Der Schlüssel zu unserem Leben. Benita Jochim

Der Schlüssel zu unserem Leben - Benita Jochim


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ist meine Sache. Mein Leben ist meine Sache.“

      „Nein, ist es nicht. Wir sind dein Leben. Das Tanzen ist dein Leben. Also gehöre ich genauso dazu.“

      „Ich will nicht mehr. Hast du mal daran gedacht, dass ich vielleicht nicht mehr leben möchte?“

      „Was redest du da für einen Blödsinn? Wenn du dir von den Ärzten nicht helfen lässt, ist es doch logisch, dass du nicht gesund wirst und sich die Krankheit verschlimmert.“

      „Woher willst du denn auf einmal wissen, was mir guttut und was nicht? Du wusstest bis vor ein paar Stunden noch nicht mal, dass ich krank bin, und jetzt tust du so, als würdest du die Krankheit besser kennen als ich. Was soll das?“

      „Ezra, hör zu. Ich habe nur gesagt, dass du dir helfen lassen sollst. Ich will nicht, dass du stirbst.“

      „Ich brauche keine Hilfe. Mir geht es bestens.“ Er fing an zu husten und ich merkte, wie schwer ihm das Luftholen fiel.

      „Ja, es geht dir wirklich gut“, kommentierte ich ironisch. „Weißt du, egal, was kommen mag, du bleibst stehen wie ein Kämpfer. Dieses Leben schenkt dir Beine. Aber gehen musst du selbst.“ Ich hatte mich auf sein Bett gesetzt.

      Er schaute mich mit Tränen in den Augen an. „Ich will einfach nicht mehr kämpfen. Es ist sinnlos“, sagte er, während sich die Tränen von seinen Wimpern lösten und seine Wangen hinunterflossen.

      Ich lächelte ihn warm an und wischte ihm die Tränen mit dem Finger weg. „Kämpfen ist nicht umsonst. Die Menschen, die die härtesten Kämpfe in ihrem Leben führen, sind diejenigen, deren Herzen am hellsten strahlen.“

      *

      Kapitel 3

      Familie ist, wo Leben beginnt und Liebe niemals endet.

      340 Tage zuvor ...

      Fast ein Monat war inzwischen vergangen, seit Ezra ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Und in diesen vierundzwanzig Tagen war viel passiert. Mum und Dad waren nach Hause gefahren, weshalb ich mich nun allein um ihn kümmerte. Deswegen zog ich für die nächsten paar Wochen zu ihm in sein Haus.

      Ich stand in der Küche und machte Spiegelei. Seit Ezra vom Krankenhaus zurück war, wurde er immer verschlossener und ich stiller. Wir redeten kaum noch ein Wort miteinander, sondern schauten uns nur stumm an.

      Der Arzt hatte gemeint, dass Ezra nicht mehr viel Zeit bliebe. Das hieß im Klartext: weniger als ein Jahr. Es hatte ihm den Boden unter den Füßen weggerissen und so kamen wir trotz aller Bemühungen nicht mehr an ihn heran. Seine Augen waren leer und es schien, als ob er in seiner eigenen kleinen Welt wäre, sodass nur noch seine Hülle übrig blieb.

      Als Mum und Dad gegangen waren, hatten sie mich gebeten, stark zu bleiben und einfach für ihn da zu sein. Ich wusste, dass er es nicht mit Absicht machte, aber es tat weh, wenn er mich zurückwies oder einfach ignorierte, wenn ich etwas zu ihm sagte. Es tat verdammt weh. Ich hatte mich anfangs an die Hoffnung geklammert, dass es sich ändern würde, wenn ich ihm nur oft genug bewies, dass er nicht alleine war. Doch von Tag zu Tag wurde die Hoffnung kleiner und irgendwann blieb nur noch ein kleiner Fleck auf meiner Seele übrig, der daran glaubte.

      Ich wusste, dass er sterben würde, und ihm etwas anderes einzureden, wäre eine glatte Lüge gewesen. Wir Menschen redeten uns den Tod immer schön, denn wir glaubten bis ans Ende daran, dass vielleicht doch noch ein Wunder geschehen könnte. Aber das waren die Dinge, die uns am Ende noch trauriger machten, wenn eine geliebte Person starb.

      Ich hatte mir immer vorgenommen, dass ich das nicht tun wollte. Doch nun stand ich an einem tiefen Abgrund und wusste, dass der Tod über das Leben siegte, wollte es jedoch nicht einsehen. Tief in meinem Kopf wusste ich, dass es passieren würde, aber ich wollte es nicht einsehen. Wieso Ezra? Wieso musste ausgerechnet er sterben? Das war die Frage, die mich quälte und für die ich so fieberhaft eine Antwort erhalten wollte, dass ich beinahe selbst daran zerbrach.

