Der Schlüssel zu unserem Leben. Benita Jochim

Der Schlüssel zu unserem Leben - Benita Jochim


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Zum Beispiel Hip-Hop, Jazz, Modern Dance, Ausdruckstanz und Breakdance. Einen genauen Ablauf bekommt ihr noch von mir. Ich möchte, dass ihr Verschiedenes tanzt, nicht nur etwa Ballett, weil dies euch am besten liegt, sondern dass ihr auch was Neues ausprobiert. Aus Schwanensee werden wir nur die Szene des dritten Aktes vorführen, in der Odile und Prinz Siegfried tanzen. Aus Romeo und Julia werden wir uns zwei Passagen herausgreifen. Und zwar aus dem dritten Akt die Szenen Romeo und Julia und An Julias Bett. Aus dem Nussknacker werden wir den Blumenwalzer und den Tanz der Zuckerfee einüben. Jetzt habe ich aber genügend geredet. Ich gebe euch nun zwanzig Minuten Zeit, um euch zu entscheiden, welche Ballettstücke ihr tanzen möchtet.“

      Damit war seine Rede beendet und jeder verzog sich in eine andere Ecke des Saals.

      „Und was meinst du?“, fragte mich Ezra.

      „Entweder Romeo und Julia oder den Nussknacker. Weil wir Schwanensee schon für das Vortanzen geprobt haben.“

      „Ja, schon, aber dann müssten wir nicht wieder ein neues Stück einstudieren. Sieh mal, Schwanensee können wir jetzt aus dem Effeff.“

      „Und? Ich möchte eine neue Herausforderung“, widersprach ich.

      „Wir haben uns so viel Stress wegen Schwanensee gemacht. Ich will nicht schon wieder die ganzen Wochenenden mit Tanztraining vollpacken.“

      „Ach so, darum geht es dir also. Mehr Freizeit. Wieso hast du nie gesagt, dass es dir zu viel ist? Wir hätten es abkürzen können. Aber ganz ehrlich, ist es dir überhaupt wichtig? Das hier alles?“ Ich beschrieb mit meinen Händen einen weitläufigen Kreis und bedachte meinen Bruder mit einem bitterbösen Blick.

      „Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Natürlich ist mir das wichtig. Ich hab so viel für dich getan. Ich hab es dir ermöglicht, auf diese Schule zu gehen. Und du wirfst mir vor, dass es mir egal wäre?“

      „Dir ist das alles doch gar nicht wichtig, sonst würdest du freiwillig ein neues Stück proben!“

      „Tja, Prinzessin, so ist es aber nicht.“

      Wir hatten mittlerweile die Aufmerksamkeit des gesamten Saales auf uns gelenkt. „Du bist so ein Idiot!“, schrie ich.

      „Hast du dir vielleicht mal Gedanken gemacht, wieso ich kein neues Stück einüben will? Ich sag es dir, weil DU mir auf die Nerven gehst mit deinen ständigen Proben. Wir haben uns auch mal eine Auszeit verdient.“

      „Ja, klar, jetzt bin ich diejenige, die an allem schuld ist, nur weil der liebe Mr Ich-muss-nicht-trainieren-denn-ich-kann-sowieso-alles sich zu fein ist, für etwas zu kämpfen, das ihm wichtig ist.“

      „Das hat mit Kämpfen gar nichts mehr zu tun. Du willst doch immer perfekt sein. Was ist, wenn ich das aber nicht will? Einfach mal keine 100 Prozent geben, sondern meinetwegen nur 80. Aber dir geht es immer nur ums Gewinnen.“

      „Was redest du denn da? Du wolltest schon immer Tänzer werden und damit dein Geld verdienen.“

      „Nein, das wollte ich nie. Ich tanze, weil ich es liebe. Geld verdienen, das ist, was du immer wolltest.“

      Ich schaute ihn mit Tränen in den Augen an. Was sollte die Scheiße?

      „Aber du hast immer gesagt, dass du groß rauskommen möchtest“, erwiderte ich kleinlaut.

      „Das hab ich nur deinetwegen gesagt. Ich wollte, dass du Karriere machst. Und dass du vielleicht endlich mal etwas alleine schaffst und nicht immer deinen großen Bruder brauchst, weil du zu feige bist“, bemerkte er in bissigem Ton.

      „Du bist das Allerletzte, Ezra McCartney! Ich wünschte, du wärst nicht mein Bruder.“ Ich wollte mich schon wegdrehen, als er noch etwas hinzusetzte.

      „Das wünschte ich mir auch, dann hätte ich mein Jurastudium schon hinter mir.“

      „Was?“ Ich wirbelte mit wehendem Haar herum und merkte, wie meine Stimme brach.

