Der Schlüssel zu unserem Leben. Benita Jochim

Der Schlüssel zu unserem Leben - Benita Jochim


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mochte meine kleine Wohnung, die verborgen und unscheinbar in Westminster ihren Platz hatte. Mein Zimmer gefiel mir am besten. Die Möbel, die darin standen, waren schon sehr alt. Das Holz meines Schreibtisches war dunkel und glatt. Mein Bett knarzte immer, wenn sich jemand darauf niederließ. Bei meinem Schrank fehlte bereits eine Tür, woran ich nicht ganz unschuldig war, außerdem besaß ich eine kleine Kommode, die aus Buchen- oder Eichenholz bestand. So genau wusste ich es nie. Mein Vater erklärte mir zwar immer den Unterschied zwischen den einzelnen Hölzern, doch ich konnte ihn mir nicht merken. Die Tapete hatte eine fliederartige Farbe. Sie war über und über mit Zeichnungen bedeckt, was daran lag, dass mein Bruder hervorragend malen konnte und die Wand jedes Mal mit einem neuen Gemälde verzierte, wenn er bei mir zu Besuch war. Leider reichte der Platz mittlerweile nicht mehr und so musste nun auch die Tapete im Wohnzimmer herhalten.

      Ich schaute auf die Uhr, die an der Wand über meiner Kommode hing, und stellte fest, dass ich mich langsam umziehen sollte. Ich entschied mich für ein eng anliegendes gelbes Top und eine graue Jogginghose. Danach schnappte ich mir meinen Mantel und mein Handy und stapfte zur Tür hinaus. Meinen Wohnungsschlüssel hatte ich nebenbei in meine Manteltasche gleiten lassen. Nun schloss ich meine Tür ab und folgte den Stufen, die zum Ausgang des Apartmenthauses führten. Dass meine Wohnung im vierten Stock lag, störte mich nicht im Geringsten.

      Als ich aus der Tür ins Freie trat, umfing mich ein kalter Wind. Ich zog meinen Mantel noch enger um meinen Körper und schlug den Kragen nach oben. Das einzige Negative an London war das Wetter. Viel zu viel Regen und zu wenig Sonnenschein waren das Resultat, wenn man sich ein Leben in Englands Hauptstadt ausgesucht hatte. Hier kletterten die Temperaturen im Sommer nicht über 25 Grad. Es war ziemlich deprimierend, wenn man im Sommer mit einer Jacke auf der Terrasse sitzen musste, weil es sonst zu kalt war. Aber ich hatte mich daran gewöhnt, so wie ich mich an vieles gewöhnen musste, nachdem ich von Deutschland hierher gezogen war, um mir ein neues Leben als Tänzerin aufzubauen.

      Ezras und meine Eltern waren im Moment für drei Wochen zu Besuch hier, was mich wunderte, denn sonst waren sie nie länger als ein paar Tage bei uns. Sie lebten in München und es war mir damals sehr schwergefallen fortzugehen, zumal meine beste Freundin immer noch dort wohnte. Aber ich hatte mich entschieden, eine Karriere als Tänzerin anzustreben, und da mein Bruder mein Partner war und schon einige Jahre vor mir nach London gezogen war, hatte ich mich dazu entschieden, ihm zu folgen.

      Mein Bruder und ich verstanden uns wirklich gut. Selten gab es Streit zwischen uns, was aber auch daran lag, dass wir beide schon früh Verantwortung übernehmen mussten. Es passierte, als ich zwölf und mein Bruder vierzehn war. Wir waren dabei gewesen, unserem Haus einen neuen Anstrich zu verpassen. Jeder von uns hatte eine Hauswand zum Streichen bekommen. Meine Mutter hatte sich unsere Terrasse ausgesucht. Sie stand auf der Leiter und hatte schon einige Pinselstriche hinter sich, als der Hund der Nachbarn mit einer irren Geschwindigkeit um die Hausmauer gerannt kam und anfing zu bellen. Sie verlor daraufhin das Gleichgewicht und stürzte von der Leiter. Anfangs schien es noch so, als hätte sie sich nur ein paar Prellungen und Schürfwunden zugezogen, aber schnell wurde klar, dass das nicht der Fall war. Sie kam ins Krankenhaus und durch die Magnetresonanztomografie, oder kurz MRT, wurde festgestellt, dass es durch den Sturz zu einer Gehirnblutung gekommen war. Man versuchte, den Druck im Gehirn zu vermindern, sodass keine weitere Blutung entstehen konnte, als dies jedoch nichts brachte, wurde sie operiert. Man stoppte die Blutung und entfernte das vorhandene Blut aus dem Gehirngewebe.

      Nachdem die Operation geglückt war, konnten wir endlich aufatmen. Wir wechselten uns mit den Besuchen ab und auch Mutters Eltern kamen. Da mein Bruder und ich jedoch Schule hatten, besuchten wir Mum immer mittwochnachmittags und am Wochenende waren wir meist rund um die Uhr bei ihr. Als die Ärzte ein paar Tage später zum zweiten Mal eine MRT machten, wurde festgestellt, dass durch die Blutung einige Nervenbahnen im Gehirn beschädigt worden waren. Ezra und ich saßen zu Hause, als der Anruf vom Krankenhaus kam, er erklärte mir gerade Mathe, denn ich sollte in zwei Tagen eine Arbeit schreiben. Mein Vater nahm ab und meldete sich mit Vor- und Nachnamen. „Mason McCartney. ‒ Was ist denn passiert? ‒ Und nun? ‒ Natürlich, wir werden sofort kommen.“ Dann legte er auf. Er war kreidebleich im Gesicht.