      Es musste sich etwas ändern. Ezra hatte noch fast ein Jahr zu leben und wir saßen hier herum und versanken in Selbstmitleid. Die Zeit war das Wichtigste, was der Mensch neben Freunden und der Familie besaß. Doch erst jetzt wurde mir klar, dass man das Leben auskosten sollte, denn die Zeit rieselte wie Sand zwischen unseren Fingern hindurch, und wenn er einmal aufgebraucht war, kam er nie wieder zurück. Wenn das letzte Sandkorn in die Vergangenheit hinabfiel, war es an der Zeit zu gehen. Wohin man ging oder woher man kam, wusste ich nicht, doch war das Leben auf der Erde beendet, musste man sich ein neues Ziel, ein neues Dasein suchen, wenn es so etwas wie ein Leben nach dem Tod gab.

      Ich war nicht religiös, glaubte nicht einmal an Gott, aber Ezra hatte noch Zeit. Zeit, all die Dinge zu tun, die er einmal tun wollte, und dafür war ich unheimlich dankbar.

      Als Kind war Ezra ein Tagträumer gewesen und hatte sich gedanklich seine eigene Welt erschaffen. Wenn ich jetzt sah, wie er auf der Couch saß und aus dem Fenster starrte, glaubte ich, dass er noch immer der kleine Junge war, der in seiner eigenen Welt lebte.

      Ezra hatte immer gesagt, dass es in der Welt schön sei. Es gäbe Fabelwesen, die Bäume bestünden aus Zuckerguss und die Wege wären mit Puderzucker bedeckt. Damals fand ich es total ulkig, aber er sagte immer, dass er, wenn er eines Tages sterben würde, durch eine Sternschnuppe in seine Welt reisen und für immer dort bleiben würde. Jeden Tag sprach er von seiner eigenen Welt und irgendwann fand ich sogar Gefallen daran.

      Wir konnten nicht jeden Tag rumsitzen und abwarten. Ich konnte nicht länger mit ansehen, wie Ezra weiter und weiter abrutschte. Damals als er zwölf und ich zehn war, hatten wir eine Liste geschrieben, was wir alles in unserem Leben machen wollten. Ich überlegte, dass die noch irgendwo sein musste.

      „Hast du heute schon deine Medikamente genommen?“, brach ich die Stille, als ich das etwas zu lang gebratene Ei auf einen Teller legte und es auf den Tisch stellte.

      Er brummte ein „Nein“, woraufhin ich sofort ein Glas Wasser plus die Medikamente herbeiholte.

      Ich seufzte, dann lief ich in den Gang hinaus, nahm mir den „Dachbodenstab“, wie ich ihn immer nannte, und zog damit die Luke samt Treppe herunter. Die alten Umzugskisten hatten wir auf dem Speicher verstaut. Ich stieg die klapprigen und knarzenden Stufen empor. Zwischen der Treppe und dem Speicherboden war genau so viel Platz, dass mein Fuß hineinpasste und so stand ich nun breitbeinig da. Den einen Fuß auf dem Speicherboden, den anderen noch auf der Treppe. Ziemlich umständlich und nach einigen Verrenkungen hatte ich mich schließlich mit beiden Beinen auf den Dachboden gehangelt.

      Die Sachen hier oben waren alt und anhand der Staubschicht konnte man erkennen, dass sich schon länger niemand mehr für sie interessiert hatte. Dicke schwarze Spinnen hatten es sich in den Ecken zwischen Dach und dem Balken bequem gemacht und ihre Netze gesponnen. Angewidert verzog ich das Gesicht. Ich hasste Spinnen.

      Ich steuerte nach rechts und ging vor einem Stapel alter Kartons in die Knie. Der erste, den ich aufklappte, war, wie nicht anders zu erwarten, leer. Ich kämpfte mich durch alle zweiundzwanzig Kisten, aber nirgends konnte ich die Liste finden. Ob wir sie doch weggeschmissen hatten?

      Als ich mich aus der Hocke hochhievte, entdeckte ich auf der anderen Seite eine alte Kiste, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. Überhaupt hatte ich sie noch nie gesehen. Neugierig ging ich näher heran und öffnete die Box. Darin lag allerlei Zeug. Ich wühlte in dem Chaos aus Spielzeug und anderen Sachen herum, bis ich eine Spieluhr fand. Ich holte sie heraus und fuhr mit dem Finger die Konturen der Tänzerin nach, die auf einer Art Sockel stand und den rechten Arm im Bogen über ihren Kopf hielt. Das Podest, auf dem sie thronte, war viereckig, hatte hinten eine Schraube, mit der man die Tänzerin aufziehen konnte, und vorne einen kleinen, runden Knauf. Vorsichtig zog ich mit Daumen und Zeigefinger an dem Knauf und eine kleine Schublade kam zum Vorschein. Darin lag ein zusammengefalteter Zettel.

      Ich musste lächeln. „Hab ich dich gefunden“, dachte ich triumphierend. An die Spieluhr konnte ich mich jedoch nicht erinnern.

      Plötzlich hörte ich


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