journalisten wird der Satz zugeschrieben: ›Wer halb Kalkutta aufnimmt, rettet nicht Kalkutta, sondern wird selbst zu Kalkutta.‹«
Er seufzte.
»Die Aufnahme der Flüchtlinge wird unsere eigene Existenz gefährden, diese wahrscheinlich sogar vernichten. Über die faktische Unmöglichkeit von Unterbringung und Versorgung hinaus würden sich soziale und kulturelle Probleme ergeben. Die Enge unserer Städte – der durchschnittliche Wohnraum pro Person beträgt knapp zwölf Quadratmeter – stimulierte ein Zusammenleben auf der Basis echter gegenseitiger Rücksichtnahme. Auch die Ressourcenknappheit hat uns zu einem bewussten Umgang mit sämtlichen Gütern erzogen. Eine ›Wegwerfgesellschaft‹ – so wird die ungeregelte Konsumorientierung auf der Erde genannt – ist den Menschen hier erfreulicherweise völlig fremd, ebenso wie ein rein egoistisches Karriere- und Besitzstreben. Nicht zu vergessen die Durchsetzung einer von allen Mitgliedern der Gesellschaft akzeptierten Geburtenkontrolle. Ich würde sogar so weit gehen, dass sich die ›Lunarianer‹ durch die nun mehrere Jahrzehnte umfassende Trennung im Vergleich zu den ›Terranern‹ auf einer höheren soziokulturellen Entwicklungsstufe befinden: auf der des Homo sapiens lunaris. Wir wären gesellschaftlich inkompatibel. Schon allein aus diesem Grund verbietet sich eine Aufnahme. Es …«
»Aber«, unterbrach Edward, »wir können sie doch nicht zurückschicken. Sie würden hilflos durchs All treiben und elendig verrecken. Außerdem werden bald die nächsten Transporter starten.«
»Die Menschen auf der Erde müssen die von ihnen verursachten Probleme selbst lösen. Ein Exodus zum Mond darf keine Option sein. Hierfür ist ein eindeutiges und unmissverständliches Signal notwendig.«
Maximilian machte eine kurze Pause, bevor er noch leiser weitersprach.
»Schießt den ersten Transporter ab!«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein, Max.«
Edward war aufgestanden und ruderte wie ein Ertrinkender mit den Armen. Das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Was ist mit den Flüchtlingen, den Menschen an Bord? Mit den Frauen und Kindern?«
»Denken Sie bitte nach, Edward«, antwortete der Gefragte in einem ebenso kalten wie sachlichen Ton. »Glauben Sie wirklich, dass man uns Frauen und Kinder schickt? Normale Bürger? Oder gar Alte und Kranke? Was meinen Sie, wer in den Transportern sitzen wird?«
Montag, 24. September 2136, 23:55 Uhr (MSZ): Lunaria – Taktische Sektion des Kontrollzentrums
Die Taktische Sektion vermittelte entgegen der Bezeichnung einen eher unspektakulären Eindruck. Es handelte sich um einen fensterlosen Raum, welcher mit zwei großen und mehreren kleinen Bildschirmen sowie einer die Rückwand vollständig einnehmenden Steuerkonsole ausgestattet war. Im Krisenfall bot der Raum dem Präsidenten und den beiden Vorsitzenden des Lenkungsrats sowie vier weiteren für die Bedienung der Defensivsysteme verantwortlichen Personen Platz. Im Moment war neben dem Präsidenten jedoch nur der diensthabende Offizier anwesend.
Das Treffen mit Maximilian hatte Edward mehr zu denken gegeben als jede andere zuvor in seinem Leben geführte Unterhaltung. Wenige Stunden später hatte er den Kontakt zum Lenkungsrat gesucht, sich mit dessen Meinungsführern besprochen, zahlreiche, zumeist kontroverse Diskussionen mit Einzelpersonen und in Kleingruppen geführt, hatte zugehört, argumentiert und versucht, zu vermitteln. Der vermeintlichen Aussichtslosigkeit der Lage setzte er seine unerschütterliche Zuversicht entgegen. Er wollte zeigen, dass die Mondgemeinschaft auch diese Krise gemeinsam meistern würde. Tief in ihm sah es jedoch anders aus. Seine Zweifel, den Lenkungsrat einen zu können, wucherten wie ein bösartiges Geschwür.
Schließlich erfuhr er eine Niederlage, die ebenso bitter war wie Maximilians Rat: Es ließ sich nicht einmal ein Grundkonsens finden. Es war daher an ihm – und nur an ihm – eine einsame Entscheidung zu treffen. Diese hatte ihn heute ins Kontrollzentrum geführt. Mithilfe von Maximilian und dessen Netzwerk war es gelungen, einen vertrauenswürdigen Mitstreiter innerhalb des Zivilschutzes zu finden und ihn in die heutige Dunkelschicht zu versetzen. Der Mann hatte auf der Erde unsagbar Schlimmes erfahren und dabei Frau und Kind verloren. Er war bereit, die fürchterlichste aller Entscheidungen mitzutragen.
Doch durfte ein Präsident überhaupt ohne demokratisches Mandat handeln? Konnte er einfach festlegen, was richtig war? Wer war er, dass er es wagte, sich anzumaßen, eine derartig tiefgreifende Entscheidung für die gesamte Mondgemeinschaft zu treffen? Edward King wurde sich erneut seiner Namensgeber bewusst. Es entbehrte nicht einer