Der Schlüssel zu unserem Leben. Benita Jochim
Tage zuvor ...
Am nächsten Morgen wurde ich durch das Klingeln meines Handys geweckt. Ich griff, ohne die Augen aufzumachen, nach dem Gerät und hielt es mir ans Ohr.
„Hallo?“, murmelte ich noch im Halbschlaf und konnte den Anrufer lachen hören.
„Guten Morgen, Prinzessin.“
„Wird das jetzt zur Gewohnheit, dass du mich jeden Morgen anrufst?“, fragte ich genervt.
„Es ist acht Uhr. Die Sonne scheint endlich wieder und ich wollte dich daran erinnern, dass wir heute ins Barbican Theatre gehen, um unsere Kollegen aus den anderen Schulen kennenzulernen.“
„Wieso weiß ich nichts davon?“
„Tja, weil du dich gestern nicht mit Max unterhalten hast, und der wiederum weiß es von Ms Arrow.“
„Wow, an Organisation mangelt es denen aber gewaltig, wenn ich nichts davon wusste und die anderen bestimmt auch nicht. Und wieso hast du es mir gestern Abend nicht gesagt? Du raubst mir meinen wohlverdienten Schönheitsschlaf.“
„Um die anderen haben wir uns schon gekümmert. Jeder weiß es. Gestern Abend habe ich vergessen, es dir zu erzählen, und den Schönheitsschlaf hast du nun wirklich nicht nötig, Prinzessin“, antwortete er.
„Ich bin aber trotzdem müde“, beschwerte ich mich.
„Na, dann komm ich am besten bei dir vorbei und bring Kaffee mit. Wir müssen um 10:30 Uhr im Theater sein. Also bis gleich.“ Schon hatte er wieder aufgelegt.
Ich seufzte genervt, bevor ich quengelnd und murrend aufstand, wohl wissend, dass mich sowieso niemand hören konnte.
Wenig später hörte ich, wie mein Bruder den Schlüssel ins Schloss steckte und zweimal umdrehte. Ezra hatte einen Schlüssel zu meiner Wohnung, ebenso wie ich einen zu seinem Haus besaß.
„Hallo Prinzessin“, hörte ich ihn im Flur rufen.
„Hallo Brüderchen“, antwortete ich aus der Küche.
Er kam herein und drückte mir wie üblich zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange, welchen ich erwiderte. Als er mir über die Schulter schaute, fragte ich ihn: „Möchtest du auch etwas?“
Er winkte ab. „Nein, danke. Hab schon gegessen.“
Ich lud mir mein Spiegelei auf den Teller, nahm mir noch ein Brötchen dazu und setzte mich auf einen Stuhl am Esszimmertisch. Ezra setzte sich mir gegenüber hin und beobachtete mich beim Essen.
Ich rollte mit den Augen. „Bin ich so interessant, wenn ich esse?“
„Du bist meine Schwester. Du bist für mich immer interessant.“
Als ich fertig war, fragte ich, ob wir später tanzen sollten oder ob wir nur das Theater erkundeten.
„Keine Sorge, Prinzessin. Sie geben uns noch ein wenig Zeit. Wir bekommen nur alles gezeigt.“
Ich nickte, bevor ich das dreckige Geschirr in die Spülmaschine räumte und den Kaffee austrank, den Ezra mitgebracht hatte. Ich ging in mein Schlafzimmer, stand vor meinem Schrank und wusste wie so oft nicht, was ich anziehen sollte. Ich seufzte, als Ezra in mein Zimmer kam.
„Du weißt nur nicht, was du anziehen sollst, weil du zu viele Klamotten hast“, meinte er. „Wir Männer haben nicht so viel Kram und sehen trotzdem immer super aus.“ Er hob seinen Arm, um mir zu demonstrieren, wie stark er war, und ließ seine Muskeln am Oberarm hervortreten.
„Ihr seid zu nichts zu gebrauchen außer zum Kinderzeugen. Wir Frauen müssen die Kinder gebären, kochen und putzen.“
„Wir Männer sind oft die Alleinverdiener.“
„Was soll ich anziehen?“, kam ich zu meinem eigentlichen Problem zurück.
„Du siehst in allem gut aus, Prinzessin“, verkündete er und verschwand aus meinem Zimmer.
„Du bist mir echt eine große Hilfe“, rief ich ihm hinterher.
„Ich weiß“, kam wenig später als Antwort.