      Mein Bruder und ich schauten ihn neugierig an.

      „Was gibt es denn, Dad?“, fragte ich.

      „Mum geht es nicht so gut. Wir sollten ins Krankenhaus.“

      Ezra schaute mich an und ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Also packte ich meine Mathesachen weg und wir fuhren ins Krankenhaus. Der Arzt erwartete uns bereits und wollte mit Dad alleine sprechen.

      „Denkst du, dass es schlimm ist?“

      Ezra schaute mich mitleidig an und zuckte nur ratlos mit den Schultern. Wie er konnte ich mir nur vage ausmalen, was geschehen war.

      Als wir schließlich zu Mutter ins Zimmer durften, lag sie im Bett und fixierte mit ihren Augen die Wand. Sie sprach nicht und drehte sich nicht einmal um, als wir eintraten. Ihre Augen waren leer und gerötet. Dad setzte sich auf das Bett und nahm ihre Hand. Daraufhin drehte sie leicht den Kopf in seine Richtung und fing an zu schluchzen. Sie krallte sich an sein Shirt und weinte. Dad saß einfach nur da, sagte nichts, sondern strich ihr beruhigend abwechselnd über den Rücken und das Haar. Ezra und ich verstanden zunächst nicht, worum es ging, jedoch war eines klar. Ab jetzt würde alles anders werden.

      Der Arzt hatte zu Dad gesagt, dass durch die Blutung eine Lähmung hervorgerufen worden war, sodass Mutter von der Hüfte abwärts nichts mehr spürte.

      Wir weinten viel. Natürlich musste Mum ihren Arbeitsplatz aufgeben und arbeitete nur noch von zu Hause aus. Ezra und ich mussten einige Pflichten im Haushalt übernehmen, dadurch wurde unsere Beziehung immer inniger. Jedoch wurde die Ehe unserer Eltern bei vielen Alltagsdingen auf die Probe gestellt und oftmals hatte Mum Angst, Dad würde sie verlassen. Doch das war nicht der Fall. Mum lernte immer besser, mit ihrem Handicap umzugehen, und mittlerweile besaßen die beiden wieder einen einigermaßen normalen Alltag.

      Mir hatte es damals sehr leidgetan, als ich von zu Hause ausgezogen war, aber Mum hatte mich immer ermutigt, meine Träume zu leben, sonst würde ich eines Morgens aufwachen und hätte die Chance verpasst. So hatte ich mich aufgerafft und war meinem Bruder nach London gefolgt.

      Nun lief ich durch die verregneten Straßen der Londoner Innenstadt auf dem Weg zur Tanzschule, denn wir hatten heute eine Audition. Wenn wir es schafften, uns zu qualifizieren, würden wir ein Stück im Barbican Theatre aufführen dürfen. Wir hatten monatelang für diesen einen Augenblick geprobt und ich hoffte inständig, dass die Mühe nicht umsonst gewesen war. Mein Bruder und ich hatten ein Stück aus Schwanensee ausgesucht.

      Ich ging zur U-Bahn-Station und fuhr nach Newham zur Hallsville School of Ballet. Ich suchte mir einen freien Platz in der Bahn und ließ mich darauf nieder. Gedanklich ging ich die einzelnen Schritte noch einmal durch und malte mir wohl zum tausendsten Mal aus, was ich machen würde, wenn wir es nicht schaffen sollten. Es waren zwanzig Paare inklusive uns, die sich auf das Vortanzen vorbereitet hatten, und nur fünf davon würden genommen werden. Also stand die Wahrscheinlichkeit, dass wir es schafften, eins zu fünf, was meine Hoffnung nicht gerade steigen ließ. Im Gegenteil, je mehr Zeit verging, umso unruhiger wurde ich. Ich rutschte nervös auf meinem Sitzplatz herum und die Fahrt kam mir wie eine Ewigkeit vor, sodass ich alle drei Minuten auf das Handydisplay schaute, um die Uhrzeit zu kontrollieren. Als die U-Bahn endlich anhielt, stieg ich aus und lief schnell in Richtung Tanzschule. Schon von Weitem konnte ich sehen, dass mein Bruder vor dem Eingang geduldig auf seine kleine Schwester wartete.

      Als er mich sah, huschte über seine Lippen ein Lächeln und er rief mir zu: „Na, Prinzessin, bist du aufgeregt?“

      Als ich bei ihm ankam, umarmte ich ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Nein, wie kommst du nur auf die Idee?“, erwiderte ich sarkastisch und brachte meinen Bruder so zum Lachen.

      Ezra war groß, etwa 1,90 Meter, und überragte mich um eineinhalb Köpfe. Er hatte braunes, fast schwarzes Haar, genau wie meines war das meines Bruders ebenfalls gelockt, was aussah, als ob er sich nie die Haare kämmte. Seine grünblauen Augen besaßen eine intensivere Nuance


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