Der Schlüssel zu unserem Leben. Benita Jochim

Der Schlüssel zu unserem Leben - Benita Jochim


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tut mir so leid, Süße“, empfing sie mich.

      Ich schluchzte. „Wo ist denn Jeremy?“

      „Der ist nach Hause. Er war ziemlich fertig.“

      Ich nickte. Sie hielt mich einfach nur fest und ich spürte, wie eine ihrer warmen Tränen auf meine Schulter fiel.

      „Darf ich rein?“

      Sie ließ ihre Arme sinken und gab mir den Weg zu Ezras Zimmer frei. Mit zitternder Hand drückte ich zögernd die Klinke hinunter. Die Luft im Raum war stickig und roch nach Desinfektionsmittel. Ezra lag in einem mit weißer Wäsche überzogenen Bett. Neben ihm hing eine Flasche an einem Ständer. Die Flüssigkeit im Beutel war durchsichtig und ein Schlauch führte von dort zu Ezras Arm. Es schien, als würde er schlafen. Ich trat näher. Er war leichenblass.

      Als er bemerkte, wie ich vorsichtig seine Hand in meine nahm, schlug er die Augen auf. „Du bist gekommen?“

      „Was für eine Frage. Du bist mein Bruder und ich liebe dich über alles.“

      „Es tut mir leid. Das, was ich im Theater gesagt habe, dass ...“

      Ich legte ihm einen Finger auf die Lippen. „Vergeben und vergessen. Ich war auch nicht besser. Und ich bin froh, dich als Bruder zu haben.“

      Ein mattes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Und ich bin froh, dich als kleine Schwester zu haben. Und du nervst mich nicht.“

      „Aber ... wolltest du wirklich Anwalt werden und hast bloß meinetwegen nicht studiert?“

      „Anfangs als ich nach London kam, hatte ich schon das Ziel, Anwalt zu werden, aber dann habe ich gemerkt, dass ich doch lieber tanzen möchte. Du bist nicht daran schuld.“ Er strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

      „Warum bist du zusammengebrochen?“

      Er zuckte mit den Schultern. „Ich hab wohl zu wenig gegessen und getrunken.“

      Ich schaute ihm zweifelnd in die Augen. Da war noch mehr. Etwas verschwieg er mir.

      „Das glaub ich dir nicht. Seit Mum und Dad da sind, bist du so komisch. Also, was ist los?“ Er wich meinem Blick aus. Also hatte ich recht. Bevor ich noch etwas hinzufügen konnte, kamen Mum und Dad ins Zimmer. Mum sah ziemlich fertig aus.

      „Kann mir endlich einmal jemand erklären, was hier los ist?“, forderte ich meine Familie eindringlich auf, doch niemand antwortete mir.

      „Mason, wir müssen es ihr sagen.“ Meine Mutter schaute Dad an, der nur mit gesenktem Kopf nickte. Ezra hatte sich von uns abgewandt und starrte die Wand an.

      „Lass uns nach Hause gehen“, sagte Dad zu mir. „Ezra braucht Ruhe.“

      „Aber ...“, setzte ich an, gab mich jedoch geschlagen. Ich drückte meinem Bruder einen Kuss auf die Stirn. „Ich hab dich lieb.“ Damit verschwand ich aus dem Raum.

      Zu Hause bei Ezra setzten wir uns an den kleinen Küchentisch. Mum hatte die Hände gefaltet und fixierte einen unsichtbaren Fleck auf der Tischplatte. Schweigen durchzog den Raum. Ein Schweigen, das voller Gedanken steckte.

      „Jetzt fangt doch endlich an zu reden und lasst euch nicht alles aus der Nase ziehen“, verlangte ich ungeduldig.

      Dad schnaufte schwer und fing stockend an zu erzählen. „Als du noch bei uns gewohnt hast ... da ... da kam es in London zu einem Brand. Ein Einfamilienhaus hat gebrannt ... Ezra wollte einkaufen gehen und ... und da hat er ein Kind im ersten Stock schreien hören.“

      Ich schaute mit schreckgeweiteten Augen abwechselnd meine Eltern an.

      Mum übernahm nun den Bericht. „Die Eltern konnten sich retten, aber sie hatten das Kind vergessen.“

      „Wie kann man denn bitte schön sein eigenes Kind vergessen?“, fragte ich aufgebracht. „Und dann auch noch in einem brennenden Haus?“ Ich war geschockt. Wie konnte man nur?