      „Ja, ich gebe es zu. Ich wollte es nie. Ich wollte nie tanzen, sondern eigentlich Anwalt werden. Ich hab es nur für dich gemacht und, zugegeben, ich bereue, es getan zu haben“, gestand er in eiskaltem Ton.

      Nun rollten Tränen über meine Wangen. „Wow, schön zu hören, dass deine kleine Schwester dir das Leben verbaut hat. Ich wusste nicht, dass ich dir so ein Klotz am Bein war und immer noch bin. Ich danke dir für deine Ehrlichkeit und keine Sorge, ab sofort lasse ich dich in Ruhe.“ Damit griff ich nach meinem knielangen Mantel und meiner Tasche und ging aus dem Saal. Ich wollte nur noch hier weg. Dass mir Kayla hinterherrief, ich solle stehen bleiben, überhörte ich und lief nur noch schneller. Den Tränen ließ ich nun freien Lauf.

      Vor dem Gebäude bog ich in die nächste Seitengasse ein und überlegte mir, wo ich nun hinsollte. Reden wollte ich nicht, deshalb sollte ich nicht nach Hause gehen.

      Ich lief ziellos durch halb London. Im Villenviertel der extrem Reichen blieb ich stehen und starrte gedankenverloren eines der Prachthäuser an. Was war nur aus meinem Traum geworden, eine berühmte Tänzerin zu werden? Ich musste mir eingestehen, dass ich ohne Ezra wirklich nichts war. Er hatte so viel für mich getan. Ich seufzte schwer. Wir hatten uns schon lange nicht mehr so gestritten. Außerdem bekam ich nach jedem Streit sofort ein schlechtes Gewissen.

      Ich blieb noch ein Weilchen vor der Villa stehen, bis ich meinen Weg fortsetzte. Das Klingeln meines Handys ignorierte ich gekonnt. Ich wusste, wer es war. Kayla. Das Feiern heute Abend würde wohl ausfallen.

      Weil das nervtötende Geklingel meines Telefons nicht aufhörte, ging ich irgendwann dran. „Was willst du, Kayla?“, fragte ich pampig. „Ich will nicht mit dir über den Streit mit Ezra reden.“

      „Nein, es geht um etwas anderes. Deinem Bruder geht es nicht gut. Er ist vorhin nach deiner Flucht aus dem Theater zusammengebrochen.“

      Wie versteinert stand ich auf der Straße. Das durfte nicht sein. Wieso war er zusammengebrochen? War ich etwa daran schuld?

      „W...was?“, stotterte ich.

      „Bitte, komm schnell. Er liegt im London Bridge Hospital. Im zweiten Stock auf Zimmer 1.06.“

      „Hospital“, echote ich. „Ich ... ich bin unterwegs“, stammelte ich und rannte los. Ich musste ein Taxi finden. Zur U-Bahn würde es zu lange dauern. Ich hielt einen Wagen an, stieg ein und nannte die Adresse. „Zum London Bridge Hospital, Tooley Street, bitte. Und beeilen Sie sich!“

      Ohne eine Antwort fuhr der Taxifahrer los. Unruhig rutschte ich auf dem Sitz hin und her. Ob Mum und Dad schon Bescheid wussten? Ich holte mein Handy hervor und wählte die Nummer von Dad.

      „Hallo, mein Schatz“, begrüßte mich seine tiefe Stimme.

      „Ezra liegt im Krankenhaus.“

      Im Hintergrund hörte ich Mum rufen: „Wer ist es denn, Mason?“

      „Was ist passiert?“, wollte Dad alarmiert wissen.

      „Wir haben uns gestritten. Kayla hat mich eben angerufen und berichtet, dass Ezra zusammengebrochen ist.“ Ich hörte, wie der Atem meines Vaters schwerer wurde.

      „Mason, was ist los?“, wollte Mum wissen. Dad erzählte ihr rasch, was passiert war. Ich hörte, wie sie anfing zu weinen.

      „Wir kommen sofort“, brummte er anschließend ins Telefon.

      „London Bridge Hospital. Zweiter Stock, Zimmer 1.06“, antwortete ich.

      Nachdem ich aufgelegt hatte, steckte ich mein Handy weg.

      „Miss, wir sind da“, riss mich der Fahrer aus meinen Gedanken.

      Ich bedankte mich hastig und drückte dem Mann einen Fünfziger in die Hand.

      „Ähm, Miss ... Sie bekommen noch Wechselgeld.“

      Ich winkte ab. „Behalten Sie es“, rief ich ihm noch zu, bevor ich im Krankenhaus verschwand.

      Ich


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