Ich entschied mich nach reiflicher Überlegung endlich mal wieder dazu, ein Kleid anzuziehen. Der erste Eindruck sollte schließlich stimmen. Das Kleid war türkisfarben, hatte um den Bauch einen Gürtel und reichte mir bis zu den Knien. Oberhalb des Gürtels bestand das Kleid aus zwei Schichten. Der vordere Stoff hatte ein blumenartiges Muster, welches aussah wie ein Spitzendeckchen. Der hintere war heller und verhinderte, dass das Kleid zu freizügig wirkte. Der Stoff unterhalb des Gürtels war nicht verziert und seine Farbe war deutlich kräftiger als der obere Teil des Kleids. Ich fügte meinem Outfit noch ein dezentes Make-up hinzu und flocht mir einen französischen Zopf, welcher mir über die Schulter fiel. Zum Schluss zog ich meine schwarzen Ballerinas an und betrachtete mich zum letzten Mal im Spiegel.
Ich trat aus meinem Zimmer und sah, dass Ezra gerade damit beschäftigt war, eine neue Zeichnung an meiner Wohnzimmerwand anzubringen. Als ich näher kam, konnte ich einen Schlüssel erkennen. Darüber hatte er sich selbst und mich gezeichnet und unter dem Schlüssel war ein Buch zu erkennen.
„Wie sehe ich aus?“ Ich drehte mich einmal um meine eigene Achse.
„Du siehst wunderschön aus“, kommentierte er.
„Danke, aber es ist deine Pflicht, mir zu sagen, dass ich hübsch bin.“
„Ja, stimmt. Weil du meine Schwester bist und ich dich über alles liebe.“
Ich lächelte geschmeichelt. „Was soll deine Zeichnung darstellen?“, fragte ich neugierig.
Er schaute mich mit weichem Blick an und ich hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, Tränen in seinen Augen sehen zu können. Dann wandte er sich von mir ab und fuhr mit dem Finger über seine Zeichnung. „Das ist der Schlüssel zu unserem Leben. Der Schlüssel zu unserem Weg. Der Schlüssel zum Glück. Er wird uns oder vielleicht dir irgendwann zeigen, wo du hingehörst.“
Ich runzelte die Stirn. Was war mit ihm los? So aufgewühlt hatte ich Ezra das letzte Mal gesehen, als der Arzt gesagt hatte, dass Mum gelähmt bliebe.
„Was ... was meinst du damit?“, fragte ich ihn vorsichtig.
Er antwortete mir nicht, sondern zog mich wortlos in seine Arme und strich mir über den Rücken. „Ich liebe dich. Das darfst du niemals vergessen.“
„Das weiß ich doch. Aber wieso? Was ist denn auf einmal mit dir los? Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst. Auch wenn ich deine kleine Schwester bin.“
„Mach dir bitte nicht so viele Sorgen, Prinzessin. Es ist alles in Ordnung.“
Ich blieb jedoch weiterhin misstrauisch. Irgendwas stimmte hier nicht. Irgendwas verschwieg er mir. Warum wollte er es mir nicht erzählen? Allerdings hatte ich nicht mehr genügend Zeit, mir darüber eingehender Gedanken zu machen, denn wir mussten los zum Barbican Theatre. Ezra hatte sich den Wagen von Dad geliehen, in dem wir uns jetzt auf den Weg machten. Immer wieder kreisten seine Worte in meinen Gedanken umher. Der Schlüssel zu unserem Leben. Was zum Teufel hatte er damit gemeint? Ich überlegte mir, ob ich mit Mum und Dad darüber reden sollte.
Wir hielten vor einem monumentalen Gebäude und stiegen aus. Ezra öffnete mir die Tür und ich bestaunte mit großen Augen die Architektur des Theaters. Ich fühlte Ezras Hand in meinem Rücken, die mich vorsichtig, aber bestimmt vorwärtsschob. Ms Stone alias Sherlock Holmes stand schon bereit, um uns willkommen zu heißen. Ihr aufgesetztes Lächeln verriet mir, dass sie überhaupt keine Lust auf dieses Treffen hatte. Vorbildlich ergriff ich dennoch ihre ausgestreckte Hand und schüttelte sie zur Begrüßung.
Sie führte uns in den Theatersaal, in dem schon einige andere Tänzer warteten. Unter ihnen war ein Mann, der verboten gut aussah. Er hatte pechschwarzes Haar und auch seine Augen waren schwarz, sodass man nur undeutlich seine Pupillen erkennen konnte. Seine Nase war knollig und seine