      Dad räusperte sich. „Dein Bruder ist in das Haus hinein, um das Kind zu retten. Es hätte zu lange gedauert, auf die Feuerwehr zu warten. Na ja, zumindest konnte er das Kind retten, zog sich dabei aber selbst eine Rauchvergiftung zu.“

      „Er war ein paar Tage im Krankenhaus und es ging ihm wieder bestens, bis ...“ Mum stockte.

      „Bis was?“, schrie ich verzweifelt.

      „Ezra war auf dem Weg der Besserung, aber nach einer Weile fing er an zu husten und bekam vor allem bei höherer Belastung häufig Atemnot. Er war ständig müde und hatte keinen Appetit. Dein Vater und ich fanden das natürlich komisch und konnten ihn schließlich überreden, zum Arzt zu gehen.“

      Wieder legte sie eine Pause ein, die mir wie Stunden vorkam. Meine Hände begannen zu zittern und mein Herz pochte wie wild.

      „Die Ärzte stellten eine Idiopathische Lungenfibrose fest.“

      Ich schluckte. „Was ist das?“, fragte ich mit belegter Stimme.

      „Bei dieser Krankheit kommt es in der Lunge zu einer Vernarbung beziehungsweise zu einer verstärkten Bildung von Bindegewebe. Dadurch kann die Lunge nicht mehr richtig arbeiten und das Atmen fällt den Betroffenen zunehmend schwerer. Die Ursachen dafür sind leider noch nicht bekannt.“

      Tränen bildeten sich in meinen Augen und ich versuchte, den Kloß, welcher sich in meinem Hals gebildet hatte, vergeblich hinunterzuschlucken. „Warum hat mir niemand etwas davon erzählt?“

      „Ezra wollte es nicht“, war Dads leise Antwort. Beschämt ließen Mum und Dad den Kopf sinken.

      Ich war fassungslos. Nicht nur, dass mein eigener Bruder mir nichts erzählt hatte, sogar meine Eltern hatten ein Geheimnis vor mir gehabt. Aber wieso war mir nichts aufgefallen? Ich hätte doch merken müssen, dass es ihm nicht gut ging. Hatte ich es vielleicht wahrgenommen, aber verdrängt, oder war ich wirklich so blind gewesen?

      „Ist es heilbar?“, fragte ich mit zittriger Stimme. Dad schüttelte traurig den Kopf. „Also wird er sterben?“

      „Oh Gott, nein, mein Liebling. Ezra wird nicht sterben. Es gibt Medikamente dagegen, und solange sich die Krankheit nicht verschlimmert, wird er auch nicht sterben.“

      „Das Problem ist, dass er jegliche Hilfe der Ärzte verweigert. Weswegen er das tut, wissen wir nicht. Er spricht mit uns über das Thema so gut wie nie“, redete Mum weiter. Wieso tat er das? Wieso warf er sein Leben einfach so weg? Ich musste mit ihm sprechen.

      Wir saßen eine weitere Stunde schweigsam beisammen, bis ich aufstand und meinte, dass ich nach Hause ginge. Ich lief zur U-Bahn und fuhr direkt zum Krankenhaus. Tatsächlich wurde ich noch hineingelassen und fuhr mit dem Aufzug in das Stockwerk, in dem mein Bruder lag. Er war wach und starrte immer noch, oder vielleicht auch wieder, die Wand an.

      Als ich vor sein Bett trat, wandte er sich mir zu. „Was willst du?“, fragte er leicht gereizt.

      „Mit dir reden“, antwortete ich distanziert.

      „Hätte das nicht bis morgen warten können?“, fragte er genervt.

      „Nein, hätte es nicht.“

      „Weißt du, wie spät es ist? Lass mich in Ruhe. Ich will nicht mit dir reden“, sagte er und kam mir dabei fremd vor. So fremd, wie er da in seinem Bett lag und mich musterte. Trotz des wenigen Lichts konnte ich sehen, wie abweisend und kalt seine Augen dreinblickten. Früher hatten sie Wärme und Fröhlichkeit ausgestrahlt, doch in den letzten paar Stunden hatten sie sich verändert. Er hatte sich verändert. Oder lag es daran, dass ich jetzt wusste, dass er krank war, und er mir deswegen so fremd vorkam? Ich begriff es nicht.

      „Mir ist die Uhrzeit durchaus bewusst“, entgegnete ich.

      „Gut, dann kannst du wieder gehen.“

      „Ezra, ich will dir helfen. Wir kamen schon immer gut miteinander


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